Bröckelnde Oberfläche mit EU-Flagge
picture alliance/chromorange

Standpunkt
Zur "Krise" des Multilateralismus

Multilaterale Institutionen haben derzeit weltweit mit viel Gegenwind zu kämpfen. Der Grund hierfür liegt regelmäßig in der nationalen Politik.

Von Andreas von Staden 08.09.2018

Die in weiten Teilen auf multilateraler Koordination und Kooperation basierende Weltordnung ist in den vergangenen Jahren unter Druck geraten. Mit dem Einzug Donald Trumps in das Weiße Haus haben sich die USA in zahlreichen Kontexten—von G20 über das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP), von dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) bis zur Welthandelsorganisation (WTO), von den Vereinten Nationen hin zur NATO—als unbeständiger Partner gezeigt, der hinsichtlich der Verfolgung der eigenen Interessen zunehmend unilateral oder bilateral vorgeht.

In Afrika – und nicht nur dort – kämpft der Internationale Strafgerichtshof gegen Abwanderungstendenzen. In Südamerika hat die Hälfte der Mitglieder der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) ihre aktive Teilnahme an den Aktivitäten der Organisation suspendiert und Kolumbien inzwischen seinen Austritt angekündigt. In Europa stellen der Brexit und das Erstarken teils europakritischer, teils europafeindlicher politischer Bewegungen, Parteien und mitunter auch Regierungen die Idee des europäischen Integrationsprojektes in Frage.

Auch jenseits der EU mehren sich Versuche, Regelungs- und Entscheidungskompetenzen zu re-nationalisieren. So strebt die Schweizer Initiative "Schweizer Recht statt fremde Richter" die verfassungsrechtliche Verankerung des Vorrangs der Schweizer Verfassung über bestehende und zukünftige völkerrechtliche Verpflichtungen an. In Russland hat derweil das russische Verfassungsgericht entschieden, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht umgesetzt werden müssen, wenn ihre Befolgung nicht im Einklang mit russischem Verfassungsrecht steht.

Ein wiederkehrendes Phänomen

Konstituieren diese Entwicklungen der letzten Jahre zusammen eine "Krise" des Multilateralismus, also dessen, was John Ruggie in "Multilateralism Matters" (1993) als die "institutionalisierte Form der Koordination der Beziehungen zwischen drei oder mehr Staaten auf Basis generalisierter Verhaltensprinzipien" definiert hat?

Andreas von Staden ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Dort forscht er insbesondere zur Wirkungsmacht internationaler Institutionen. privat

Eine eindeutige, allgemein akzeptierte Antwort auf diese Frage ist – wenig überraschend – kaum möglich, da der Bewertung einer politischen Situation als "Krise" immer auch ein subjektives Element innewohnt. Versteht man unter einer "Krise" nicht bloß eine schwierige Situation, sondern darüber hinaus einen möglichen Wendepunkt, an dem bisherige Handlungsweisen und ihre Fortführung in Frage gestellt werden, dann lässt sich zumindest über die Schwelle, die erreicht werden muss, bevor ein solcher Zustand der bevorstehenden oder drohenden Veränderung grundlegender Institutionen und Handlungsmuster erreicht ist, unterschiedlicher Meinung sein.

Aus meiner Sicht ist eine solche Schwelle aktuell allenfalls in bestimmten regionalen und globalen Teilsystemen der internationalen Politik überschritten, nicht aber in Bezug auf die Institution des Multilateralismus an sich. So ist zu konstatieren, dass eine gewisse Fluktuation in der Hinwendung zu und Abwendung von multilateralen Institutionen ein wiederkehrendes Phänomen der internationalen Politik ist. Einzelne Staaten haben sich immer schon im Lichte ihrer Präferenzen und Interessen mal stärker multilateral engagiert, mal von multilateralen Institutionen losgelöst.

