Standpunkt
Mehr Spielraum für die Wissenschaft
Corona hat für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Verdichtung eines bereits vor der Pandemie reichlich gefüllten Arbeitsalltags geführt. Wer sich nicht rechtzeitig zu schützen wusste, ist rasch dem Risiko grenzenloser Verfügbarkeit anheimgefallen: Wegfallende Transportzeiten werden für Artikel und Anträge genutzt, der Vortrag auf der virtuellen europäischen Jahrestagung geht nahtlos in das Teammeeting über, gefolgt – nach acht Minuten Biopause – von der Projektbesprechung mit den Kollegen in den USA. Eingehende Nachrichten und Telefonate werden nebenher abgearbeitet.
Ich war in diesem Sinne geschäftig in meinem Hamsterrad unterwegs, als einer der vielen Termine des Tages eine Auswahlsitzung für ein transdisziplinäres Projekt mit Künstlerinnen und Künstlern vorsah. Mein Erweckungsmoment kam, als einer der Bewerber auf die Frage, wie er das Projekt konkret angehen würde, antwortete: "Also das kann ich jetzt noch gar nicht sagen. Da muss ich erst mal schauen, was das Thema mit mir macht."
Im ersten Moment war ich empört – was nahm sich der Kollege heraus? Entzog sich komplett Zielvorgaben, Arbeitsschritten, Produkten und Lieferzeiten, und das in einem Bewerbungsgespräch von zwölf Minuten Dauer. Doch auch die anderen Bewerberinnen und Bewerber relativierten Erwartungen, forderten Orientierungs- und Gestaltungsspielräume ein und verwiesen auf die Unvorhersehbarkeit des kreativen Prozesses und die notwendige Resonanz mit ihrer persönlichen künstlerischen Entwicklung.
Ich will diese kurze Begebenheit in keiner Weise zu einem Kontrast zwischen der Wissenschaftskultur, wie ich sie erlebe, und den Welten der Künste stilisieren, die ich viel zu wenig kenne. Dennoch habe ich mich im Nachgang gefragt, warum wir uns in den Wissenschaften bereitwillig in ein zunehmend enger geschnürtes Korsett unterschiedlichster Vorgaben zur Planung, Durchführung und Veröffentlichung unserer Arbeit zwängen lassen, statt energisch mehr Raum für Kreativität und unsere persönlichen Bedürfnisse als wissenschaftlich Tätige einzufordern.
Der intensive Wettbewerb um Mittel und Platz in begehrten Journalen mag ein Grund sein. Es mag auch sein, dass wir uns damit arrangiert haben, an Zitationen und eingeworbenen Geldern gemessen zu werden, und uns nicht mit Kritik am System aufhalten wollen. Statt uns (wider besseres Wissen) der Illusion einer planbaren Wissenschaft hinzugeben, könnte die widerspenstige Haltung, die ich bei den Kolleginnen und Kollegen aus den Künsten kennenlernen durfte, als Inspiration dienen, mehr Muße und Freiheit für Wissenschaft als kreativen Prozess – und nicht als Fließbandarbeit – in Anspruch zu nehmen.
Die Suche nach einer neuen Normalität für die Zeit nach der aktuellen Pandemie bietet eine hervorragende Chance, wieder mehr Spielräume in den Wissenschaften zu eröffnen.
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