Das Foto zeigt eine Studentin vor einem Bücherregal in der Universitätsbibliothek Jena.
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Medienkulturgeschichte
Was ist (heute) "Bildung"?

"Bildung", ein Begriff mit langer Geschichte, ist auch heute noch für Politik, Pädagogik und Hochschulen attraktiv. Eine Ortsbestimmung.

Von Heiko Christians 20.05.2018

Bildung war nie einfach das Gegenteil von Technik und Unterhaltung. Den sehr deutschen Schlüsselbegriff Bildung begleitete von Anfang an der Ausbau spezieller medientechnischer Verhältnisse. Eine zentrale Voraussetzung für Bildung war eine Umwelt aus Büchern, der stete Ausbau einer Infrastruktur für Bücher. Die Rede ist von Endlospapier aus Holzbrei, von Seminar-Bibliotheken oder Verlagsvierteln in den Großstädten wie das Leipziger Graphische Viertel mit den Verlagshäusern von Meyer, Brockhaus oder Reclam samt Druckereien, von altsprachlichen Gymnasien oder auch nur von massigen Schreibtischen und großflächigen Bücherregalen beziehungsweise Lesesesseln, Leselampen und Ablagen.

Diese Zeiten sind passé, obwohl die Bücher natürlich noch da sind. Allerdings nicht mehr da, wo sie früher waren. Die Bücher haben das Segment Bildung verlassen und sind anderswo erfolgreich. In den Schulen zirkulieren lose Lehrmaterialien durch die Mappen der Schüler oder mit Smartphones abfotografierte Arbeitsblätter in den WhatsApp-Gruppen der Klasse – bis möglicherweise die Schul-Cloud und Learning Analytics kommen. (Diesbezügliche Hoffnungen grenzen bisweilen an Verzweiflung.) In den Universitäten wird der Stoff schon lange als PDF 'hochgeladen'. Die Campus-Buchhandlungen müssen mangels Umsatz schließen.

Wer Bildung bisher vor allem mit dem Buch assoziierte, gerät also in Schwierigkeiten. Solche Veränderungen weiterhin an verschiedenen Formen des 'normalen Buchgebrauchs' zu messen, der seinerseits nie den ganzen Globus erreicht hatte, wäre absurd. Tatsächlich gibt es eine rein analoge Buchproduktion auch so gut wie nicht mehr. Doch eine einfache Ersetzungslogik greift gleichfalls nicht, denn den Buchgebrauch als mögliche Vergleichs- und Bezugsgröße in Bildungsfragen ganz zu streichen, wäre ebenso abwegig. Schließlich entstanden viele Probleme, die eine Bildungspolitik lösen und die Angebote, die sie machen soll, die Ideale, denen sie dabei folgt, die Vorstellung von Kultur, die dabei vorherrscht, allesamt noch unter Bedingungen des Buchgebrauchs. Die Rhythmen, Zeittakte, Mengenverhältnisse, Ideen und Formen des Buchgebrauchs haben die Bildungsidee entscheidend mitgeprägt.

Was war "bildendes Lesen"?

Bevor man die Thematik auf eine Ausstattungsfrage reduziert, sollte man deshalb einen Blick auf ihre innere Mechanik werfen. Im Mittelpunkt von Bildung stand einmal die Vorstellung "bildenden Lesens" in und von Büchern. Das überrascht nicht, klingt plausibel – und man muss doch fragen, was die griffige Formel über eine bloße Verdoppelung hinaus bedeutete. Was war eigentlich damit gemeint? In welchem Verhältnis standen Idee und Medienpraxis?

Gemeint war eine spezielle Form des Lesens, die im 18. Jh. aus älteren, religiösen Praktiken des Lesens "in dem einen Buch" weiterentwickelt worden war.

