Frau ist Kuchen
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Interview mit Prof. Dr. Gunther Hirschfelder
"Wir reden zu viel über Ernährung"

Der übermäßige Verzehr von Zucker ist aktuell ein vieldiskutiertes Thema. Ein Experte ordnet die Debatte in ihren kulturgeschichtlichen Kontext ein.

Von Vera Müller 11.08.2018

F&L: Ohne Zucker ist unser Leben und unsere Ernährung nicht denkbar, er ist Energie- und Geschmackslieferant. Gleichzeitig ist der Zucker und sein Konsum durch die Zunahme von Übergewicht oder Diabetes Typ 2 in Verruf geraten. Wo liegen hier die Konfliktfelder?

Gunther Hirschfelder: Unsere Gesellschaft ist sehr stark fragmentiert. Es gibt Fraktionen, für die ist Zucker eine Katastrophe, und wir haben Gruppen in der Gesellschaft, die dieses Problem weder kennen noch sich dafür interessieren. Für sie ist Zucker ein Symbol für Fortschritt und Wohlstand. Die Ablehnung gegen Zucker ist auch zum Distinktionsmerkmal geworden, zum Beispiel wenn es darum geht, Körperoptimierung oder Weltrettung zu betreiben. In unserer medialen Welt haben wir permanent ein gesellschaftliches und mediales Bedürfnis, Dinge neu zu verhandeln, und da kann man Fett, Salz, Fleisch oder auch Zucker gegeneinander substituieren, ohne die Thematik zu verändern.

F&L: Wie wird das Thema "richtige oder falsche Ernährung" in anderen Ländern diskutiert?

Gunther Hirschfelder: In Studien sehen wir, dass die Skandalisierung von Essen in Deutschland und den USA stärker stattfindet als in anderen Teilen der Welt. In den Schwellenländern Asiens sind die Zeiten mit geringer Kalorienversorgung noch nicht lange vorbei. Hier zeigt sich ein kultureller Mechanismus wie im Deutschland der 1960er Jahre: hemmungsloser Konsum und Genuss ohne Reue, soweit es die eigenen finanziellen Möglichkeiten zulassen. In Ländern wie Indien oder in der arabischen Welt hat Zucker erst einmal ein grundsätzlich positives Image. Ob Ernährung problematisch ist oder nicht, folgt ganz anderen Parametern. Da geht es teils um die Frage, ob sich die Menschen mit ausreichend Nahrung versorgen können. Bis zu den Kriegen in Ländern wie Syrien oder im Irak gab es eine gute Kalorienversorgung. Viele Menschen, die aus diesen Ländern nach Deutschland oder Europa kommen, sorgen sich nicht um zu viel oder zu wenig Zucker, sondern darum, ob die Lebensmittel möglicherweise unrein sind, etwa durch Schweinfleisch-oder Alkohol-Komponenten. Das wird als wesentlich dramatischer wahrgenommen als Zucker.

F&L: Wie wichtig ist für den Menschen das Süße?

Gunther Hirschfelder: Der Geschmack des Menschen ist kulturell gelernt. Das gilt aber nicht für den Bereich des Süßen, denn Menschen haben eine natürliche Affinität zum Süßen. Die Muttermilch hat eine starke Süßkomponente oder bestimmte Milchzuckerelemente, die dazu führen, dass wir auf Süß konditioniert sind. Hinzu kommt, dass es in der Entwicklungsgeschichte des Menschen pflanzliche Nahrungsmittel gibt, die sogenannten Vegetabilien. Süße Vegetabilien sind seltener oder fast nie giftig, während nicht-süße Vegetabilien eher giftig sind. Und schließlich: Wenn Sie Hunger haben, bekommen Sie durch das Süße einen schnellen Energieschub.

Prof. Dr. Gunther Hirschfelder
Professor Dr. Gunther Hirschfelder lehrt Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. privat

F&L: Was macht den Zuckerkonsum problematisch?

