Joggende Frau
mauritius images/Blend Images/Dave and Les Jacobs

Interview mit Dr. Ute Sonntag
Gesundheit erhalten und fördern

Aktuelle Zahlen bescheinigen deutschen Unternehmen massive Defizite beim Gesundheitsschutz. Wie sieht die Situation an den Hochschulen aus?

Von Friederike Invernizzi 22.03.2018

Forschung & Lehre: Eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung bescheinigt 70 Prozent aller Betriebe in Deutschland Defizite bei der Gesundheitsförderung und beim Gesundheitsschutz. Die Basis war eine Umfrage unter 2.000 Betriebsräten. Sie sind Koordinatorin des Arbeitskreises Gesundheitsfördernde Hochschulen (AGH). Wie stellt sich die Situation an den Hochschulen dar?

Ute Sonntag: Da die Mehrheit der Hochschulen in Deutschland staatlich organisiert ist und daher auch eine öffentliche Verwaltung besitzt, ist der Arbeitsschutz an diesen Hochschulen gut etabliert. Die Frage stellt sich allerdings, ob das Personal, das hierfür eingestellt wird, ausreichend ist. Bisher stehen beim Arbeitsschutz nur die Beschäftigten der Hochschule im Fokus und nicht die Studierenden. Die moderne Gesundheitsförderung ist ein anderer Aspekt. Nach der Ottawa-Charta von 1986 der Weltgesundheitsorganisation definiert sie sich als die Förderung der Gesundheit an den Orten, wo der Mensch lebt und arbeitet. Sie ist an den Hochschulen noch nicht so verankert wie der Arbeitsschutz. Unser bundesweiter Arbeitskreis Gesundheitsfördernde Hochschulen existiert seit 1995. Die über 440 Mitglieder bei uns sind in über 140 Hochschulen und hochschulnahen Institutionen beheimatet. Unser Ziel ist es natürlich, noch mehr Hochschulen für Gesundheitsförderung zu begeistern. Eine aktuelle repräsentative Umfrage von uns, an der 114 Hochschulen teilgenommen haben, ergab, dass 50 Prozent der Hochschulen Arbeitskreise und Strukturen im Rahmen der Gesundheitsförderung etabliert haben.

F&L: Wie können die Bedürfnisse an die Gesundheitsförderung der Zielgruppen an den Hochschulen eruiert werden?

Ute Sonntag: Alle Statusgruppen, das wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Personal und die Studierenden, müssen anvisiert werden. Die meisten Hochschulen haben vor allem die Beschäftigten im Blick. Es wäre daher wichtig, auch ein systematisches Gesundheitsmanagement für Studierende zu entwickeln. Dieser Trend beginnt gerade an deutschen Hochschulen. Um die Bedürfnisse zu eruieren, können Befragungen durchführt werden. Viele Hochschulen starten hier erstmal mit dem nicht-wissenschaftlichen Personal, da es dem Personal in Betrieben am ähnlichsten ist. Befragungen dauern allerdings viel länger als andere Methoden. Sie sind auch oft teuer, und der Datenschutz ist häufig ein Problem. Wichtig bei Befragungen ist, dass ein "Quick Win" gewährleistet ist, dass die Befragten merken, es passiert etwas. Bei den Studierenden haben wir gute Erfahrungen mit kleinen moderierten Gruppenbefragungen, den sogenannten Fokusgruppen, gemacht, das geht schnell, man kann dort viele Fragen direkt klären, Einblicke in die Lebenswelt der Studierenden erhalten, die Probleme angehen und Lösungen umsetzen.

F&L:
Politische und strukturelle Veränderungen an den Hochschulen, zum Beispiel der der Bologna-Prozess, haben für veränderte Anforderungen und Belastungen für Studierende und Hochschulangehörige gesorgt. Beispielsweise haben die wachsende Verschulung und der erhöhte administrative Aufwand bei gleichzeitig wachsenden Studierendenzahlen den Arbeitsaufwand erhöht. Wie kann aktives Gesundheitsmanagement dem begegnen?

Ute Sonntag: Wie sich die Bologna-Reform bei den Studierenden auswirkt, ist sehr umstritten. Die einen sagen, es ist mehr Stress, da mehr Vorgaben existieren, die anderen sagen, es ist nur ein anderer Stress. Studierende fühlen sich aber gestresster als junge Erwerbspersonen. Wo wir aber vermehrt ein großes Stressniveau wahrnehmen, ist beim akademischen Mittelbau. Das ist ein sehr großes Problem. Hier spielen die Rahmenbedingungen eine Rolle, denn die Mehrheit, der im Mittelbau beschäftigten, hat befristete Verträge, die teils nur über Monate gehen. Dies schafft sehr große Unsicherheit und Dauerstress. Das ist für die Hochschulen sehr schwierig zu ändern, da diese von Drittmitteln abhängig sind. Hier wollen wir Gespräche mit den Geldgebenden, mit den Ministerien und auch mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft führen. Die Hochschulen müssten zum Beispiel Töpfe einrichten für "Übergangszeiten" bis das nächste Projekt greift und die Leute nicht entlassen werden müssen.

