Eine Frau mit einem roten Schirm springt über die runden Metallplatten vor dem Europäischen Patentamt, ein großes, graues Bürogebäude.
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Innovationsfähigkeit
Forschung hat nichts von ihrer Innovationskraft verloren

Eine Studie aus 2023 stellt fest, das Wissenschafts- und Innovationssystem sei seltener schöpferisch. Forschende der Uni Basel widerlegen dies.

16.04.2024

Die Entdeckung der mRNA in den 1960er Jahren war bahnbrechend. Plötzlich gab es ganz neue Erkenntnisse, die neue Entwicklungen einleiteten. So etwas wird als "disruptiv" bezeichnet. "Konsolidierend" sind Forschungsergebnisse dagegen, wenn sie auf bestehendem Wissen aufbauen. Was auch wichtig ist, wie das Beispiel mRNA-Impfstoffe zeigt: Sie halfen, die Covid-19-Pandemie zu bewältigen – aber ohne die vorherige Grundlagenarbeit zur mRNA hätte es sie nicht gegeben. 

Es braucht also beides, disruptiv und konsolidierend. Jedoch sei ihr Verhältnis nicht mehr ausgewogen, so eine 2023 im Fachblatt "Nature" veröffentlichte Studie. Danach bringt das Wissenschafts- und Innovationssystem immer seltener Bahnbrechendes hervor. 

Der Zitatefluss als Indikator für "Schöpfungshöhe"

US-Forscher hatten Millionen wissenschaftliche Publikationen aus den Jahren 1945-2010 und Patente aus den Jahren 1976-2010 mittels CD-Index analysiert. Dieser Index vergibt Werte zwischen 1 (total disruptiv) und -1 (total konsolidierend). Die Bewertung beruht darauf, wie stark eine bestimmte wissenschaftliche Arbeit gemeinsam mit anderen vorangegangenen Arbeiten zitiert wird. 

Für ein Patent etwa bedeutet das folgendes: Zitieren Nachfolgepatente nur dieses Patent – nennen wir es Patent C –, nicht aber dem Patent C vorangegangene Patente, wird Patent C als disruptiv eingestuft – es steht sozusagen am Beginn eines Zitateflusses. Zur Kategorie konsolidierend gehört das fragliche Patent C dagegen, wenn Nachfolgepatente (D, E, F) auch vorangegangene Patente (A, B) zitieren. Dann ist Patent C nichts ganz Neues. 

Künstlich disruptiv gemacht 

Mit dem Ergebnis, dass disruptive Forschung stark abgenommen habe, stellte die Nature-Studie des US-Forschungsteams die Innovationsfähigkeit des gesamten wissenschaftlichen Systems in Frage: "Wir stellen fest, dass Papiere und Patente immer seltener mit der Vergangenheit brechen, und zwar auf eine Weise, die Wissenschaft und Technologie in neue Richtungen treibt. Dieses Muster gilt universell für alle Felder und ist robust für mehrere verschiedene zitations- und textbasierte Metriken."

Zwei Forscher der Universität Basel, Dr. Christian Rutzer vom Center for International Economics and Business (CIEB) und der Ökonom Prof. Dr. Rolf Weder, waren von Anfang an skeptisch, überprüften die Berechnungen und fanden einen gravierenden Messfehler. Zusammen mit Prof. Dr. Jeffrey Macher (Georgetown University), der im Frühjahr 2023 Gastprofessor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät war, begannen sie ihre eigene Analyse für Patente. Diese wurde kürzlich von der Zeitschrift Research Policy veröffentlicht. 

Worin der Messfehler bei der Nature-Studie lag? Diese bezog nur Zitierungen zu Patenten ab 1976 mit ein und ignorierte alle Zitierungen zu davor veröffentlichten Patenten. "Diese zeitliche Einschränkung beeinflusst die Ergebnisse stark", so Christian Rutzer. "Denn die meisten Patente aus den frühen 1980er Jahren zitieren Patente, die vor 1976 veröffentlicht wurden. Schneidet man diese Zitate weg, werden viele dieser Patente disruptiv. Aber nicht, weil sie es wirklich sind, sondern weil viele Zitate zu den Vorgängerpatenten unberücksichtigt bleiben." 

Später, in den 1990er Jahren, gibt es bei Patenten dann immer weniger Zitierungen aus der Zeit vor 1976. Damit sinkt auch die Zahl fälschlicherweise als disruptiv eingestufter Patente. Ab 2005 geht der Messfehler gegen Null. 

Fehlerkorrektur einer Messverzerrung

Dass die zeitliche Einschränkung das Ergebnis enorm verzerrt, beweisen Macher, Rutzer und Weder, indem sie bei ihren eigenen Berechnungen auch Zitierungen von Patenten aus der Zeit vor 1976 berücksichtigten. Prompt änderten sich die Werte: Die durchschnittliche Disruptivität der Patente im Jahr 1980 lag nicht mehr bei 0,39 wie bei der Nature-Studie, sondern viel niedriger bei 0,09. Und sank danach nur geringfügig auf 0,04 im Jahr 2005. Zudem zeigen die Autoren, dass die Zahl stark disruptiver Patente langfristig sogar zugenommen hat. 

Co-Autor Rolf Weder ordnet die Korrektur der Nature-Studie so ein: "Wissenschaftliche Arbeiten beinhalten immer mal Fehler oder einseitige Interpretationen. Wichtig ist es, dass eine gerechtfertigte Kritik rasch publiziert wird. So wie bei unserer Arbeit." Das zeige, dass die Selbstkontrolle der Wissenschaft funktioniert.

cva