Drei Wissenschaftler betrachten ein Modell der DNA
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Gentechnik
Die Büchse der Pandora

Ein neues Verfahren verspricht weitere Möglichkeiten in der Therapie von genetischen Krankheiten. Doch ist das "Prime editing" ethisch vertretbar?

Von Claudia Krapp 13.12.2019

Die Genschere CRISPR ist heute kein mythisches Akronym mehr, sondern medizinische Realität. Die umstrittene Revolution verzeichnet erste Erfolge – nicht nur im Labor, sondern mittlerweile auch im Patienten. Doch kaum aus den Kinderschuhen, könnte die Methode bereits ein alter Hut sein.

Im Oktober haben Wissenschaftler eine Weiterentwicklung der CRISPR-Cas-Methode vorgestellt. Mit dem "prime editing" können ebenfalls Mutationen im menschlichen Erbgut korrigiert oder erzeugt werden. Die neue Methode ist laut der vorgestellten Studie effizienter, vielseitiger und hat weniger unerwünschte Nebeneffekte als Crispr. Eine Art Schweizer Taschenmesser für Gentherapien? Mit den Möglichkeiten des "prime editings" könnten theoretisch bis zu 89 Prozent aller bekannten Gendefekte, die zu einer Krankheit führen, korrigiert werden, schreiben die Autoren.

Sie beschreiben das "prime editing"-System als so flexibel, dass im Grunde für jedwede gewünschte Anwendung das entsprechende "prime editing"-Kit entwickelt und optimiert werden kann. Auch Professor Dirk Heckl, der als Krebsforscher am Universitätsklinikum Halle mit Genscheren arbeitet, sieht in der weiterentwickelten Methode ein hohes Potential. "Die Anzahl der notwendigen Komponenten und die Effizienz machen den Unterschied zu anderen Methoden: Spezifische DNA-Veränderungen können ohne Doppelstrangbruch und ohne weitere Donor-DNA erfolgen."

CRISPR versus Prime Editing – die gentechnischen Werkzeuge im Vergleich

"Prime editing" basiert auf der Genschere Cas. Im Vergleich zum klassischen CRISPR-Cas-Verfahren wurde diese so abgewandelt, dass sie den DNA-Doppelstrang nicht komplett durchschneidet, sondern nur einen der beiden Stränge durchtrennt. Das senkt das Risiko für Fehler und erfolglose Versuche, das Erbgut zu verändern – Sicherheit und Effizienz steigen.

Zudem haben die Wissenschaftler beim "prime editing" die modifizierte Genschere Cas mit einem weiteren Enzym gekoppelt: einer sogenannten Reversen Transkriptase (RT). Dieses Molekül funktioniert wie eine Nadel, die an der Schnittstelle neue Information in das Erbgut einwebt.

Welche Information die Nadel an der Schnittstelle einbauen soll, legt dabei ein "Botenmolekül" fest. Die sogenannte guide-RNA legt im klassischen Crispr-Verfahren die Schnittstelle für die Schere fest. Beim "prime editing" erfüllt sie eine Doppelfunktion: Sie legt sowohl die Schnittstelle als auch die Nähanleitung fest. Das ist ein Vorteil, weil die Information, welche Veränderung am Erbgut vorgenommen werden soll, nicht mehr wie bei Crispr separat über einen DNA-Baustein in die Zellen geschleust werden muss.

"Prime editing" vereint mehrere Verfahren

Die Effizienz des "prime editing" erreicht in der Machbarkeitsstudie zwischen 30 bis 80 Prozent – je nach Art der genetischen Veränderung und je nach Zelltyp. Zum Teil übersteigt das Verfahren bisherige gentechnische Methoden deutlich, teilweise hält es mit deren Effizienz mit. "Bei der gezielten Veränderung größerer Erbgut-Abschnitte übertrifft die Methode alle mir bekannten Methoden", sagt Heckl. "Das Ausschalten von Genen ist jedoch mittels klassischem CRISPR-Cas9 nicht weniger effizient und auch die Veränderung einzelner Basen geht mit dem sogenannten "base editing" ebenso gut wie mit dem "prime editing"."

