Grafik zeigt drei Varianten eines Coronavirus
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Covid-19
"Was uns fehlt, ist Zeit"

Hendrik Streeck hat die Corona-Pandemie von Anfang an begleitet und vor Ort untersucht. Hier berichtet er von deren Verlauf und seinen Ergebnissen.

Von Claudia Krapp 02.04.2020

Forschung & Lehre: Herr Professor Streeck, Sie sind in erster Linie HIV-Forscher. Arbeiten Sie aktuell selbst mit dem Coronavirus?

Hendrik Streeck: In Bonn arbeiten wir an der präventiven Forschung zu verschiedenen Viren, also an Therapeutika und Impfstoffen. Das sind eigentlich vor allem Retro-Viren, Flavi-Viren und Adena-Viren. Seit der Ausbreitung des neuen Coronavirus Sars-CoV-2 sind wir am Institut jedoch dazu übergegangen, vorübergehend alle ausschließlich an diesem Virus zu forschen. Diesen Beschluss habe ich als Direktor gefasst, als die ersten nachgewiesenen Fälle in den USA auftraten, noch vor den ersten Fällen in Deutschland. Der gesellschaftliche Auftrag der Wissenschaft ist es in der gegenwärtigen Situation, schnell Antworten darauf zu finden, wie sich die Ausbreitung von Sars2 eindämmen lässt.

Hendrik Streeck ist Professor für Virologie und seit Oktober 2019 Direktor des Instituts für Virologie und Ko-Direktor des Deutschen Zentrums für HIV & AIDS der Uniklinik Bonn, die Teil des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) sind. privat

F&L: Diese Dringlichkeit haben auch die Gesundheitsbehörden weltweit seit Beginn des Ausbruchs in China immer wieder betont. Warum ist das Virus für den Menschen so gefährlich?

Hendrik Streeck: Das neue Coronavirus ist zu 80 Prozent verwandt mit Sars, was in der letzten Epidemie 2002/2003 eine hohe Todesfallrate von fast zehn Prozent hatte. Zu Beginn der Pandemie war zu befürchten, dass die Sterblichkeit bei Sars2 ähnlich hoch sein könnte. Zudem haben wir eine unheimlich schnelle Verbreitung gesehen. Hinzu kommt, dass das menschliche Immunsystem das neue Virus nicht kennt und komplett naiv darauf reagiert. Dadurch sehen wir viel häufiger schwere Krankheitsverläufe als bei bereits für den Menschen bekannte Viren. Diese Aspekte machen das neue Virus zu einer ernstzunehmenden Angelegenheit. Inzwischen wissen wir zwar, dass die Todesrate deutlich niedriger liegt als bei Sars, aber das ist kein Grund, die Ausbreitung von Sars2 zu bagatellisieren. Die Entwicklung der letzten Wochen in Europa gibt uns damit Recht.

F&L: Welche Fragen sind Sie in Bonn zuerst angegangen?

Hendrik Streeck: Zum Beispiel sind wir in das nahegelegene Heinsberg gefahren, als dort die Fallzahlen stiegen. Die örtlichen Gesundheitsbehörden hatten uns um Hilfe bei der Diagnostik gebeten. Da traten Fragen zu den Verbreitungswegen auf, wer wen wie und wann infizieren kann. Wir haben uns dafür mit Bonner Mitarbeitern der Inneren Medizin und der Hygiene zusammengetan und gemeinsam in den Häusern der Infizierten systematisch Proben genommen, beispielsweise aus der Luft und von den Toiletten. Wir haben auch Blutproben und Abstriche von Rachen und Analregion der Patienten und deren Haustiere genommen. Damit haben wir getestet, wie das Immunsystem der Infizierten reagiert. Zudem haben wir häufige Symptome und deren Stärke systematisch erfragt. Daraus konnten wir neue Erkenntnisse ableiten, die über die bereits in einer chinesischen Studie beschriebenen häufigsten Symptome – trockener Husten und eventuell Fieber – hinausgehen. Unseren Untersuchungen nach sind die häufigsten Symptome in milden Krankheitsverläufen ein trockener Husten sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Etwa jeder Dritte der untersuchten Patienten verlor in Heinsberg über zwei bis drei Tage den Geruchs- und Geschmackssinn. Ebenfalls jeder Dritte der Infizierten hatte Durchfall. Das ist häufiger als bislang angenommen.