"Bildendes Lesen" war ein intensiver, auf den Modus der Wiederholung bauender Gebrauch mehrerer weltlicher Bücher. Dieser 'bildende' Gebrauch hatte allerdings von Anfang an seine Wurzeln nicht nur in religiösen Traditionen, sondern auch auf jener, der Bildung scheinbar entgegengesetzten Seite profan-moderner Unterhaltung, vielleicht sogar dort seinen Ursprung. Denn die Fachleute für höhere Bildung waren, nach den Theologen, im 18. Jh. die Altphilologen geworden. Hebräisch und Altgriechisch waren die Sprachen der Bibel, Latein die ihrer frühen Übersetzungen. Diesen etwas behäbigen altphilologischen Lehrern und Lesern bereitete seit etwa 1740 die schnellere, nicht unbedingt extensive Romanlektüre in ihrer Umgebung Sorgen.

Sie begannen deshalb, die vergleichsweise eilige oder cursorische Romanlektüre in die philologische Unterrichtsmethodik zu integrieren, d. h. mit der Wiederholung zu kombinieren. Dem geduldigen Verharren wurde ein neugieriges Vorauseilen beigemengt, der kleinschrittigen Gedächtnis- und Stilgymnastik ein freierer Lauf der Vorstellungskraft. Diesem freieren Lauf war aber im Gegensatz zur unterhaltsamen Romanlektüre eine unumgängliche Rückkehroption zu den wichtigen 'Stellen' mitgegeben. Als dieses Vorgehen auf eine eigene, proto-nationale Literatur übertragen werden konnte, schlug die Stunde der "Bildung". Bildung war im deutschen Sprachraum die besondere kulturtechnische Variante eines am verborgenen Leitfaden der Unterhaltung orientierten Lesens im institutionellen Kontext. Und erst der neue, temporeichere Leitfaden erlaubte den Wechsel vom Imitieren zum Verstehen.

Das Ergebnis sollte eine neue Form der Aneignung von Gegenständen (Epochen, Themen, Werken, Biografien) sein, die jetzt – anders als im Unterhaltungskontext – nicht nur vereinnahmend oder verbrauchend war, sondern eben "bildend". Die Probe aufs Exempel dieser neuartigen Aneignung war nun unter anderem das Schreiben eigener Texte. Es ging um den schrittweisen und nachhaltigen Aufbau einer spezifischen kulturellen Vorstellungswelt qua Lektüre und Aufsatz, an der man sich ein Leben lang ausrichten konnte. Aus dieser Konstellation von heiligen, klassischen und profanen Techniken beziehungsweise Stoffen der Lektüre entstanden Begriff und Idee der "Bildung".

Vom aktuellen kulturtechnischen Wandel

Konzentriertes Sich-Versenken in das Eine oder das Wenige und selbstvergessenes Durchqueren des Vielen hatten folglich mehr miteinander zu tun als man lange Zeit anzunehmen bereit war. Ein wirklich kritischer Punkt dagegen wird dann erreicht, wenn die "niedrigen" Unterhaltungsstandards und die 'höheren' Unterweisungsstandards in genuin verschiedene Oberflächen und Techniken beziehungsweise Ideen ihrer Nutzung auseinanderfallen. An genau diesem Punkt befinden wir uns. Aber zumindest in einer Hinsicht weitgehend unbemerkt: Die von Bildungsprozessen erhofften mentalen Effekte werden immer noch in den Kategorien einer am Buchformat ausgerichteten Lektürepraxis gedacht und formuliert: Identität, Kontinuität, Stabilität, Integrität oder Ganzheit sind längst zu gesellschaftlichen Werten und psychologischen Kernparametern aufgestiegene Effekte einer täglich unwahrscheinlicher werdenden Lektüreform: "Jeder will ganz sein oder es vor sich scheinen." (Goethe, Maximen und Reflexionen).

Nur diese historische Technik der Lektüre im Buch lehrte und erlaubte es, Hauptstellen in überschaubaren Textuniversen zu definieren und eine Halt gebende und Sinn spendende, wiederholend-lesende Rückkehr zu ihnen zu organisieren. Genau das meint Integration. Damit war aber nicht nur eine Medienpraxis beschrieben und vorgeschrieben, sondern auch der Prozess, den die Institution für die psycho-biografische Anbahnung und Festigung des Individuums und seiner Gemeinschaften generell vorsah und noch vorsieht.

