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Lesezeit
Welche Bücher sich lohnen

Die dunklen Tage laden zum Lesen ein. Forschung & Lehre hat Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach ihren Buchempfehlungen gefragt.

24.12.2022

Katrin Böhning-Gaese empfiehlt: Robin Wall Kimmerer: Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen. Aufbau-Verlag 2021.

Portraitfoto von Katrin Böhning-Gaese
Katrin Böhning-Gaese ist Professorin an der Goethe Universität Frankfurt und Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums, Frankfurt am Main. Peter Kiefer

Wie denken indigene Gemeinschaften? Wie kann man als von den Naturwissenschaften geprägter Mensch Zugang zu diesen Wissenssystemen bekommen? Für mich war das Buch von Robin Wall Kimmerer, Geflochtenes Süßgras, ein Türöffner.

Robin Kimmerer ist Botanikprofessorin und Mitglied der Citizen Potawatomi Nation. Sie eröffnet in ihrem Buch geduldig, spannend, respektvoll und fundiert Zugang zu indigenen Wissenssystemen und ermöglicht damit den Beginn eines Dialogs zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften und ihren Vorstellungen von Natur und Mensch, ihrem Wissen und ihren Werten.


Clemens Albrecht empfiehlt: Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus. Suhrkamp Verlag, 2. Aufl., 2021.

Portraitfoto von Clemens Albrecht
Clemens Albrecht hat den Lehrstuhl für Kultursoziologie am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn inne. privat

Wer die Krisen der vergangenen Jahrzehnte durchlebt hat, dem drängt sich mit zunehmender Not die Frage auf: Wie geht es weiter mit der Globalisierung? In diesem schwierigen Feld erhebt Wolfgang Streeck schon seit langem eine streitbare Stimme, und nun legt er die Summe seiner Argumente vor.

Die nationalstaatlich verfasste Demokratie erscheint ihm als eine Institution, deren Geltung den historischen Moment ihrer Entstehung übersteigt. Durch sie sei es gelungen, die destruktiven Kräfte des modernen Kapitalismus einzuhegen, indem der gemeinsam erarbeitete Wohlstand so gleich wie möglich und so partizipativ wie wünschbar verteilt wird. Diese Errungenschaften sieht Streeck durch eine "Hyperglobalisierung" und die Verlagerungen politischer Entscheidungen in internationale Organisationen, die selbst nicht demokratisch legitimiert sind, gefährdet und plädiert für eine andere internationale Ordnung, die aus einem genossenschaftlich-konföderalen Staatensystem besteht.

Dieses Buch ist eine Herausforderung an uns alle, die grundlegenden Parameter unserer geschichtlich-sozialen Weltdeutung einmal wieder in die Distanz zu rücken und zu überprüfen.


Lothar Ledderose empfiehlt: Stephan Thome: Pflaumenregen. Roman. Suhrkamp Verlag, 2021.

Portraitfoto von Lothar Ledderose
Lothar Ledderose ist Seniorprofessor der Kunst­geschichte Ostasiens an der Universität Heidelberg. privat

Auf dem Kongress der kommunistischen Partei Chinas im Oktober 2022 hat Präsident Xi Jinping seine Absicht bekräftigt, Taiwan dem Mutterland einzuverleiben. Wir wissen nicht, wie der Konflikt ausgehen wird, doch Taiwan könnte zu einem Brennpunkt der Weltpolitik werden – Unwissenheit sollten wir uns nicht mehr leisten.

Mit Sympathie und Sachkenntnis und in meisterlicher Sprache zeigt uns der Autor in einem Kaleidoskop von Szenen das Schicksal einer Großfamilie im Strudel der Ereignisse der letzten Jahrzehnte: von der japanischen Kolonialzeit, mit der unmenschlichen Behandlung der englischen Kriegsgefangenen nach der Eroberung von Singapur, den Luftangriffen der Amerikaner auf Taipei am Ende des Krieges, den grauenhaften Auseinandersetzungen mit den Festländern, die mit Chiang Kai-shek auf die Insel drängten und aus ihrem Abscheu für ihre japanisierten Landsleute keinen Hehl machten, bis hin zur international vernetzten heutigen Generation mit einer ungewissen Zukunft. Aus diesem Roman erfährt man mehr über Taiwan als aus jedem Geschichtsbuch.