Gunther Hirschfelder: Obwohl der Zucker heutzutage negativ besetzt ist, haben wir einen relativ stabilen Zuckerverbrauch von circa 32 Kilogramm pro Person und Jahr in Deutschland. Zucker ist von seiner Struktur her fest eingraviert in unser kulturelles Gedächtnis und die Physiologie. Dass es für den Körper nicht gut ist, wenn Sie sich viel zu wenig bewegen und viel zu viel Fett und jeden Tag drei Tafeln Schokolade essen, steht außer Frage. Aber Zucker ist kein Teufelszeug, es ist erst einmal ein unschuldiges Molekül, das seinen Platz im Nahrungssystem und in unserem Stoffwechsel hat. Das Problem ist laut Medizin und Ernährungsmedizin neben der Menge die Entchronologisierung beim Zucker, das heißt, wir haben eine ganze Reihe von Stoffwechselerkrankungen oder Diabetes Typ 2, weil Menschen permanent Zuckerhaltiges essen. Das stresst den Körper mehr als eine singuläre Zuckergabe.

F&L: Gibt es auch einen gesellschaftlichen Druck, der den Zuckerkonsum anheizt?

Gunther Hirschfelder: Die Ernährungsbildung in Deutschland arbeitet mit permanenten Imperativen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat aber keine Lust auf Imperative. Gleichzeitig essen Menschen zu viel Zucker, weil er ein billiges Markenprodukt ist. Wir leben in einer kapitalistischen Konsumgesellschaft und Kapitalismus bedeutet Verpflichtung zum Konsum. Viele Menschen würden gern an der Konsumgesellschaft teilhaben, können es sich aber im Bereich hochpreisiger Konsumgüter nicht leisten. Und so schwenken sie um auf niedrigpreisige Markenprodukte, die dann eine besondere Symbolkraft haben. Das führt dazu, dass auch solche Menschen Zucker konsumieren, die es gar nicht auf Zucker abgesehen haben, sondern auf die Symbolkraft eines Produktes wie zum Beispiel Red Bull, bei dem man die positiven Eigenschaften eines Produktes auf sich übergehen lässt. Hinzu kommt, dass wir in einer völlig überregulierten Gesellschaft leben. Sie können nicht mehr trinken, wie Sie wollen, Sie können nicht mehr rauchen, Sie sind ständig unter Beobachtung, ständig digital überprüfbar. Die Ernährung ist der letzte ungeregelte Bereich in der Gesellschaft. Essen hat also auch eine starke Ventilfunktion und dient auch dazu, Frust abzubauen. Aber auch die Kenntnisse über Ernährung und die Zubereitung sind soweit erodiert, so dass viele Menschen auf Convenience-Produkte zurückgreifen. In einem solchen gesellschaftlichen Kontext lässt sich der Zucker nicht wegdividieren.

F&L: Wie könnte eine Ernährungsbildung aussehen, die alle Gruppen in der Gesellschaft erreicht?

Gunther Hirschfelder: Wir haben zwei Generationen Ernährungsbildung hinter uns, die wegen des imperativen Ansatzes faktisch nicht gefruchtet haben. Eine vernünftige Ernährungsbildung müsste ganz früh beginnen und ganzheitlich sein. Sie müsste sich in Kitas und Schulen an der Lebensrealität orientieren, zum Beispiel indem ein eigener Garten bewirtschaftet oder Diffusion und Osmose an Lebensmitteln praktisch erklärt wird - so dass Menschen genug Wissen haben, um sich besser ernähren zu können.

Eine kurze Kulturgeschichte des Zuckers

Entwicklungsgeschichtlich existierte eher ein Mangel an Zucker. Das Süße sicherte das Überleben, und das gelang in der Frühgeschichte der Menschheit überwiegend nur aus Früchten und in der Steinzeit dann auch mit Honig. Doch bereits bei den frühen Hochkulturen war süß das Synonym sowohl für Genuss als auch für das Überleben. Auch der Honig wurde hoch gehandelt, und zwar nicht nur als Nahrung, sondern als beinahe universelles Heilmittel.