Die große Neuerung ist, dass "prime editing" in der Art der genetisch möglichen Veränderung vielfältiger ist als bisherige Methoden. Durch "prime editing" können sowohl kleine bis mittelgroße Abschnitte eingefügt oder entfernt als auch alle möglichen Einzelbausteine ausgetauscht werden (sogenannte Einzelbasenaustausche beziehungsweise Punktmutationen). Die Möglichkeiten anderer Verfahren sind dagegen spezialisierter: Crispr eignet sich für das Einfügen oder Entfernen größerer DNA-Sequenzen aus mehreren Basen (Buchstaben), aber nicht für Einzelbasenaustausche; beim "base editing" verhält es sich umgekehrt. "Prime editing" vereint die Möglichkeiten mehrerer Verfahren. Die großen Abweichungen in der Effizienz dieser vielfältigen Austausche zeigen jedoch auch, wie fein das System an die jeweiligen zellulären Bedingungen und genetischen Eigenheiten angepasst werden muss. Ein Allzweck-Prototyp ohne Feinjustierung sozusagen.

"Die Methode übernimmt die Präzision und Sicherheit des "base editings". Bei beiden ist kein Doppelstrangbruch notwendig, wodurch weniger unerwünschte Mutationen auftreten könnten", erklärt Professorin Alena Buyx. Die Medizinethikerin an der TU München hat im Deutschen Ethikrat die Arbeitsgruppe zu Keimbahneingriffen geleitet. Ihr zufolge ist "prime editing" ein Fortschritt im technischen Sinne, der die Sicherheit erhöhen kann. Das ändere aber nichts an der Debatte, ob Keimbahneingriffe ethisch grundsätzlich zulässig seien, von klinischer Anwendung ganz abgesehen. Heckl hält zum jetzigen Zeitpunkt die Anwendbarkeit aller gentechnischen Methoden für gleichwertig.

Bislang ist "prime editing" nur ein "proof of principle" – eine einzelne Machbarkeits- und Prinzipienstudie im frühen Stadium der Grundlagenforschung. Das Verfahren wurde nur in vier menschlichen Labor-Zelllinien und einem Zelltyp einer Maus durchgeführt. Weder zu Zellen in einem menschlichen Körper noch in einem Tierversuch gibt es bisher Untersuchungen. Beide müssen folgen, um die Sicherheit der Methode für Gentherapien an Erkrankten besser beurteilen zu können. "So wie jedes neue Medikament getestet und entwickelt werden muss, so wird auch die Genomeditierung durch "prime editing" getestet werden müssen – für jede einzelne zu behandelnde Erkrankung", sagt Heckl. "Dabei sind Tests in Zelllinien, Primärzellen und Tiermodellen ebenso nötig, wie anschließende klinische Studien in erkrankten Patienten."

Das Risiko bleibt unberechenbar

Die Hauptkritik an Crispr war bislang, dass bei der damit erzeugten Genveränderung auch unerwünschte Mutationen an anderen als der beabsichtigten Stelle im Genom erzeugt werden, sogenannte "off-target edits". Zusätzlich zur Grundsatzdebatte über Keimbahneingriffe hat der Deutsche Ethikrat daher die gegenwärtigen Methoden als zu unsicher für die Anwendung am Menschen eingestuft. Das gilt Buyx zufolge auch für alle verbesserten Verfahren, da es zu derzeit unbekannten Langzeiteffekten kommen kann, sogenannten "unkown unknowns".

Der Studie zufolge reduziert das "prime editing" die Häufigkeit von "off-target edits" an bekannten häufigen Crispr-Fehlerstellen drastisch. Im Vergleich zum klassischen Crispr-Verfahren tritt einer der untersuchten Fehler nicht mehr in bis zu 60 Prozent der Fälle auf, sondern nur noch bei rund 2 Prozent. Was bemerkenswert klingt, ignoriert den Fortschritt der letzten Jahre beim Crispr-Verfahren, meint Heckl: "In das reguläre CRISPR-Cas9-System wurde bereits viel Arbeit investiert, um es sicherer zu machen. Die Häufigkeit der off-target-edits wurde auch hier drastisch reduziert".

