Studentische Hilfskräfte mit Atemmasken bei der Probennahme der Heinsberg-Studie
Oliver Thanscheidt

Heinsberg-Studie
Dunkelziffer wohl zehnmal höher als Zahl gemeldeter Infektionen

Der Kreis Heinsberg gilt als Epizentrum der Corona-Epidemie in Deutschland. Eine Studie hat die Ausbreitung vor Ort detailliert untersucht.

04.05.2020

In Deutschland könnten sich nach Ergebnissen der sogenannten Heinsberg-Studie mittlerweile möglicherweise 1,8 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben. Dies ergebe eine Schätzung auf der Grundlage einer Modellrechnung, teilte die Universität Bonn am Montag mit. Die Forschenden um den Virologen Professor Hendrik Streeck und den Mediziner Professor Gunther Hartmann haben in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg die Dunkelziffer der Infizierten und die dort errechnete Sterblichkeitsrate bei einer Corona-Infektion genau bestimmt. Daraus errechneten sie eine theoretische Zahl für Deutschland.

In Gangelt haben sich Streeck zufolge 15 Prozent der Einwohner mit dem Virus infiziert. Der Abgleich dieser Zahl mit der Zahl der offiziell gemeldeten Infizierten führe zur sogenannten Dunkelziffer. Diese sei in Gangelt rund fünffach höher als die offiziell berichtete Zahl der positiv getesteten Personen. Gestorben seien in Gangelt 0,37 Prozent aller Infizierten, inklusive der so ermittelten Dunkelziffer. Unter Annahme dieser Sterblichkeitsrate für ganz Deutschland, ergäbe sich aus der Zahl der Verstorbenen eine geschätzte Gesamtzahl von rund 1,8 Millionen Infizierten. Das entspräche einer Dunkelziffer, die zehnmal höher ist als die Gesamtzahl der offiziell gemeldeten Fälle in Deutschland.

Auch die Symptome und das Infektionsrisiko haben die Forschenden vor Ort untersucht. "Die Infektionsraten sind bei Kindern, Erwachsenen und Älteren sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab", sagte Streeck. Es gebe auch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Der auffälligste Symptomkomplex sei der bereits zuvor beschriebene Geruchs-und Geschmacksverlust bei Infizierten gewesen. Zudem zeigten 22 Prozent aller Infizierten in Gangelt gar keine Symptome. Das Risiko, an einer Infektion mit dem Virus zu sterben, hängt ersten Obduktionen zufolge stark von den Vorerkrankungen der Patientinnen und Patienten ab.

Die Ortschaft gilt als Epizentrum der Ausbreitung des neuen Coronavirus in Deutschland, weil sich nach einer Karnevalssitzung Mitte Februar viele Bürgerinnen und Bürger infiziert hatten. Sechs Wochen nach dem Ausbruch der Infektion hat das Forscherteam um Streeck dort 919 Einwohner in 415 Haushalten befragt und Corona-Tests an Blutproben und Rachenabstrichen vorgenommen. Die Situation in Gangelt ist nur bedingt vergleichbar mit anderen Regionen Deutschlands. Darauf weisen die Forscher in ihrer Studie auch hin.
 
"Welche Schlüsse aus den Studienergebnissen gezogen werden, hängt von vielen Faktoren ab, die über eine rein wissenschaftliche Betrachtung hinausgehen", sagte Streeck. "Die Bewertung der Erkenntnisse und die Schlussfolgerungen für konkrete Entscheidungen obliegen der Gesellschaft und der Politik." Die Studie war im Auftrag der NRW-Landesregierung entstanden. Die Ergebnisse der Studie seien nach den derzeit gängigen Publikationsregeln vorab veröffentlicht worden und würden nun im Peer-Review-Verfahren begutachtet.

ckr/dpa