Einen quantitativen Schwellenwert zu definieren, scheint hier schwer möglich. Vielleicht ist es aber auch eher die Tatsache, dass mehrere Schwergewichte wie die USA, Russland und China dem Multilateralismus offenbar zunehmend die kalte Schulter zeigen, welche die gegenwärtigen Herausforderungen zur Krise machen. Dies kann man so sehen, und ohne Frage beeinträchtigt es die Effektivität multilateralen Handelns, wenn sich wesentliche Akteure mit ihren Ressourcen aus bestehenden Institutionen ausklinken. Es vernachlässigt aber zugleich zu sehr, das eine sehr viel größere Anzahl an Staaten in vielen Sachbereichen weiterhin auf multilaterales Handeln setzt.

Fehlende gemeinsame Ziele

Auch die vermeintlichen Gegner des Multilateralismus lehnen oft nicht multilaterales Vorgehen an sich ab, sondern wenden sich gegen die Inhalte der im Rahmen multilateraler Arrangements aufgestellten Regeln und durch internationale Institutionen getroffenen Entscheidungen, die sie durch alternative, üblicherweise  staaten- und souveränitätsfreundlichere Arrangements ersetzen möchten. So überlegen die Staaten der Afrikanischen Union, anstatt des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) einem noch zu errichtenden afrikanischen Strafgerichtshof beizutreten, vor dem aktuelle Amtsinhaber anders als vor dem IStGH aber Immunität genießen sollen.

Auch Donald Trump möchte anscheinend NAFTA nicht unbedingt ersatzlos abschaffen, sondern lieber inhaltlich neu verhandeln. So betrachtet ist die Krise des Multilateralismus keine Krise der Institution an sich, sondern der verfolgten politischen Ziele und der kleiner werdenden gemeinsamen "win-sets", die eine staatenübergreifende Einigung erschweren.

Dies ist nicht weniger bedeutend als eine Krise des Multilateralismus als Institution, bedeutet es doch bisher ganz überwiegend eine Abwendung von liberalen Werten etwa in der Handels- und der Menschenrechtspolitik, aber es ist ein vom Phänomen her anders gelagertes Problem als die Aufgabe der Institution als solcher. Wenn es eine Krise des Multilateralismus gibt, dann ist dies eher die Krise einer spezifischen, vornehmlich liberalen Manifestation einer multilateral organisierten Weltordnung.

Natürlich kann die Unfähigkeit, sich im Rahmen inhaltlicher Neuverhandlungen auf gemeinsame handlungsleitende Normen und Prinzipien zu einigen, zu einem Scheitern des multilateralen Formats als solchem führen, und auch ein Übergreifen von multilateralen Dysfunktionalitäten aus regionalen Kontexten oder inhaltlichen Teilsystemen auf andere Teilsysteme und letztlich auf das globale System insgesamt kann nicht ausgeschlossen werden.

Zur Verhinderung eines solchen negativen "spill-over" ist der Aufruf des deutschen Außenministers Heiko Maas, eine "Allianz der Multilateralisten" zu bilden und zu stärken, durchaus sinnvoll und lobenswert. In letzter Instanz muss der Kampf der Multilateralisten für den Erhalt dieser Institution aber national geführt werden, denn der Ruf nach Neuverhandlungen von Inhalten, alternativen Governance-Arrangements und gegebenenfalls unilateralem Vorgehen wird maßgeblich durch die innerstaatliche Politik und die daran beteiligten Interessengruppen und Wählerschaften bestimmt.

Insofern ist der politische Kampf gegen Populismus, Nationalismus und andere ideologische Strömungen, die sich myopisch einzelnen Partikularinteressen verschrieben haben und dadurch regionale und globale Problemlösungen behindern, zugleich die Voraussetzung für das Beibehalten und die Stärkung des Multilateralismus als einem Grundpfeiler der gegenwärtigen Weltordnung.

Der Beitrag ist inspiriert durch die Diskussionsrunde "Multilateralism in Crisis: The Re-Nationalization of Governance and the Emergence of a Neo-Westphalian Order", die der Autor im Rahmen der Konferenz des European Consortium for Political Research (ECPR) in Hamburg im August 2018 organisiert und moderiert hat. Die ECPR-Konferenz ist die größte politikwissenschaftliche Fachkonferenz in Europa. In diesem Jahr haben die über 2.600 Teilnehmenden unter anderem über die Gefährdung liberaler Demokratien und den Umgang mit Varianten von Populismus und Extremismus diskutiert.