Illustration eines Angeklagten vor Gericht
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Schuld und Strafe
Was ist Schuld?

Der Begriff "Schuld" taucht in der Geistesgeschichte immer wieder auf. Viele dieser philosophischen Einsichten sind auch heute noch bedenkenswert.

Von Maria-Sibylla Lotter 04.11.2019

Von Nietzsche stammt das berühmte Dictum, man könne nur das definieren, was keine Geschichte hat. Der Schuldbegriff hat eine lange Geschichte, die religiöse, rechtliche, moralische und politische Dimensionen umfasst. Im Laufe dieser Geschichte hat er verschiedene Funktionen und Bedeutungen angenommen, die in unseren heutigen intellektuellen und emotionalen Reaktionen nachwirken; das gilt auch für die religiösen, die von fortschrittlich gesinnten Gemütern oft als obsolet erklärt wurden. Nietzsches Diktum ist jedoch insofern überzogen, als gewisse Bedeutungen durch die Geschichte hindurch eine erstaunliche Konstanz aufweisen. Ich beschreibe Schuld im Folgenden als ein System von Elementen, die je nach Kontext und Funktion in der europäischen Kulturgeschichte unterschiedlich gewichtet, interpretiert oder auch ausgeblendet wurden.

"Gewisse Bedeutungen von Schuld weisen eine erstaunliche Konstanz durch die Geschichte hindurch auf."

Der deutsche Begriff Schuld bezieht sich erstens auf die Verpflichtung, eine empfangene Gabe zurückzuzahlen (ὀφείλω, debere, debt, dette), zweitens auf den Menschen in seiner Eigenschaft eines Urhebers eines Übels (αἴτιος, auctor, author, auteur) und drittens auf einen vorwerfbaren Verstoß gegen eine moralische Regel (ἁμαρτία, culpa, blame, guilt, faute, culpabilité). Welches dieser Elemente gemeint ist, ist erst aus dem Kontext einer Behauptung erschließbar, etwa wenn wir davon sprechen, dass jemand seine Schulden bezahlen muss, dass er aufgrund seiner langen Abwesenheit schuld daran ist, dass die Zimmerpflanze vertrocknet ist oder dass er eines Verbrechens schuldig geworden ist. Obgleich diese Elemente in den meisten anderen Sprachen durch unterschiedliche Begriffe ausgedrückt werden, da sie unabhängig voneinander auftreten können, stehen sie in einem sachlichen Zusammenhang.

Schuld als Verpflichtung

So beginnt die Schuld im ersten Sinne der Verpflichtung, eine empfangene Gabe zurückzuzahlen, nach dem Verständnis vieler Religionen nicht erst mit dem Verstoß gegen eine Regel, sondern mit einer vorgängigen Verschuldung. Da der Mensch sein Leben nicht selbst erzeugt, sondern empfängt, wird die menschliche Existenz als Zustand der Verschuldung begriffen, wie schon die zwischen 1500 und 1200 vor Christus entstandenen vedischen Schriften belegen. Als Gegenleistung schuldet er den Vorfahren oder Göttern die Einhaltung der von ihnen erlassenen Gesetze und kann so überhaupt erst durch deren Übertretung schuldig werden. Der religiöse Begriff der Sünde unterscheidet sich von dem Verständnis von Schuld als moralischer Verantwortung (Schuldbewusstsein und Vorwerfbarkeit) vor allem durch seine reale Dimension. Wenn eine Sünde begangen wurde, ist etwas Reales in der Welt, das abgetragen werden muss. Die im Laufe der Zeit teils wechselnden, teils einander ergänzenden Metaphern, in denen diese sekundäre Schuld – die Sünde – formuliert und artikuliert wird, umfasst die Befleckung (von der man gereinigt werden muss), die Last, die ein Individuum oder Kollektiv zu tragen hat (wenn sie nicht dem berühmten Sündenbock aufgeladen wird, der dann in die gottverlassene Wüste getrieben wird), und – im späteren Judentum und Christentum – die Schuld (debt), die zurückgezahlt oder erlassen werden muss. Die religionsstiftende Rolle von Jesus Christus in der Rolle des Ablösers der Schuld ist bekannt. Komplementär zu dem Gedanken der Verschuldung (debt) durch das Laster hat sich die Vorstellung der Tugend als eines Verdienstes entwickelt, der mit jeder guten Tat als Guthaben auf eine himmlischen Bank eingezahlt wird – mit enormen Zinsen, was die Tugend viel gewinnbringender macht als das Laster – und mit den Sünden verrechnet wird.