"Diese Symptome scheinen sehr typisch für eine Sars2-Infektion zu sein."

F&L: Bisher waren die Symptome einer Sars2-Erkrankung auch für andere Erkrankungen wie grippaler Infekt typisch. Treten die neu beschriebenen Symptome nur bei Sars2 auf?

Hendrik Streeck: Diese Symptome scheinen sehr typisch für eine Sars2-Infektion zu sein. Sie treten nämlich auch auf, wenn keine anderen Symptome vorliegen, also auch kein Schnupfen. Wir nehmen aber an, dass der Geruchs- und Geschmacksverlust gegen Ende der Erkrankung auftreten und eher dafür sprechen, dass es eine abklingende Infektion ist.

F&L: Die Laborkapazitäten für den genetischen PCR-Test auf eine Infektion mit Sars2 sind trotz zahlreicher Testzentren mancherorts ausgeschöpft, es kommt zu Wartezeiten auf Ergebnisse. Gibt es keinen schnelleren Test?

Hendrik Streeck: Doch, es gibt einen immunologischen Antikörper-Schnelltest auf Sars2, der mit etwas Blut aus der Fingerkuppe funktioniert und sofort und innerhalb von 15 Minuten durchgeführt werden kann. Ein Farbumschlag zeigt das Ergebnis. In Heinsberg haben wir geprüft, wie verlässlich dieser Test im Vergleich zum genetischen PCR-Test ist. Dabei kam leider heraus, dass der Schnelltest eine sehr schlechte Sensitivität von unter 40 Prozent hat, das heißt über 60 Prozent der Infektionen bleiben damit unerkannt. Die Spezifität des Tests ist hingegen sehr hoch, so dass ein positiver Test in jedem Fall eine Infektion mit dem neuen Coronavirus beschreibt. Vorerst bleibt der genetische Test, der im Labor mehrere Stunden dauert, notwendig, um eine Infektion sicher zu bestätigen.

F&L: Wie werden Patienten, die mit Coronaviren infiziert sind, bisher behandelt?

Hendrik Streeck: Die meisten wissen gar nicht, dass sie mit einem Coronavirus infiziert sind. Die Symptome sind eher mild. Die Infizierten werden rein symptomatisch behandelt, Medikamente gezielt gegen die Viren gibt es noch nicht. Das gilt nicht nur für Sars2, sondern für alle Coronaviren. Nur dass bei Sars2 nun drängender geforscht wird, weil die Infektions- und Sterberaten höher sind als bei den anderen Coronaviren.

F&L: Welche Medikamente werden derzeit gegen Sars-CoV-2 getestet?

Hendrik Streeck: Von dem Sars-Virus weiß man, dass vorhandene Ebola-, HIV- und Hepatitis C-Medikamente theoretisch auch gegen das neue Sars2 wirken könnten. Es gibt außerdem Hinweise, dass das Malaria-Mittel Chloroquin wirken könnte. Diese für andere Krankheiten zugelassenen Medikamente sind in China und den USA derzeit in der klinischen Erprobung für die Off-Label-Anwendung gegen Sars2.

"Langfristig lässt sich die Verbreitung eines Virus nur durch Impfstoffe verhindern."

F&L: All diese Mittel werden, sollten sie wirken, flächendeckend schneller gegen das neue Virus verfügbar sein als ein Impfstoff. Warum ist ein Impfstoff dennoch unverzichtbar?