Die von mir nachgezeichnete kulturelle Spur der Wiederholungslektüre ist in den von übermächtigen hochtechnisierten Unterhaltungsumgebungen bedrängten Institutionen nicht mehr so leicht zu finden. Wo man einst durch eine Tempoanleihe bei der Unterhaltung lernte, eigene Vorstellungsräume aufzuschließen und zu stabilisieren, wird man heute mit einer ganz anderen technologischen Umgebung allein gelassen – ohne dass irgendjemand schon sagen könnte, was sie im Subjekt bewirken kann oder soll.

Genau hier ist dann Unterhaltung keine konstruktive, impulsgebende Umgebung mehr für Bildung. Genau hier geht es nicht mehr um geschickte Anpassung an vorhandene Praktiken wie die Romanlektüre oder eine "kritisch" reflektierte Konkurrenz eines didaktischen Basismediums mit anderen Medien wie Kino oder Fernsehen. Hier geht es um einen gesamtgesellschaftlichen Registerwechsel. Dieser Wechsel ist so grundlegend, dass er ausgerechnet 'Bildung' unter einen destruktiven Anpassungsdruck an Verhältnisse setzt, die in diesem entscheidenden Punkt noch gar nicht durchschaubar sind. Und aus diesem einzigen Grund sind Vorbehalte von Eltern oder Pädagogen gegenüber "Daddeln", "Zocken" oder "YouTube" nicht reine Kulturkritik der eigentlich schon Abgetretenen.

Die Frage aller Fragen

Der Sonderbereich der "Bildung" bleibt also ausgerechnet von jenem Areal gänzlich abgeschnitten, aus dem er spätestens seit der Aufklärung mit immer neuen benutzungstechnischen Impulsen der effektiven Verlebendigung und Imaginierbarkeit seiner Lehrgegenstände versorgt worden ist. Die Kunst der Bildungsinstitutionen war dabei, den vorderhand "unlauteren" Impuls oder Standard nicht einfach zu übernehmen, sondern ihn – und genau das heißt "bilden" – in eine nachhaltige, nicht in eine rein verbrauchende oder eine distanzlos vereinnahmende Technik zu übersetzen. Das war Distanz und Anpassung in einem. Das war die ganze – große – Kunst der Institution.

Allein aus der fundamentalen Änderung dieser Verhältnisse resultiert die zentrale Frage, die eine (geistes-)gegenwärtige Bildungspolitik heute beantworten muss: Wie kann Bildung unter den herrschenden Bedingungen eines so vollständigen technischen Registerwechsels den Abstand wiederherstellen, den es braucht, um unter dem massiven Druck von hocheffizienten und schnellen Bedienungskulturen in Unterhaltungs- und Arbeitswelt den langsameren Prozess der Auskonturierung von Persönlichkeiten entscheidend mitzugestalten? Und welche Kulturtechnik, die uns mit unseren Umgebungen verstrickt, kann das verkörpern und leisten?

Das alte Buch jedenfalls sah für alle diese Stadien und Varianten einen je eigenen Abschnitt auf der umfangreichen Skala seines Gebrauchs vor. Das war seine größte Stärke. Das gab ihm die Potenz, ein "Bildungsbürgertum" nicht nur zu symbolisieren, sondern auch kulturtechnisch zu stabilisieren. Für die Gesellschaften der Gegenwart kann die Antwort dagegen nur lauten, ihre heranwachsenden Mitglieder frühzeitig, angemessen über diejenigen medialen Praktiken und Umgebungen zu unterrichten, von denen sie ganz offensichtlich auf neue Weise geprägt werden. Wenn man in unseren Bildungsinstitutionen nämlich erst gar nicht mehr lernt, dass und warum "blätterndes Lesen im Buch" effektiv etwas anderes ist als das scrollende und wischende Lesen auf Bildschirmen im Verein mit Copy&Paste und Suchen&Finden, dann ist der gesamte, noch laufende Bildungsdiskurs irreal.

