Collage aus Gesichtsprofilen mit unterschiedlichen Hautfarben.
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Tag der Toleranz
Durch Respekt gezähmte Ablehnung

Auch an Hochschulen werden Grenzen mit Verweis auf die Toleranz ausgehandelt. Unser Autor erklärt, wie sie verstanden und praktiziert werden sollte.

Von Bernd Simon 16.11.2021

Toleranz im Zusammenleben mit anderen ist ein ebenso wichtiges wie schwieriges Thema. Die Popularität von Toleranz als Wort verweist auf die Wichtigkeit des Themas, der Streit um den richtigen Begriff und die richtige Praxis von Toleranz auf seine Schwierigkeit. So wird unter Anrufung der Toleranz beispielsweise an Hochschulen über das Tragen des Gesichtsschleiers, Auftritte von AfD-nahen Rednern und studentische Proteste gegen diese und andere Personen, die pointierte Positionen vertreten, gestritten.

Die Kieler Forschungsstelle Toleranz (KFT), die aus einem von der DFG geförderten Reinhart Koselleck-Projekt hervorgegangen ist, erforscht auf der Grundlage eines wissenschaftlich fundierten Toleranzmodells Möglichkeiten der praktischen Umsetzung und gesellschaftlichen Wirksamkeit von Toleranz. Durch die Zusammenführung von philosophischen, politikwissenschaftlichen und historischen Erkenntnissen mit sozialpsychologischer Grundlagenforschung haben wir dort ein Modell entwickelt, wonach Toleranz verstanden und praktiziert werden kann als durch Respekt gezähmte Ablehnung.

Das Ablehnung-Respekt-Modell der Toleranz

Wir gehen davon aus, dass man sinnvollerweise nur das tolerieren kann, was man ablehnt. Ablehnung ist eng gekoppelt an die fundamentale Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Das Selbst und alles, was damit assoziiert wird, wird als angenehm, gut, richtig und wahr empfunden, das Nicht-Selbst und alles, was damit assoziiert wird, hingegen als unangenehm oder sogar eklig, als schlecht, falsch und unwahr. Dies gilt auf der individuellen Ebene, also für die Unterscheidung "ich versus du", und verstärkt auf der kollektiven Ebene, also für die Unterscheidung "wir versus die Anderen". Ablehnung, so scheint es, ist mühelos und wie die Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst immer schon da. Das ist sicherlich eine Vereinfachung, da nicht selten Ablehnung mit großem populistischen und propagandistischen Aufwand geschürt wird, also konstruiert wird, wer oder was Selbst oder Nicht-Selbst ist, und insbesondere wer genau die Anderen sind. Jedenfalls erfordert es Anstrengung, um Ablehnung zu zähmen. Es bedarf also eines wirksamen Gegengewichts, das Ablehnung zähmt und somit Toleranz ermöglicht. Respekt für die abgelehnten Anderen verstanden als deren Anerkennung als Gleiche spielt in unserem Modell diese Rolle.

Das Modell zeichnet sich dadurch aus, dass es Ablehnung und Respekt unterschiedlichen Ebenen der Identitätsbildung zuordnet. Ebene 1 ist die Ebene der Ablehnung. Dies ist die Ebene, auf der durch Bildung einer kollektiven Identität und durch kategoriale Abgrenzung die Fremdgruppe konstituiert wird, deren Mitglieder Ablehnung erfahren. Ebene 2 ist die Ebene des Respekts. Dies ist eine übergeordnete Ebene, auf der auch die Mitglieder der Fremdgruppe der Ebene 1 in eine umfassendere Eigengruppe und kollektive Identität einbezogen sind und daher ebenfalls Anspruch auf Respekt haben. Die Einbettung der Eigengruppe und kollektiven Identität der Ebene 1 in die umfassendere Eigengruppe und kollektive Identität der Ebene 2 führt zur Einhegung und Zähmung der auf Ebene 1 begründeten Ablehnung durch den auf Ebene 2 begründeten Respekt und macht so Toleranz möglich. Toleranz läuft damit hinaus auf die Anerkennung abgelehnter Anderer als andersartige Gleiche. Diese sind andersartig und werden abgelehnt aufgrund einer sozialen Kategorisierung, die sie einer kulturellen, ethnischen, religiösen, weltanschaulichen oder anders definierten Fremdgruppe zuweist (Ebene 1). Gleichzeitig sind sie uns gleich aufgrund der übergeordneten Kategorisierung und der dadurch konstituierten umfassenderen Eigengruppe und kollektiven Identität (Ebene 2), die wir mit ihnen teilen (beispielsweise als Mitglieder derselben Gesellschaft oder gar der Gemeinschaft aller Menschen).

Zumutungen der Toleranz

Auch in Verbindung mit Respekt und seinem zähmenden Einfluss bleibt die Ablehnung, die die Tolerierten erfahren, unangenehm oder sogar schmerzhaft. Solange Ablehnung durch Respekt gezähmt ist, müssen die Tolerierten diese allerdings als eine Tatsache des zivilisierten sozialen Lebens hinnehmen und als Zumutung aushalten. Eine möglicherweise empfundene narzisstische Kränkung ist kein akzeptabler Grund, diese Zumutung als unzumutbar zurückzuweisen, sondern eher ein Grund zur kritischen Selbstreflexion. Ablehnung kann und darf schon deshalb nicht gänzlich unterbunden werden, weil dadurch die Freiheit der Tolerierenden, sich zu entfalten und authentisch zu sein, in einer Weise eingeschränkt würde, die mit dem als Gleichheitsanerkennung verstandenen Respekt, der allen gebührt, nicht vereinbar wäre. Tatsächlich ist gezähmte Ablehnung die Formel, die beiden Seiten Authentizität ermöglicht. Tolerierte können trotz erfahrener Ablehnung authentisch leben, Tolerierende können wegen der Ablehnung, die sie beibehalten dürfen, authentisch leben. Dennoch bleiben beiden Seiten Zumutungen nicht erspart. Den Tolerierten wird die fortbestehende schmerzhafte Erfahrung von (wenn auch gezähmter) Ablehnung zugemutet, den Tolerierenden die Zähmung ihrer Ablehnung der Anderen.