"Die Frage ist nicht nur, ob ein Fehler auftritt, sondern auch wo." Prof. Dirk Heckl

Zudem gelten diese Zahlen zur Sicherheit des "prime editing" bislang nur für vier Szenarien in einem bestimmten Zelltyp und für bioinformatisch vorhergesagte Fehlerstellen. Wie sicher das Verfahren wirklich ist, darüber sagen Zahlen wenig aus. Zu groß ist die Blackbox der möglichen Nebenerscheinungen. "Die Frage ist nicht nur, ob ein Fehler auftritt, sondern auch wo", sagt Heckl. Ein Fehler im Erbgut kann überhaupt keine Folgen haben oder auch tödlich sein. "Dabei gibt es unterschiedliche Risikoebenen: die Zellebene, die Organebene, die Körperebene, das mentale Wohlbefinden des Patienten. Die sollten alle mit einbezogen werden", so Buyx.

Welcher Gendefekt rechtfertigt einen Eingriff?

Außerhalb der menschlichen Keimbahn, in einzelnen Zelltypen und Geweben von erwachsenen Patienten, wo gentechnische Veränderungen nicht vererbbar sind, ist Crispr bereits im Einsatz. In frühen klinischen Studien wird die Gentechnik-Methode beispielsweise zur Therapie verschiedener Krebsarten, der Bluterkrankung Beta Thalassämie und der Augenerkrankung LCA10 angewendet. "Bei jeder spezifischen Erkrankung wird die Last der Erkrankung für den Patienten gegen das Risiko der Behandlung abgewogen werden müssen", meint Heckl. Diese Abwägung werde genauso für die verschiedenen Methoden der Genomeditierung gelten, wie sie für heutige Krebstherapeutika gelte. Der Maßstab der akzeptierten Nebenwirkungen bei genetischen Verfahren sollte seiner Ansicht nach ähnlich angesetzt werden, wie bei anderen, regulären Medikamenten auch. "Für jede Erkrankung muss jedoch eine eigene ethische Beurteilung erfolgen", sagt Heckl. Buyx sieht das genauso: "In diesen Fällen unterscheiden sich die ethischen Risikoabwägungen von gentechnischen und anderen experimentellen Therapieverfahren nicht wesentlich." Grundsätzlich gehe jede Studie am Menschen zuvor durch eine Ethikkommission. Zumindest in der westlichen Welt gebe es dafür klare gesetzliche Vorgaben.

"Die Last der Erkrankung für den Patienten wird gegen das Risiko der Behandlung abgewogen werden müssen." Prof. Dirk Heckl

Die Entscheidung, welcher Gendefekt mit "prime editing" oder einem weiter verbesserten Gentechnik-Verfahren ausgetauscht werden soll und darf, möchte Heckl nicht fällen. Aus seiner Sicht sollte der Fokus zukünftiger Anwendungsgebiete der Gentherapie aber klar auf schweren, lebensbedrohlichen Erkrankungen liegen, auch wenn diese selten sind. "Der Eingriff in das menschliche Erbgut sollte nicht leichtfertig erfolgen. Dinge wie eine Gestaltung äußerer Merkmale sind für mich ethisch absolut ausgeschlossen." Bei prophylaktischen Behandlungen sei dagegen die Frage, wogegen? "In einem HIV-Ballungszentrum würde ich eine HIV-Prophylaxe für denkbar halten", so Heckl.

Für Buyx verändert sich die ethische Perspektive bei einem präventiven Eingriff.  Bei einer bislang gesunden Person mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, etwa an Krebs zu erkranken, gebe es oft alternative Behandlungen, bei denen das Verhältnis von Vorteilen und Risiken deutlich besser sei als bei der Gentherapie. "Am ethisch vertretbarsten ist eine somatische Gentherapie bei einer sehr schweren Erkrankung, die chronisch bleibt oder zum Tod führt, und für die es keine alternative Therapie gibt", so Buyx.

Gentechnische Versprechen halten der Realität nicht stand

Auch der chinesische Forscher He Jiankui setzte bei den durch ihn genetisch veränderten Zwillingen auf eine präventive Resistenz gegenüber dem Aids-Erreger HIV. Da er bei den Crispr-Babys jedoch in die menschliche Keimbahn eingriff, waren der gesellschaftliche Aufschrei und die wissenschaftliche Empörung groß. "Diese Veränderungen in Keimzellen oder frühen Embryonen erfassen den gesamten Organismus und werden weitervererbt. Das ist anders als Genverfahren in einzelnen Typen von Körperzellen von Erwachsenen", sagt Buyx. Die Folgen der vererblichen Genveränderung seien noch weniger absehbar und eine klinische Anwendung daher ethisch unverantwortlich, warnten Wissenschaftler und Ethiker weltweit.