Bildung diffus: Der "hohe Ton"

Was ist stattdessen aus der Bildungsidee geworden, seitdem unter dem historisch schlicht falschen Codewort 'Bologna' und unter dem Druck postindustrieller Unterhaltungstechnologien konkurrierende Traditionen von education und neue Vorstellungen von Bedienungskomfort und Innovation den "Bildungsmarkt" bestimmen? Wie artikuliert sich eine Idee von Bildungspolitik, die aktuell ihre eigene intellektuelle Abdankung im Zeichen sich beständig vermehrender blutleerer "Kompetenzen" nicht wahrhaben will? Die entweder eine von jeder technischen gesellschaftlichen Realität abgekoppelte Begriffspädagogik betreibt oder – einer furchtbaren Verwechslung unterliegend – industrienahe "Internetforschungsinstitute" gründet?

Antwort: Vor allem mittels des "hohen Tons" ethischer Selbstverpflichtung. Bildung ist im deutschsprachigen Raum offiziell, in Parteiprogrammen oder Jahresberichten überparteilicher Ethik-Kommissionen, immer noch das Codewort für ein Leben "mit allen Möglichkeiten". Möglichkeiten, sich auszudrücken, sich zu verwirklichen oder einfach aufzusteigen. Die laienpredigthafte Verzerrung dieses Programms ins Ethische klingt so: "Bildung soll als Lern- und Entwicklungsprozess verstanden werden, in dessen Verlauf die Befähigung erworben wird, diesen Anspruch auch für alle Mitmenschen anzuerkennen, Mitverantwortung für das Gestalten der ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse zu übernehmen und die eigenen Ansprüche, die Ansprüche der Mitmenschen und die Anforderungen der Gesellschaft in eine vertretbare Relation zu bringen."

Die nebulöse Überfrachtung hat Methode. Die Einsätze werden in dieser für fast alle anderen Bundesländer und für alle folgenden Denkschriften bis heute stilbildenden nordrhein-westfälischen Programmschrift Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft von 1995 stetig erhöht: Es geht immer ums Ganze der Aufklärung, der Verantwortung, der Orientierung, der Selbstbestimmung, der Umwelt, der Zukunft usw. Hier dürfen auch "die Medien" oder der "Medieneinfluss" als – selbstredend – entscheidende neue gesellschaftliche Realität nicht fehlen.

Doch anders als im Falle der Verantwortung, der Politik oder des Gesellschaftlichen ist im Falle der Bildung die Appellebene unbefriedigend. Die Sachebene kann nicht ausgespart bleiben. Spätestens wenn es in der Programmschrift heißt, dass "durch Bildung Kultur angeeignet wird", sollte die Ebene der "Kulturtechniken" auch wirklich betreten werden, um vorstellbar zu machen, was und wie konkret gelernt werden muss. Stattdessen werden hundert Seiten später eine "Einbeziehung der Medien als integrierte Medienpädagogik" und "Bausteine" für eine entsprechende "universitäre und schulpraktische Ausbildung" gefordert. Woher die ominöse "Medienkompetenz" vor dieser Integration kommen soll und wie sie aussieht, bleibt offen. Bis, noch einmal 200 Seiten später, zu diesem angeblich "entscheidenden" Thema schmallippig von einem diesbezüglichen "Fortbildungszertifikat" oder "Fortbildungspass" die Rede ist – wieder ohne Inhalte. 25 Jahre sind seitdem vergangen. Doch genau das ist immer noch der Stand der Dinge, denn auch Behörden und Kommissionen kennen unterdessen die Copy&Paste-Funktion auf der Tastatur.

Bildung konkret: "Bildung in Geschichten"

Richtig ist, dass nur hier, in Deutschland, das Gemeinte auch tatsächlich "Bildung" heißt – mit besonderen Implikationen, die sich aus der ebenfalls besonderen Geschichte dieser Idee ergeben. Genauso wahr ist auch: Die Zeiten ändern sich und wir stecken mitten in globalen kommunikationstechnischen Veränderungen, die solche kulturellen Besonderheiten ein Stück weit neutralisieren. Der von appellativ-ethischer Rede und blindem Innovationswahn verdeckte Spalt der "Kulturtechniken" und des "Mediengebrauchs" ist deshalb die eigentliche konkrete bildungstheoretische Aufgabenstellung. Wenn "durch Bildung Kultur angeeignet wird", ist doch die Frage, wie diese Aneignung aussieht, wie sie abläuft und mit welchen Konsequenzen sie sich historisch wandelt.