Zudem wird den Mächtigen unter den Tolerierenden zugemutet, ihre Hegemonieansprüche aufzugeben. Auch wenn sie daher Macht und Einfluss einbüßen, Toleranz im Sinne des Ablehnung-Respekt-Modells setzt keine neuen Machtasymmetrien an die Stelle der alten. Sie ist unparteiisch. Sie korrigiert Ungerechtigkeit, bevorzugt dabei aber weder die Mächtigen noch die Machtlosen, weder Eigengruppen noch Fremdgruppen, weder Tolerierte noch Tolerierende. Gleichzeitig wird den Tolerierten zugemutet, die Opferrolle hinter sich zu lassen und Verantwortung für die Gestaltung ihrer neuen Freiräume zu übernehmen. Die Wechselseitigkeit der Zumutungen macht sie jeweils zumutbar.

Wo ist die Grenze der Toleranz?

Die Frage nach der Grenze der Toleranz ist mehrdeutig. Sie kann zunächst verstanden werden als eine Frage nach dem Kriterium, das es ermöglicht, Toleranz von Intoleranz zu unterscheiden. Die Antwort unseres Modells auf diese Frage ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen gezähmter Ablehnung auf Ebene 1 und der Verweigerung von auf Ebene 2 begründetem Respekt. Eine Haltung oder Handlung, die eine durch Respekt gezähmte Ablehnung zum Ausdruck bringt, ist nicht intolerant; eine, die anderen die Anerkennung als Gleiche und damit Respekt verweigert, ist eindeutig intolerant. Die Anderen nicht zu mögen, ist allein noch nicht intolerant, sie als minderwertig zu betrachten oder gar so zu behandeln sehr wohl. Eine so erkannte Intoleranz klar zu benennen und zurückzuweisen, ist aus Sicht des Ablehnung-Respekt-Modells aber selbst kein Akt der Intoleranz, sondern Ausdruck und Verpflichtung wehrhafter Toleranz. Denn eine so verstandene Toleranz respektiert auch die intolerante Person, da und indem sie diese zur Verantwortung zieht. Aus Sicht des Modells ist selbst die Unterbindung von intolerantem Verhalten keine Intoleranz, sofern die Unterbindung auf eine Begründung verweisen kann, die belegt, dass die Unterbindung keiner ungezähmten Ablehnung entspringt, sondern Respekt als zähmende Kraft weiterhin wirksam ist. Aus demselben Grund müssen wir Kriminalität unterbinden, dürfen Kriminelle aber nicht ihrer Würde berauben. Unser Modell stellt somit ein Verständnis von Toleranz zur Verfügung, das zwei gefährliche Fallen vermeidet. Einerseits kann eine so verstandene Toleranz nicht als falsche (das heißt wehrlose oder feige) Toleranz denunziert werden. Andererseits muss sie nicht zur Intoleranz degenerieren, sich also nicht selbst dementieren oder diskreditieren, um sich zu erhalten.

Manchmal scheint die Frage nach der Grenze der Toleranz auch als Geduldsfrage gestellt zu werden in der Hoffnung zu erfahren, wann man sich von den Zumutungen der Toleranz endlich befreien kann. Eine wichtige Antwort unseres Modells lautet: Selbst die Intoleranz anderer erteilt keine Lizenz zu eigener (reaktiver) Intoleranz. Die Beobachtung oder Erfahrung von Respektverweigerung ist der richtige Grund, um von Intoleranz zu sprechen und diese wehrhaft zurückzuweisen, rechtfertigt aber nicht eigene Intoleranz, ebenso wenig wie das kriminelle Verhalten der Gangster der Polizei die Lizenz zu eigenen kriminellen Handlungen erteilt. Das Respektgebot gilt für alle, und seine Gültigkeit endet nicht bei einseitigem Verstoß, ebenso wenig wie die Straßenverkehrsordnung aufgehoben ist, sobald einer oder eine bei Rot über die Ampel fährt. Dem Respektgebot und der Verpflichtung zur Toleranz entkommen wir nur, wenn wir die Anderen aus dem Kreis der Gleichen ausschließen oder selbst austreten. Dann zerreißen wir allerdings das Band der Zähmung und riskieren, dass die Verhältnisse außer Rand und Band geraten. Es steht also viel auf dem Spiel. Strengen wir uns an!

Tag der Toleranz

Der 16. November ist der Internationale Tag der Toleranz der UNESCO. Er erinnert daran, dass am 16. November 1995 185 Mitgliedsstaaten der UNESCO die Erklärung der Prinzipien zur Toleranz unterzeichneten.

Zum Weiterlesen:

Simon, B. (2020). "A new perspective on intergroup conflict: The social psychology of politicized struggles for recognition". Theory & Psychology. 30, 147–163

Simon, B. (im Druck). "Toleranz aus psychologischer Sicht. Das Ablehnung-Respekt-Modell der Toleranz: Ein sozialpsychologischer Vorschlag". In M. Bobbert & J. Sautermeister (Hg.) Handbuch Ethik und Psychologie. Berlin: Springer.