Birgitta Wolff empfiehlt: Joachim Weimann: Einfach zu einfach. Wie die leichten Lösungen unsere Demokratie bedrohen. Springer 2022.

Portraitfoto von Birgitta Wolff
Birgitta Wolff ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Rektorin der Bergischen Universität Wuppertal. Michael Mutzberg

"Einfach zu einfach" ist der sehr lesenswerte Versuch eines renommierten Umweltökonomen, den Frust über in umweltökonomischen Fragen dilettierende Nicht-Fachleute produktiv zu wenden.

Unterfüttert mit verhaltensökonomischen und psychologischen Forschungsresultaten zeigt Weimann, warum schlechte Narrative (akademische Folklore) und sehr schlechte Narrative (blanker Unsinn) im politischen Ideen-Wettbewerb gegenüber den guten (wissenschaftskompatiblen) Narrativen in einer immer komplexeren Welt systematisch im Vorteil sind. Zwei Lösungsansätze laden zur Diskussion ein.


Florian Steger empfiehlt: Andrzej Bart: Knochenpalast. Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp. Schöffling 2014.

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Florian Steger ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm. privat

Andrzej Bart, vielfach ausgezeichneter polnischer Literat, führt uns in dieser packenden Kriminalkomödie voll schwarzen Humors, die verfilmt als "Rewers" Polens Beitrag für den Oskar 2009 war, in das Warschau der 1950er Jahre.

Im Grunde geht es um eine Dollarmünze, welche die Protagonistin Sabina einem Dekret folgend herausgeben müsste, in Erinnerung an ihren Großvater aber sicher versteckt. Die ledige Lektorin lebt mit ihrer regimetreuen Mutter, ihrem opportunistischen Bruder Arkadiusz sowie ihrer Großmutter, dem Familienoberhaupt, in bescheidenen Verhältnissen. Als ihr ein Verehrer näherkommt und von ihrem Versteck erfährt, handelt die Protagonistin und setzt sich gegen diesen Agenten – und damit gegen die Repression des kommunistischen Polens – zur Wehr.


Andreas Jacob empfiehlt: Robert Walser: Der Gehülfe. Werke, Band 6, Berner Ausgabe, Suhrkamp Verlag 2019.

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Andreas Jacob ist Professor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste und seit 2017 deren Rektor. Franziska Götzen

In seinem 1908 erschienenen modernen Klassiker, einem Angestelltenroman avant la lettre, schildert Robert Walser aus der Perspektive des "Gehülfen" den unaufhaltsamen Abstieg eines Ingenieurbüros. Dessen Inhaber erfindet durchaus funktionsfähige Dinge, die nur leider keiner braucht (wie einen Patronen-Spendeautomaten für Schützenfeste).

Bezwingend vor allem die Sprache, die fast jeden Satz zum kulinarischen Ereignis werden lässt. Nur ein Beispiel: "Ja, er hatte schon Geist, wenn er nur wollte; aber er machte zu gern Pausen im Denken." (Das kenne ich übrigens.)


Bettina M. Bock empfiehlt: Kerstin Preiwuß: Das Komma und das Und. Eine Liebes­erklärung an die Sprache. Mit Illustrationen von Pauline Altmann. Dudenverlag 2019.

Portraitfoto von Bettina M. Bock
Bettina M. Bock ist Juniorprofessorin am Institut für deutsche Sprache und Literatur II an der Universität zu Köln. Thomas Rötting

Ähm, also ... wie fängt man da an. Kerstin Preiwuß – Schriftstellerin und promovierte Linguistin – hat eine Liebeserklärung an die Sprache geschrieben. Ihren Blick richtet sie gerade auf die wenig beachteten 'kleinen Wörter' – Präpositionen, Partikeln, Pronomen,... – und auf die Interpunktionszeichen. Mit Anekdoten und literarischen Werken denkt sie darüber nach, welches Sinnpotenzial ein eigentlich, Auslassungspunkte, ein ähm haben können.

Anders als Sprach- und Stilratgeber, die solche Ausdrucksmöglichkeiten schnell als generell überflüssig deklassieren, unterstreicht dieses Büchlein also gerade ihre Existenzberechtigung.


Diese Buchempfehlungen sind zuerst in der Dezember-Ausgabe von Forschung & Lehre erschienen.