Schuld als Verursachung eines Übels

Ein zweites Schuldelement bildet die Verursachung eines Übels. Sie zieht Verpflichtungen nach sich, je nach Kontext in Form materieller Entschädigung, ritueller Reinigung der Gemeinschaft oder anderer Formen der Wiedergutmachung. Mitunter wird der Gedanke der Schuld im Sinne dieses zweiten Elements als ein spezifisch griechisches oder tragisches Verständnis von Schuld im Unterschied zum modernen Verständnis moralischer Schuld als Vorwerfbarkeit historisch situiert. Der Aspekt der Vorwerfbarkeit war jedoch in der Antike auch vor Aristoteles nicht unbekannt.

Schuld als Vorwerfbarkeit

Aristoteles entwickelt die erste differenzierte Untersuchung von Schuld im dritten Sinne von Vorwerfbarkeit, deren Kriterien mit Blick auf die Entschuldigungsgründe auch noch für das heutige Recht und die Alltagsmoral einschlägig sind. Vorwerfbarkeit betrifft stets den einzelnen Menschen in seinem Handeln und nicht in seiner bloßen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv. Für alle "Handlungen, deren Ursprung und Herr (ἀρχή καί κύριος) der Mensch ist, [deren] Vollzug oder Nichtvollzug von ihm abhängt, […] ist er persönlich der Urheber (αἴτιος)" und verdient damit nach Aristoteles auch Lob und Tadel. Der Verursacher eines Geschehens ist aber nur dann Urheber der Handlung, wenn sie ἑκουσίως ist. Dieser Begriff ist ein negativer Sammelbegriff für Handlungen, die nicht unfreiwillig sind. Dafür gibt es zwei voneinander unabhängige Kriterien: Zwang und Unwissenheit. Die Verursachung eines Übels kann keiner Person vorgeworfen werden, die dabei einer Gewalt unterlag, gegen die sie wehrlos war, oder die nicht wusste, was sie tat. Aristoteles unterscheidet zugleich stärker als es in modernen moralischen Urteilen üblich ist zwischen der Schlechtigkeit der Handlung und der Schlechtigkeit der handelnden Person. Im aristotelischen Rahmen können gute Menschen schlechte Handlungen begehen, etwa wenn die Ungunst der Umstände oder eine Leidenschaft dazu führen, dass jemand freiwillig etwas tut, was eher untypisch für seinen Charakter ist. Wer sich jedoch überlegt für eine schlechte Handlung entscheidet, ist nicht zufällig Urheber der Handlung, die daher etwas schlechtes an seinem Charakter anzeigt.

"Aristoteles entwickelt die erste differenzierte Untersuchung von Schuld im Sinne von Vorwerfbarkeit."

Während das negative aristotelische Verständnis von Freiwilligkeit als Nichtzutreffen der Entschuldigungskriterien Zwang und Unwissenheit bis heute die Rechtspraxis und die Alltagsmoral prägt, wurde der Gedanke der Schuld als Vorwerfbarkeit in der modernen Ethik und Rechtstheorie lange Zeit mit einem Begriff des freien Willens assoziiert, der auf Augustinus zurückgeht. Er bezeichnet dort ein aktives geistiges Vermögen, sich Gott zu- oder abzuwenden, das weder mit der Vernunft noch mit den Leidenschaften zusammenfällt. Da alle mentalen Aktivitäten auf Entscheidungen dieses Willens zurückgeführt werden können, der sich entschließt, die Aufmerksamkeit diesem zuzuwenden und sich von jenem abzuwenden, wird der Mensch nicht primär durch seine Handlungen schuldig (bei deren Verlauf auch äußerer Zufall hineinspielt), sondern durch seine innere Einstellung, aus der die Handlungen resultieren.

"Der Gedanke der Schuld als Vorwerfbarkeit wurde in der modernen Ethik und Rechtstheorie lange Zeit mit einem Begriff des freien Willens assoziiert."