Der kanadische Literatur- und Medienwissenschaftler Marshall McLuhan analysierte seit den 1930er Jahren Werbung mit den Mitteln der Literaturwissenschaft und kam 1954 in seiner Zeitschrift Explorations zu dem Schluss, dass "die Form der Kommunikation als die grundlegende künstlerische Ausgangslage und Bedingung bedeutend wichtiger ist als die 'überbrachten' Inhalte oder Ideen." Heute wissen wir, dass McLuhan recht hatte: Wenn ein amerikanischer Präsident Politik via Twitter macht, ist diese Wahl eines technischen Formats gegenüber den getwitterten Inhalten die mit Abstand wichtigere Aussage über seine Politik. Es ist auch das einzige, was daran permanent kommentiert wird.

Bildung ist nur dann eine funktionierende Idee, wenn sie uns hilft und anleitet, historische Vergleiche anzustellen. Als Claude Lévi-Strauss im hohen Alter noch einmal sehr grundsätzlich über die Prinzipien seiner weltberühmten 'strukturalen Anthropologie' nachdachte, berief er sich ausdrücklich auf die Bemühungen der Renaissance um die klassischen Sprachen: "Man erkannte, dass eine Zivilisation sich nicht selbst denken kann, wenn sie nicht über eine oder mehrere andere verfügt, die ihr als Vergleichsterme dienen." Diese Erkenntnis ist auch für jüngere Medienkulturen noch von großem Wert, insofern es der Gegenwart voraussichtlich einmal ähnlich ergangen sein wird wie einer der verschiedenen Vergangenheiten, die allerorten in ihr weiterglimmen.

Als scheinbar erschöpfende, philosophische Formel oder hehre, aber diffuse Zielvorgabe nützt Bildung niemandem. Im Zeitalter der neuen technischen Medien läge eine vergleichende Musterung der gängigen und vergangenen Formen des Mediengebrauchs immerhin nahe. Etwas auswendig lernen, lesen, verstehen, abschreiben, imitieren, kopieren, frei wiedergeben, suchen oder finden – darum geht es. Aber eben nicht irgendwie und irgendwas. Bildung heißt auch, ein Wissen über die Techniken des Wissenserwerbs und ihre Geschichte zu erlangen. Warum lernt man etwas ausgerechnet an, für und mit diesen Gegenständen, Stoffen und Gerätschaften (und nicht mit anderen)?  All diese verschiedenen Techniken "verstricken" uns auch auf sehr verschiedene Weise mit den Ideen, Stoffen, Geschichten, Vergangenheiten und Gegenständen, die uns umgeben. All diese verschiedenen Techniken generieren auch verschiedene Arten von Bewusstsein. Selbstreflexion – auf dieses Set von täglich praktizierten Techniken bezogen – ist ganz und gar nichts Abgehobenes mehr.

Geändert haben sich in den letzten Jahrzehnten vor allem die technische Infrastruktur und damit auch die Idee unserer Kommunikation. Die Ideale von Schreiben und Lesen haben sich langsam, inhaltlich und äußerlich, von der tradierten, fast bürokratischen "Praxis der pietistischen Brüdergemeinde, wo man allen Gemeindemitgliedern bereits zu Lebzeiten die schriftliche Fixierung des eigenen Erweckungserlebnisses abforderte" (Manfred Schneider), von den Mustern einer isolierten und konzentrierten Selbstbesinnung im Brief, im Tagebuch oder im psychologischen Roman, wegbewegt. Wir stecken immer häufiger in ganz neuen Zusammenhängen der reich bebilderten (Selbst-) Vervielfältigung und des (Ge-) Lesen (-werden)s. Wir schreiben, posten und lesen etwas in sozialen Netzwerken, werden gelikt, sharen es - und liken unsererseits fremde Posts und Tweets.

