Das Bild zeigt die Statue Immanuel Kants vor der "Baltischen Föderalen Immanuel-Kant-Universität" in Kaliningrad, Russland.
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Kant-Jahr
Wie prägt Kant unser heutiges Verständnis von Wissenschaft?

Anlässlich des 300. Geburtstages von Immanuel Kant blickt Professor Cord Friebe auf die Aktualität des großen Philosophen der Aufklärung.

Von Cord Friebe 22.04.2024

Nach Kant liegen Gott, Unsterblichkeit und Freiheit außerhalb unserer Erkenntnisgrenzen, sodass wir keinen Gottesbeweis mehr erwarten dürfen. An die Unsterblichkeit der Seele können wir höchstens noch glauben, vor allem werden wir aber keine theoretische Einsicht in die Freiheit unseres Handelns bekommen. Diese Einschränkung unserer Wissensansprüche gilt als das aufgeklärt Kritische an Kants Philosophie.

Innerhalb unserer Erkenntnisansprüche liegt vor allem die Physik, der Kant mit seinen "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" ein eigenes Werk gewidmet hat. Das hängt damit zusammen, dass die Physik schon zu Zeiten Kants in erheblichem Maße auf Mathematik beruhte und Mathematik für Kant als zweifellos wissenschaftlich galt. Bereits bei der Biologie machte Kant signifikante Abstriche und benötigte erneut ein eigenes Werk (zweiter Teil der "Kritik der Urteilskraft"), um unserer Erkenntnis von Lebewesen gerecht zu werden. Das zweckgerichtete Verhalten von Organismen stellte Kant vor besondere Probleme, die sein System zu sprengen drohten.

"Metaphysische" Grundlage und Kausalitätsprinzip

Letzteres lag insbesondere daran, dass er Darwins Evolutionstheorie noch nicht kannte und damit nicht die über Mutation und Selektion mechanistische Erklärung biologischer Funktionen (wie etwa der Funktion des Herzens, Blut zu pumpen). Bereinigt man Kant um zeittypische Beschränkungen und zieht man etwa hinzu, dass selbst Psychologie und Soziologie heutzutage mathematische Methoden (Statistik, Wahrscheinlichkeitstheorie) verwenden und empirisch operationalisierbar sind, dann kann man sicherlich sagen, dass all dieses ein noch lebender Kant als Wissenschaften anerkannt hätte oder sogar als Bestätigung dafür werten würde, dass seine Forderungen unser heutiges Verständnis geprägt haben. 

Der kantische Kern wäre damit aber verfehlt: Denn er war der Meinung, dass jede Wissenschaft neben Mathematik und empirischem Input immer auch eine "metaphysische" Grundlage hat (beziehungsweise haben müsste), die auf die unabdingbaren Voraussetzungen aller Erkenntnis verweisen.

Und diesbezüglich hat Kant anscheinend so ziemlich alles falsch gemacht: Eine der unabdingbaren Voraussetzungen soll beispielsweise der Raum sein, in dem wir uns zwangsläufig orientieren, und zwar der flache Raum, der notwendig euklidisch sei. Doch seit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie geht man davon aus, dass der reale Raum gekrümmt (nicht-euklidisch) ist, zudem dynamisch als expandierendes Universum. 

Eine weitere notwendige Bedingung war für Kant das Kausalprinzip, dass alle Ereignisse notwendig durch ein anderes Ereignis verursacht seien. Doch seit der Quantenphysik kennen wir Ereignisse wie den Atomzerfall, der offenbar spontan (indeterminiert) erfolgt. Das transzendentale Subjekt Kants hätte nicht würfeln wollen, könnte man in Übertragung von Einsteins berühmtem Ausspruch "Gott würfelt nicht!" sagen.

Ist Kant empirisch widerlegt?

Viele Leute halten daher Kants theoretische Philosophie – also seine Lehren von Zeit, Raum, Substanz und Kausalität – für empirisch widerlegt. Das kann aber nicht bedeuten, dass Kant empirische Prognosen gemacht hätte, die falsifiziert worden sind: Denn seine Philosophie ist nicht selbst eine empirische Theorie, die einfach an der Erfahrung scheitern könnte. Wenn stimmt, dass das expandierende Universum und der Atomzerfall gegen Kants vorgeblich notwendige Bedingungen unserer Erkenntnisse stehen, dann muss Kant gedankliche Fehler in seiner Theorie gemacht haben, und zwar solch gravierende, die auch seine Auffassungen zu Gott, Unsterblichkeit und Freiheit tangieren. 

Man kann nicht sagen, um es zuzuspitzen, dass zwar Relativitätstheorie und Quantenmechanik Kants Auffassungen von Zeit, Raum und Kausalität widerlegt hätten, dass aber mit Kants praktischer Philosophie weiterhin alles zum Besten stehe, die noch heute den Geist des deutschen Grundgesetzes prägt. Da gibt es ja schließlich einen Zusammenhang.

"Man kann nicht sagen, um es zuzuspitzen, dass zwar Relativitätstheorie und Quantenmechanik Kants Auffassungen von Zeit, Raum und Kausalität widerlegt hätten, dass aber mit Kants praktischer Philosophie weiterhin alles zum Besten stehe, die noch heute den Geist des deutschen Grundgesetzes prägt. Da gibt es ja schließlich einen Zusammenhang."

Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang an den Beispielen des Urknalls und des Higgs-Bosons. Daran lässt sich anschließend auch eine Verteidigungsstrategie skizzieren, wie Kant noch immer unser Verständnis von Wissenschaft prägen könnte. Die Erzeugung des Higgs-Bosons im CERN-Teilchenbeschleuniger wurde vor etwa zehn Jahren als große Bestätigung des Standardmodells der Elementarteilchenphysik gefeiert. Seither kann als empirisch gesichert gelten, dass die Welt aus elementaren Teilchen (oder Quanten) aufgebaut ist. Sie sind Unteilbares. Der Urknall wiederum gilt als der Weltanfang, als Beginn der Zeit. 

Beides – Weltanfang und Unteilbares – fasste Kant als Unbedingtes auf. Ganz analog zu Gott, Unsterblichkeit und Freiheit seien ein Anfang, dem keine Zeit vorhergeht, und Elementares, das sich nicht teilen lässt, nicht bedingt. Da es aber nach Kant notwendige Bedingungen aller Erkenntnisse gibt, kann es Unbedingtes folglich gar nicht geben – und der Urknall und Quarks müssten die unvermeidlichen Grenzen unserer Erfahrung genauso überschreiten wie Gott, Unsterblichkeit und Freiheit.

Eine Verteidigungsstrategie

Die Verteidigungsstrategie läuft wie folgt: Die Rede von den unabdingbaren Voraussetzungen aller Erkenntnisse suggeriert fälschlich, dass Kant ausschließlich notwendige Bedingungen unserer Erkenntnis thematisieren würde. Es gibt aber immer auch empirische Bedingungen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie eben nicht notwendig sind, sondern anders hätten sein können.

 Ein einfaches Beispiel: Bei der Wahrnehmung eines Tisches ist, so Kant, der Raum notwendige Bedingung. Ohne ihn wäre die Tisch-Wahrnehmung unmöglich. Der Tisch ist notwendigerweise etwas Räumliches; das hätte nicht anders sein können. In einem stockfinsteren Zimmer hätten wir den Tisch aber auch nicht recht wahrnehmen können. Die Tisch-Wahrnehmung unterliegt also auch noch der empirischen Bedingung, dass das Zimmer hinreichend beleuchtet ist. Solche Bedingungen aber sind kontingent, sie hätten anders sein können.

Zwischen Urknall und Quarks auf der einen Seite sowie Gott, Unsterblichkeit und Freiheit auf der anderen Seite gibt es in diesem Lichte nun einen wesentlichen Unterschied: Während letztere transzendental Unbedingtes sind – sie sind etwas Absolutes, Notwendiges –, behaupten Kosmologie und Elementarteilchenphysik den Urknall und die Quarks nur als empirisch Unbedingtes. Von ihnen wissen sie nur a posteriori (durch Erfahrung), und sie sind kontingent: Es hätte auch anders sein können. Physikalisch ist eine Welt denkbar ohne Urknall und Elementarteilchen. Kants Fehler war, hier nicht sauber genug zwischen transzendentalen und empirischen Bedingungen zu unterscheiden.

"Kants Fehler war, hier nicht sauber genug zwischen transzendentalen und empirischen Bedingungen zu unterscheiden."

De facto hat er nämlich (in den Antinomien-Kapiteln der "Kritik der reinen Vernunft") behauptet, es könne auch nichts empirisch Unbedingtes geben. Das aber folgt überhaupt nicht aus seinem Theorie-Ansatz, wonach es nur transzendental Unbedingtes nicht geben kann. Der Urknall und die Quarks stehen also nicht gegen Kants eigentliche Philosophie. 

Was dieses Beispiel lehrt, ist, dass unter veränderten empirischen Bedingungen – Teilchen-Beschleuniger etcetera – eine neue Perspektive auf Kants theoretische Philosophie entsteht, die ermöglicht, vermeidbare Fehler in Kants Werken zu entdecken, seine Theorie im Lichte neuerer empirischer Erkenntnisse zu rekonstruieren.

Kants Blick auf die aktuelle Wissenschaft

Umgekehrt zeigen solche Beispiele nicht, dass nicht nach wie vor ein kantischer Blick auf aktuelle Wissenschaften lohnenswert wäre: Liegen ihnen nicht doch metaphysische Anfangsgründe im Sinne Kants zugrunde, ohne welche sie nicht vollständig verständlich wären? Das Wechselspiel zwischen heutiger Wissenschaft und Kants Philosophie könnte dazu führen, das Verhältnis zwischen transzendentalen und empirischen Bedingungen zu aktualisieren. Kantianismus in der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie würde dann bedeuten, die nicht-empirische Grundlage vor allem der Physik aufzuzeigen. 

"Kantianismus in der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie würde dann bedeuten, die nicht-empirische Grundlage vor allem der Physik aufzuzeigen."

Etwa so: Urknall, Quarks, expandierendes Universum und Atomzerfall können nur wirklich sein, wenn sie durch einen empirischen Zusammenhang auf unmittelbare Erfahrung (Wahrnehmung) zurückgeführt werden können, für die Kants unabdingbare Voraussetzungen gelten: Zeit, Raum, Substanz und Kausalität.