Gang zwischen den Betonquadern im Holocaust-Denkmal in Berlin
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75 Jahre Auschwitz-Befreiung
Über den Holocaust lehren und forschen

Am heutigen Tag der Befreiung von Auschwitz wird der Opfer des Holocausts gedacht. Wie gehen Hochschulen mit dem Thema um?

Von Friederike Invernizzi 27.01.2020

Am 27. Januar 1945, vor 75 Jahren befreiten sowjetische Truppen das Vernichtungslager Auschwitz. Zwischen 1940 bis 1945 wurden hier von den Nationalsozialisten mehr als eine Million Menschen ermordet. Seit 1996 gedenkt Deutschland am 27. Januar offiziell der Opfer des Nationalsozialismus. Die Bemühungen und das Ringen um ein angemessenes Beschäftigen, Erinnern und Verarbeiten dieses einzigartigen Verbrechens sind in der ersten Zeit nach Kriegsende, auch an den Hochschulen, zunächst kaum möglich. "Die mangelnde Bereitschaft, den Massenmord an den Juden als singuläres und spezifisches Massenverbrechen hervorzuheben, spiegelte vor allem den Wunsch wider, Themen, wie die gesellschaftliche Komplizenschaft oder die Kollaboration bei den Verbrechen nach Möglichkeit auszublenden", formuliert der Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für  Zeitgeschichte in München, Frank Bajohr. In seinem am 20. Januar erschienenen Beitrag "Nach dem Zivilisationsbruch. Stand und Perspektiven der Holocaustforschung" in "Aus Politik und Zeitgeschichte" zeigt er auf, dass sogar auch die betroffenen Überlebenden vielfach nach vorne geschaut und sich auf ihre gesellschaftliche Integration konzentriert hätten.

Doch auch in den folgenden Jahrzehnten gestaltet sich die Auseinandersetzung der Deutschen mit dem Dritten Reich schwierig. Lange Zeit blieb auch die Holocaustforschung ein Randthema, das laut Bajohr vor allem von jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bearbeitet wurde. "Erst in den 1970er und 1980er Jahren verdichteten sich die einzelnen Forschungen zu einem breiter angelegten Trend, deutlich sichtbar an ersten internationalen Konferenzen, die sich mit dem als "Holocaust" bezeichneten Massenmord beschäftigen," so Bajohr. Eindringlich warnten daher Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem berühmten, 1967 erschienenen Band vor jeder weiteren Weigerung, die Vergangenheit wahrzunehmen und zu verarbeiten. "Der Inhalt einmaligen Erinnerns, auch wenn es von heftigen Gefühlen begleitet ist, verblasst rasch wieder. Deshalb sind Wiederholung innerer Auseinandersetzungen und kritisches Durchdenken notwendig, um die instinktiv und unbewusst arbeitenden Kräfte des Selbstschutzes im Vergessen, Verleugnen, Projizieren und ähnlichen Abwehrmechanismen zu überwinden", so Mitscherlichs.

Die Veränderung kam mit den 1990er Jahren, in denen laut Bajohr ein regelrechter Boom der Holocaustforschung einsetzt, der bis heute unvermindert anhalte. Damit einher gingen neue Trends in der Täterforschung, so wurde die Beschreibung des "Schreibtischtäters" abgelöst durch die Beschäftigung mit anderen Tätertypen, so insbesondere mit den Mordschützen in den mobilen Tötungseinheiten, die den Opfern unmittelbar gegenübergestanden hatten. Neben dem Blick auf Auschwitz als Synonym für eine beinahe klinische Form des Tötens in Gaskammern ohne persönliche Konfrontation zwischen Tätern und Opfern, habe der Blick auf die Massaker der Tötungseinheiten und Polizeibataillone den Blickwinkel verlagert. Auch nichtdeutsche Täter des Holocaust rückten zunehmend in den Blick. Mit dem wachsenden Forschungsfeld, das auch vermehrt den Blick auf die Opfer und die Alltagsgeschichte des Holocaust richtet, hat sich nach Bajohrs Aussagen die Holocaustforschung zu einem internationalen und interdisziplinären Forschungsfeld entwickelt.

Kaum Lehrangebote an deutschen Hochschulen

Wie es nach über 70 Jahren um die Vermittlung des Holocaust an deutschen Hochschulen aussieht, haben Verena Nägel und Lena Kahle in ihrer im Januar 2018 an der FU Berlin erschienenen Studie untersucht. Sie fragten, was Studierende im Rahmen des Studiums über den Holocaust und seine Nachwirkungen erfahren. Zudem untersuchten sie, in welchem Umfang und in welchen Disziplinen das Thema gelehrt wird. Anders als der Stand und die Entwicklung der schulischen Vermittlung des Holocaust in Deutschland sei laut Nägel und Kahle die Lehre an deutschen Hochschulen über das Thema bislang nur selten Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung gewesen. Ziel des Projekts sei, den Ist-Zustand der universitären Vermittlung des Holocaust in Deutschland zu ermitteln, zu beschreiben und Besonderheiten und Trends aufzuzeigen.

In den vier untersuchten Semestern wurden an den 79 Hochschulen 468 Veranstaltungen über den Holocaust und 526 Veranstaltungen über den Nationalsozialismus angeboten. Das klänge laut Nägel und Kahle zunächst nach mehr, als es bei einer genaueren Betrachtung sei. Es bedeute, dass an jeder der erhobenen 79 Hochschulen fächerübergreifend durchschnittlich 1,5 Veranstaltungen über den Holocaust pro Semester angeboten würden, dies bei einer relativ breiten Definition, was eine Lehrveranstaltung zum Thema Holocaust sei. Eine Begrenzung auf Lehrveranstaltungen, die sich nur auf die historischen Ereignisse in der Zeit von 1933 bis 1945 bezögen, sei es nur durchschnittlich eine halbe Veranstaltung je Hochschule und Semester. Dieser Befund demonstriere, dass kein regelmäßiges und grundlegendes Lehrangebot über die Geschichte des Holocaust an allen Hochschulen gewährleistet sei. Fazit: An 22,8 Prozent der untersuchten Hochschulen werde in keinem oder nur in einem der vier untersuchten Semester eine Veranstaltung zum Thema angeboten.

Demgegenüber stünde allerdings eine deutlich verbesserte institutionelle Verankerung des Themas in Deutschland: Hier sei die Verstetigung des Zentrums für Holocaust-Studien in München, den Besetzungen der Holocaust-Professuren in Frankfurt am Main und Gießen und dem M.A.-Programm am Touro College Berlin zu nennen. Gleichwohl werde das Thema Holocaust in unterschiedlichen Disziplinen und häufig auch fachübergreifend an den Universitäten angeboten. Allerdings habe nur rund ein Drittel der erhobenen Lehrveranstaltungen über den Holocaust einen realgeschichtlichen Bezug, fast die Hälfte thematisiere wirkungsgeschichtliche Fragen der Erinnerung und Aufarbeitung des Holocaust. Wirkung und Repräsentation spielten also für die Lehre über den Holocaust disziplinübergreifend eine wichtige Rolle. Dieser Befund gleiche den Wahrnehmungen der interviewten Expertinnen und Experten, die die Beschäftigung mit der Nach- und Wirkungsgeschichte übereinstimmend als einen Forschungstrend ausmachten.