Statt unsere Kommunikationen aus der Dynamik der Umgebung herauszunehmen und festzuschreiben, statt uns periodisch zu sammeln, erhöhen wir die Umlaufgeschwindigkeit und Verbreitungsdynamik der Mitteilungen, die uns erreichen und von uns ausgehen. Aber mit dem Revolutions-Terminus sollte man dennoch vorsichtig hantieren: Neue Technologien, Infrastrukturen und Operationen (in und an Medien) sind nur insofern neu, als sie z. b. alte exklusive Formen zur neuen Normalitätsgrundlage (Helmut Schelsky) machen. Was in früheren Epochen nur wenige Ausnahmemenschen geschafft haben – Leibniz soll immerhin ca. 15000 Briefe an etwa 1000 Korrespondenten verschickt haben -, wird zum elektronischen Standard.

Die im 17. Jahrhundert Leuten wie Leibniz vorbehaltene maximale Streuung ihrer selbst ist längst Alltag für fast jeden geworden. Was damals wenigen dank der neuen Thurn und Taxischen privat-postalischen Infrastruktur möglich war, ist heute mit Email, Twitter oder WhatsApp ein Standard, der jedem einzelnen gesetzlich verordnet wird. Schnelles Internet und (bald auch) W-LAN sind nun Menschenrecht. Leibniz hatte im übrigen selbst die theoretische Voraussetzung für diese Entwicklung geschaffen, als er in seiner Schrift Zur Analysis der Lage von 1679 die von ihm so genannte "binale Charakteristik" entwickelte, "die vollkommener als die dezimale oder jede beliebige andere ist, weil in der binalen alles aus den Charakteren bewiesen werden kann, was über die Zahlen gesagt wird." - Was aus diesen besonderen "Charakteren" folgen sollte, konnte er nicht ahnen.

Ein Vorschlag, kein endgültiges Fazit

Diese Idee von Bildung meint, dass man anhand von solchen Geschichten in die Lage versetzt wird, ein Zusammenspiel von formalen und inhaltlichen Momenten aus verschiedenen Ursprungszeiten zu erkennen. Wenn man erkennt, wie viele der nur scheinbar vergangenen Formen und Techniken unsere Gegenwart – und damit uns – immer noch prägen, wenn man erkennt, wieviel schon einmal erkannt wurde, dann erkennt man auch, dass Bildung keine absolute, sondern eine relative Idee ist. Wieder sicherer bestimmen können, was heute unter Bildung zu verstehen ist, gelingt nur, wenn man ihre Geschichte(n) kennt und wenn man akzeptiert, dass man sich nicht aus ihr verabschieden kann. "Dass es so etwas wie Tradition gibt", notierte der Rechtsanwalt, Philosoph und Husserl-Schüler Wilhelm Schapp am 11. September 1953, "ist dasselbe Urwunder wie das Wunder, dass ich in Geschichten verstrickt bin und dass ich in anderen Geschichten mitverstrickt bin." Der philosophischen Grundformel Schapps ist kaum etwas hinzuzufügen. Höchstens ein medienwissenschaftliches Wissen über die wechselnden Kulturtechniken des Sich-Verstrickens und des Verstrickt-Werdens mit neuen und alten Umgebungen.

So sieht es danach aus, dass die Antwort auf die Frage nach einer zeitgemäßen Ausformung der Bildungsidee darin besteht, einen Ausgleich zwischen dem nur "Anschaffungen" fordernden Schielen auf die Eigen- oder Sachlogik von wechselnden Technikstandards und dem leeren Pathos einer Appellethik zu schaffen. Wie? Indem man die Techniken, Formen und Formate der Kommunikation ernst nimmt und ihren konstitutiven Beitrag zur Botschaft endlich gemeinverständlich zum Gegenstand von historisch informierten Bildungsprogrammen macht.

Dieses Bildungsprogramm müsste verhindern, dass an die Stelle einer "bildenden" Praxis des Lesens und Schreibens die pauschale Hoffnung auf eine Technisierung und Dynamisierung der Umgebung und den pfingstlichen Ausbruch eines 'kritischen Bewusstseins' tritt. Es müsste verhindern, dass zwar die Parole "Schulen ans (immer noch schnellere) Netz" ausgegeben wird, aber keinerlei Wissen mehr über diejenigen Kulturtechniken erarbeitet und vermittelt wird, die gerade durch eine verhältnismäßige Verlangsamung den wunderbaren Eifer der Jüngeren in die langfristig Halt gebende Form der Persönlichkeit verwandeln halfen.