Hendrik Streeck: Es ist bisher noch nie gelungen, irgendeine Infektionskrankheit des Menschen alleine durch Medikamente einzudämmen. Das sieht man beispielsweise an Syphilis und Malaria. Außerdem könnten mit Sars2 Infizierte nicht schnell genug mit den Medikamenten behandelt werden, um eine weitere Verbreitung zu verhindern. Bis Symptome und ein Testergebnis vorliegen, haben Infizierte bereits andere Menschen angesteckt. Langfristig lässt sich die Verbreitung eines Virus daher nur durch Impfstoffe verhindern. Hier wäre es wünschenswert, direkt einen universellen Impfstoff gegen alle Coronaviren zu haben, nicht nur gegen Sars2.

F&L: Wie weit ist die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Sars2 bereits?

Hendrik Streeck: In der Bonner Virologie sind wir derzeit beim Aufbau der Versuchsreihen, etwa bestimmte Mausmodelle einsatzbereit zu machen. Weltweit sind aktuell alle großen Player in der Impfstoff-Entwicklung dabei, daran zu forschen. Bis ein Impfstoff für alle bereitsteht, wird es jedoch noch einige Monate dauern. Sars2 ist eines der größten humanpathogenen Viren, unter den bekannten RNA-Viren hat es das größte Genom. Das erschwert die Impfstoff-Entwicklung insofern, dass man nicht mit dem gesamten Virus, sondern nur mit Teilen davon arbeiten kann. Wir Virologen müssen dabei die pathogenen Aspekte des Virus identifizieren, die eine gute Immunantwort auslösen. Gegen die in Deutschland heimischen Coronaviren allgemein gibt es zudem bisher keine langfristig schützende Immunität. Wenn man also einmal infiziert war, heißt es nicht, dass man sich in zwei Jahren nicht nochmal infizieren kann. Naheliegende Vorbilder für einen neuen Impfstoff gegen Sars2 gibt es daher nur bedingt.

F&L: Wird uns das neue Virus also ohne einen Impfstoff erhalten bleiben?

Hendrik Streeck: Das neue Coronavirus wird sehr wahrscheinlich bei uns heimisch werden. Es wäre das fünfte Coronavirus, das in Deutschland regelmäßig in Wellen auftritt. Von den sieben Coronaviren, die den Menschen prinzipiell befallen können, sind vier bereits in Deutschland vorhanden und treten vor allem in den Herbst- und Wintermonaten auf, nur vereinzelt auch im Sommer. Es ist davon auszugehen, dass das neue Coronavirus sich ähnlich einnisten wird.

"Das neue Coronavirus wird sehr wahrscheinlich bei uns heimisch werden."

F&L: Arbeitet die virologische Forschung derzeit anders als ohne die gesellschaftliche Dringlichkeit?

Hendrik Streeck: Mein Eindruck ist, dass weltweit sehr viele virologische Institute ihre Arbeit kurzfristig auf Coronaviren umgestellt haben. Auch die Ergebnisse publizieren wir und viele andere derzeit deutlich schneller und auf offenen Plattformen für alle einsehbar. Der Austausch untereinander funktioniert hier prinzipiell sehr gut, Informationen werden schnell per Mail geteilt. Beispielsweise hat das Labor in Melbourne, das das Virus als erste Einrichtung für Tests angezüchtet hat, mit uns ihr Protokoll dafür geteilt.

F&L: Die Politik hat in der Pandemie drastische Maßnahmen ergriffen. Sind diese ihrer Ansicht nach gerechtfertigt und ausreichend?

Hendrik Streeck: Die Maßnahmen sind durchaus gerechtfertigt. Zwar verläuft die Erkrankung mit Sars2 in den allermeisten Fällen sehr mild und stellt für die meisten kein akutes gesundheitliches Problem dar. Es geht in der aktuellen Situation aber nicht um die gesundheitlich Starken, sondern um Solidarität mit den Vorerkrankten und Gebrechlichen, deren Immunsystem geschwächt ist. Diese müssen wir vor dem Virus bewahren, indem wir auf Sozialkontakte verzichten. Die Bundesregierung hat bei der Ausbreitung des Virus in Deutschland prinzipiell gut reagiert und die Maßnahmen situativ gut angepasst. Die Koordination auf Ebene der Bundesländer war jedoch eher schlecht. Außerdem fehlten seitens des Robert-Koch-Institut konkrete praktische Vorgaben, wie die Gesundheitsämter vorgehen sollen. Da gab es theoretische Pläne, die aber der Situation vor Ort, wie etwa in Heinsberg, nicht angepasst wurden. Die Eindämmung war dadurch nicht so effektiv, wie sie hätte sein können. Außerdem gab es in Deutschland kein Zentrallager von wichtigen medizinischen Gebrauchsgegenständen wie Schutzausrüstung, Abstrichsmaterialien, Chemikalien und biologischem Material für die Tests. Hier hat sich gezeigt, wie abhängig Deutschland von anderen Ländern ist.