In diversen neuzeitlichen Versionen, die sich vom theologischen Kontext emanzipiert haben, galt der Begriff des freien Willens unter vielen Juristen als eine Voraussetzung strafrechtlicher Schuld. Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts wie John Austin und Peter Strawson haben jedoch Vorwerfbarkeit im Rückgriff auf Aristoteles wieder stärker mit Blick auf die sozial geltenden Entschuldigungsgründe interpretiert. Zur Entschuldigung vorgebrachte Gründe wie "Sie konnte nichts dafür, sie wurde geschubst", "Er wusste doch gar nicht, worum es ging", oder "Er hat nicht auf den Boden geblickt, weil er auf xy geachtet hat" beziehen sich nicht nur auf einen psychischen Zustand, wie es der Begriff des freien Willens suggeriert. Ihre Eignung als Entschuldigungsgründe hängt auch davon ab, welches Maß an Sorgfalt und Umsicht mit Blick auf den jeweiligen Anlass und die eingetretenen Folgen sozial erwartet wird. Wie Austin argumentiert: Man kann sich damit entschuldigen, dass man versehentlich auf die Schnecke getreten ist, aber nicht damit, dass man versehentlich auf das Baby getreten ist. In beiden Fällen kann es natürlich faktisch ein Versehen sein, es lag ein psychischer Zustand der Unaufmerksamkeit vor; aber die faktische Unwissenheit entschuldigt im zweiten Fall nicht.

Kollektivschuld

Einige Rätsel gibt das Phänomen auf, dass die politische Selbstverständigung in der westlichen Welt seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend in einem Register der Kollektivschuld geführt wird. Die Reden von der "Last der Deutschen Schuld", der "moralischen Befleckung des amerikanischen Volkes" durch die Sklaverei oder der "Abzahlung für die Verbrechen des Kolonialismus" sind weder auf individuelle kriminelle oder moralische Vorwerfbarkeit, noch auf Fragen der kollektiven Haftung für Schädigungen reduzierbar, sondern verwenden das religiöse Vokabular einer kollektiv vererbbaren Sünde. Vorstellungen von moralischer Befleckung, die sich nicht auf den individuellen Anteil Einzelner am kollektiven Geschehen beziehen, sondern nur auf seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, entwickelten sich zunächst in Reaktion auf die Shoah und andere Verbrechen der Nazizeit. Man kann sie als Reaktion auf die enorme Diskrepanz zwischen dem Ausmaß von Leid und der Zerstörung, die durch diese staatlich organisierten Verbrechen angerichtet wurden, und der kriminellen Strafbarkeit einzelner Individuen verstehen, die verantwortlich in dieser Zerstörungsmaschine tätig waren. In Anbetracht staatlich organisierter Völkermorde und anderer Großverbrechen kann das moderne Strafrecht schwerlich die Funktion erfüllen, die Folgen an Leid und Zerstörung juristisch abzuarbeiten. Zudem liegt es nahe, die Ursachen für staatlich organisierte Verbrechen nicht nur bei den Tätern, sondern auch in kulturell gepflegten Haltungen wie Antisemitismus oder der Vorstellung kollektiver Höherwertigkeit über andere Gruppen zu suchen.

Entschuldigungsrituale und Demutsgesten

So haben sich in Reaktion auf staatliche Verbrechen im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts politische Entschuldigungsrituale und Demutsgesten als eine neue politische Praxis mit dem Ziel der Ermöglichung neuer Beziehungen zwischen Täter- und Opfer-Kollektiven etabliert, die weder durch strafrechtliche Verfolgung einzelner, noch allein durch materielle Entschädigung zu leisten ist. Umgekehrt fühlen sich heutige Menschen, die ein Merkmal von Gruppen aufweisen, die mit historischen Verbrechen oder Ungerechtigkeiten assoziiert werden (männlich, weiß, deutsch, Bürger ehemaliger Kolonialmächte et cetera) oft dazu moralisch verpflichtet, sich quasi stellvertretend moralisch schuldig für Verbrechen der Vergangenheit oder strukturelle Ungerechtigkeiten und Privilegien zu bekennen, als könnten sie durch die symbolische Demonstration der moralisch richtigen Haltung – in den USA virtue signalling genannt – die moralischen Schulden der Vergangenheit abzahlen. Hannah Arendt warnte schon in den sechziger Jahren vor der problematischen Verwechslung der politischen Verpflichtungen, die sich aus der Vergangenheit ergeben, mit Läuterungsbedürfnissen, die einer nüchternen historischen Aufarbeitung der Vergangenheit und dem Verständnis gefährlicher sozialpolitischer Prozesse eher abträglich sind. Sie hat vermutlich das emotionale Bedürfnis unterschätzt, sich durch ein Guthaben an Tugend einen Platz im Himmel (beziehungsweise auf der richtigen Seite auf der moralischen Weltkarte, die Täter- und Opfergruppen unterscheidet) zu verschaffen.