Einige Monate nach Hes Youtube-Auftritt erschien eine Studie, wonach diese genetische Veränderung das Risiko erhöht, durch andere Krankheiten zu sterben. In den Manuskripten des chinesischen Forschers finden sich neuesten Berichten zufolge zudem kaum Belege für den Erfolg der HIV-Resistenz. Ein Experte, der die Manuskripte durchgesehen hatte, nennt Hes Behauptungen eine "absichtliche Täuschung". Der Deutsche Ethikrat stehe weiter zu seinem Moratorium für klinische Anwendungen in der Keimbahn; hinreichende Sicherheit und Wirksamkeit der Keimbahn-Therapie seien immer noch "meilenweit entfernt" und ethische Fragen müssten vorher geklärt werden, so Buyx. International arbeitet ein Expertengremium des WHO daran, globale ethische Standards für die Zukunft zu entwickeln.

Die Genomeditierung, egal ob mittels Crispr oder "prime editing", müsse an bestimmten Körperzellen durchgeführt werden – nicht in der Keimbahn, findet auch Heckl. In einigen Fällen würden diese Zellen dem Körper entnommen, in speziell zertifizierten Laboren verändert und dann wieder an den Patienten zurückgegeben. In anderen Fällen kämen die Veränderungen über virale Zulieferungssysteme in den Körper, ohne diesem Zellen zu entnehmen. "Während sich dies in Zukunft weiterentwickeln kann, reden wir aktuell von Behandlungen die mit hohem Aufwand und Kosten verbunden sind."

"Wir können mit weiteren Fortschritten rechnen"

Die Autoren der "prime editing"-Studie sagen selbst, dass noch viele weitere Experimente notwendig sind, um das System vollständig zu verstehen und zu verbessern. Dazu gehöre, weitere Zelllinien und Organismen zu testen, mögliche "off-target edits" genomweit – nicht nur an bereits bekannten Nebenschauplätzen – zu untersuchen und die Auswirkungen des Systems auf die Zelle an sich zu untersuchen, auch über das editierte Gen hinaus. "Bis man von einem Methodenpaper in Richtung Mensch gehen kann, muss man sehr, sehr viel Forschung in Zellkulturen, Tiermodellen und Embryonen betreiben", so Buyx. Die Forschung und deren Bewertung würden Jahre dauern. Die Embryonenforschung ist zudem in Deutschland verboten.

Eine 100prozentige Sicherheit der Genomeditierung wird es laut Heckl in keinem Fall geben. Er hält es aber für möglich, die Verfahren so weit zu verbessern, dass mit entsprechenden Untersuchungen alle unerwünschten Nebenwirkungen detektierbar sein werden. "Da unsere Zellen im Laufe des Lebens auch so Veränderungen anhäufen, wird es an einem gewissen Punkt schwierig werden, diese "natürlichen" Fehler von denen der Genomeditierung zu unterscheiden", sagt Heckl.  Auch Buyx ist der Ansicht: "Eine Restunsicherheit wird bleiben." Mit einem mündigen erwachsenen Patienten könne man diese aber besprechen. Zur Behandlung von Patienten werde man immer das präziseste Instrument nehmen, das derzeit verfügbar ist. Die Risiken versuchte man dabei, so gut es geht zu minimieren.

"Eine Restunsicherheit wird bleiben." Prof. Alena Buyx

Mit dem "prime editing" ist das gentechnische Portfolio nun um eine theoretische Behandlungsmöglichkeit reicher. "Die Weiterentwicklung des Crispr-Verfahrens zum "prime editing" zeigt, welche Dynamik in diesem Forschungsbereich besteht. Wir werden auch mit weiteren Fortschritten rechnen können", sagt Buyx. Aus der frühen Phase der aktuell etwa 40 weltweiten klinischen Studien, in denen somatische Gentherapien durchgeführt würden, müsse man nun lernen. Ihr zufolge sollte man auch auf mögliche Langzeiteffekte bei diesen Patienten achten und idealerweise "lebenslang" beobachten. "Es ist schließlich ein experimentelles Verfahren, auf das die ganze Welt schaut."