  • Um 8.000 v. Chr. begann in Melanesien der Anbau der Zuckerrohrpflanze und breitete sich bis etwa 6.000 v. Chr. bis nach Indien und Persien aus.
  • Um 600 n. Chr. konnte in Persien die Verarbeitung des Zuckerrohrs optimiert werden, so dass einer Verbreitung des Zuckers als Luxusgut und Medizin nichts mehr im Wege stand.
  • Durch kolonialen Anbau des Zuckerrohrs gelangte der Zucker dann im 16. Jahrhundert als Luxusprodukt nach Europa, und als die Innovationen Schokolade, Kaffee und Kakao aufkamen, wurden sie mit Zucker kombiniert.
  • Anfang des 19. Jahrhunderts gelang es dem Chemiker Franz Carl Achard, raffinierten Zucker herzustellen, 1840 wurde der erste Würfelzucker der Welt erfunden.
  • Der Zucker wurde vom Luxus- zum industriell hergestellten Massenprodukt, was schließlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Konzentration auf weißen Zucker zum Problem wurde. Denn die Saccharose des industriell hergestellten Rübenzuckers beinhaltet lediglich kleine Mengen an Mineralstoffen, während Früchte und Honig neben Fruktose, Glukose und Maltose auch Mineralstoffe, Proteine, Enzyme, Aminosäuren und Vitamine enthalten.
  • Im Deutschland der 1950er und 1960er Jahre, des wirtschaftlichen Aufschwungs, existierte kein Problembewusstsein für Zucker, Fett und Salz.
  • Der zunehmende Überfluss begünstigte Zivilisationskrankheiten wie Adipositas oder Diabetes Typ 2, und seit den 1980er Jahren gibt es zum Thema Zucker unterschiedliche Bewegungen und Bewertungen. Dazu gehört auch eine Art Dämonisierung – zumindest in Teilen der Gesellschaft.

F&L: Geht es nicht auch darum, wieder mehr unbearbeitete, natürliche Nahrung zu sich zu nehmen?

Gunther Hirschfelder: Der Mensch tendiert nicht dazu, natürlich zu essen. Beispielsweise in der Zeit um 1800 war das Regionale ein notwendiges Übel für die Armen, die Wohlhabenden aßen Importprodukte und tranken teuren Südwein. Ich wäre auch vorsichtig, Fertigprodukte grundsätzlich abzulehnen. Wir reden ja zunehmend über Nachhaltigkeit. Gemäß dem momentanen gesellschaftlichen Diskurs kann ich mit südamerikanischem Biorindfleisch Sozialkapital akkumulieren. Oder das Thema Biolachs: Er ist vom Footprint und dem gesamten Stoffkreislauf her hochproblematisch. In einer Zeit der zunehmenden globalen Erwärmung oder der Frage von Flächenressourcen ist Zucker immer noch der Nährstoff, der am billigsten herzustellen ist. Es ist eine schnelle Energiequelle, die von der Umweltbilanz her viel günstiger dasteht als Rindfleisch oder Bioflugmangos.

F&L: Wird das Thema "Essen" zur Ideologie?

Gunther Hirschfelder: Wir sind aufgewachsen in einem ideologischen Zeitalter und haben nach 1990 gelernt, dass Ideologien etwas Schädliches sind. Darauf folgte eine ideologiefreie Generation, und heute kommen die Ideologien in anderer Gestalt wieder. Es geht nicht mehr um die Frage des politischen Systems, sondern um die Frage des richtigen Ernährungsstils. Und in modernen Lebensstilgesellschaften ist der Hauptlebensstil der Ernährungsstil. Meiner Meinung nach reden wir zu viel über Ernährung, wir sollten vielleicht erst einmal über geistiges Wohlbefinden sprechen. Warum muss man immer seinen Körper optimieren? Die Ernährungsimperative sind auch insofern problematisch, weil sie ein Diktat aussprechen, wie ein Mensch auszusehen hat. Habe ich mit einem BMI von über 30 versagt? Habe ich versagt, wenn ich graue Haare bekomme oder wenn ich über 50 bin? Ist Altwerden ein Verbrechen? Wir können den Menschen nicht zur absoluten Gesundheit erziehen, am Ende stirbt er sowieso.