Dr. Ute Sonntag hat Gütekriterien für gesundheitsfördernde Hochschulen mitentwickelt. privat
Gesundheitsföderlich? Dieses Prädikat würden die Hörsäle vieler Hochschulen wohl nicht erhalten. dpa

F&L: Was sind die Merkmale einer gesundheitsfördernden Hochschule? Welche Handlungsfelder gibt es und welche "Gütekriterien"?

Ute Sonntag: Der Arbeitskreis Gesundheitsfördernde Hochschulen hat zehn Gütekriterien entwickelt. Es ist uns wichtig, nicht nur auf die Schwierigkeiten und die Erkrankungen zu schauen. Wir arbeiten nach dem salutogenetischen Ansatz von Aaron Antonovsky, der fragt: wie entsteht Gesundheit? Wie kann sie erhalten werden? Viele an der Hochschule Beschäftigte und Studierende arbeiten gerne an der Hochschule, daher stellt sich die Frage, was die Bedingungen sind, die die Arbeit an der Hochschule interessant machen und wie können wir das weiter stärken? Wir wollen ein Konzept, das die Hochschule als gesamte Organisation begreift. Uns schwebt vor, dass sich eine gesundheitsfördernde Hochschule in allen Bereichen zeigt: im gesundheitsfördernden Bauen also der Campusgestaltung, bis hin zu gesunder Lehre, gesunden Prüfungsbedingungen und professioneller Vertragsgestaltung. Wir empfehlen im Sinne der Weltgesundheitsorganisation, dass Strukturen geschaffen werden mit bezahlten Kräften, die dies koordinieren und Kontinuität gewährleisten. Das machen immer mehr Hochschulen. Hier muss die "Hausspitze" der Hochschule dahinterstehen, das ist ganz wichtig. Es braucht den Rückenwind der Leitung. Nur so kann man zum Beispiel Führungskräfte dazu bewegen, an Seminaren zu guter Führung teilzunehmen.

F&L: Wie kann an den Hochschulen ein gesundheitsförderndes Konzept nachhaltig verankert werden und wo sollte es angesiedelt sein?

Ute Sonntag: Wir haben noch wenig Erfahrung damit, wo betriebliches Gesundheitsmanagement und studentisches Gesundheitsmanagement angesiedelt sein sollte. Im Moment denken wir, es wäre sinnvoll, das studentische Gesundheitsmanagement unabhängig vom betrieblichen anzusiedeln. Das muss die Praxis noch zeigen. Das betriebliche Gesundheitsmanagement ist an den Hochschulen allerdings auch unterschiedlich angebunden, bei manchen ist es bei der Personalabteilung, manchmal bei der Gleichstellungsabteilung, manchmal auch direkt bei der Leitung der Hochschule, teils auch beim Hochschulsport. Wenn Hochschulen mit Gesundheitsmanagement anfangen, fällt ihnen als erstes der Hochschulsport ein, daher ist die Gesundheitsförderung oft in der Hochschulsportabteilung verankert.

F&L: Wo können Hochschulen, die ein betriebliches Gesundheitsmanagement aufbauen wollen, Unterstützung bekommen?

Ute Sonntag:
Wir würden uns wünschen, dass die Hochschulen dabei nicht nur beim eigenen Etat bleiben, sondern auch vom Bildungsministerium Gelder bekommen. Leider ist dieses weniger gesundheitsförderungsaffin, sondern fokussiert aktuelle Nachhaltigkeit sehr stark. Bei der Gesundheitsförderung kann man eine größere Zurückhaltung feststellen. Allerdings gibt es zwischen dieser und der Nachhaltigkeit eine Verbindung: die soziale Nachhaltigkeit. Insgesamt fällt Gesundheitsförderung oft unter den Tisch, das ist für uns sehr ärgerlich. Die andere Unterstützung ist die Weitergabe von Informationen über Möglichkeiten und Konzepte an den Hochschulen. Das leisten unser Arbeitskreis und  Krankenkassen. Die Krankenkassen gehen in Betriebe, in Hochschulen und beraten, wie Gesundheitsförderung gestaltet werden kann. Sie  begleiten auch Projekte. Seit dem Präventionsgesetz, in dem auch die Hochschulen verankert sind, ist die Tür noch weiter geöffnet.

F&L: Wo sehen Sie persönlich die größte Herausforderung an eine verbesserte Gesundheitsförderung an Hochschulen?

Ute Sonntag: In unserer aktuellen Befragung sind auch blinde Flecken deutlich geworden. Zum Beispiel die fehlende Evaluation der gesundheitsfördernden Projekte und Maßnahmen an den Hochschulen. Ein gutes Beispiel dafür ist die noch ausstehende Arbeit mit Kennzahlen. Dort geht es dann natürlich ans Eingemachte. Außerdem haben wir die Vision eines hochschulischen Gesundheitsmanagements als Gesamtkonzept, bei dem uns eine Kombination aus betrieblichem Gesundheitsmanagement und studentischem Gesundheitsmanagement vorschwebt, gekoppelt mit anderen Aspekten wie Architektur und Campus.

Der Arbeitskreis Gesundheitsfördernde Hochschulen (AGH) besteht seit 1995. Derzeit wird er von Dr. Ute Sonntag und Stephanie Schluck von der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. und Prof. Dr. Thomas Hartmann von der Hochschule Magdeburg-Stendal koordiniert.