F&L: Welche Konsequenzen sollten daraus für unser Gesundheitssystem gezogen werden?

Hendrik Streeck: Auf der Personalseite sind wir erstmal sehr gut ausgestattet. Wir haben hervorragende Intensivmediziner, Pulmonologen, Innere Mediziner, Hygieniker und Virologen, die sich seit langem mit exakt diesen Fragestellungen beschäftigen. Die Koordination und Abstimmung unter diesen Personalgruppen funktioniert hier im deutschen Gesundheitssystem sehr gut. Die Expertise wird gegenseitig in der Behandlung und Eindämmung berücksichtigt. Auch die Allgemeinärzte sind meines Erachtens gut geschult und vorbereitet. Was diesem Personal jedoch fehlt, ist teils die Ausrüstung und vor allem Zeit. Daher müssen wir unbedingt weiter die Zahl der Infizierten und schwer Erkrankten eindämmen, um jedem Patienten eine optimale Behandlung gewährleisten zu können. Was Deutschland auch fehlt ist eine zentrale Koordination in solchen Fällen, Zusammenschlüsse und Plattformen, über die sich die Institute vernetzen können, und Einsatzteams, die ein Ausbruchsgeschehen besser verstehen wollen. Hier muss nachgerüstet werden.

"Der Verlauf der Pandemie lässt sich nicht seriös vorhersagen."

F&L: Woher wissen wir, wann die getroffenen Maßnahmen zurückgefahren werden können?

Hendrik Streeck: Der Verlauf der Pandemie lässt sich nicht seriös vorhersagen, dazu gibt es nur Vermutungen und Annahmen. Erst wenn die Zahlen der Infizierten zurückgehen, wissen wir, dass die Maßnahmen greifen und ein Peak erreicht ist. Danach muss man mit angezogener Handbremse weiterfahren. Bei manchen Maßnahmen, wie etwa virtuellen Meetings, sollte man sich dann fragen, ob man sie nicht dauerhaft beibehält. Drastische Maßnahmen, wie der Verzicht auf Sozialkontakte und geschlossene Einrichtungen, können dann wieder zurückgefahren werden. Das werden aber immer individuelle Entscheidungen sein, je nach Effekt.

F&L: Können Sie sich vorstellen, dass an den Hochschulen ein ganzes Semester ausfällt oder die Hochschulen länger geschlossen bleiben?

Hendrik Streeck: Das wären meines Erachtens zu pauschale Lösungen und zu drastische Maßnahmen. Stattdessen sollte man kreative Lösungen finden, die die Zahl der Kontakte reduzieren. Beispielsweise könnten Studierende abwechselnd zu Vorlesungen vor Ort kommen und virtuelle Vorlesungen besuchen. Eventuell haben sich im Krisenmodus auch Regelungen aus anderen Bereichen als nützlich erwiesen, die dauerhaft beibehalten oder auf Hochschulen übertragen werden könnten. Die Digitalisierung wird uns dabei sicher helfen. Das ist jetzt eine echte Chance, diese voranzutreiben. Zu einer Infektion, egal mit welchem kursierenden Virus, kommt es grundsätzlich, wenn viele Menschen für längere Zeit auf engem Raum sind. Hier kann man also entweder die Zahl der Menschen reduzieren oder die Dauer des Kontakts.