Betende Hände eines katholischen Priesters
mauritius images / Loop Images / John Greim

Religionssoziologie
Nun sag, wie hast du's mit der Religion?

Die Säkularisierung nimmt in vormals ausgeprägt christlichen Ländern zu. Parallel ist ein Trend zum Glauben an eine "höhere Macht" zu verzeichnen.

24.05.2022

Die Säkularisierung hat neuen religionssoziologischen Forschungen zufolge in den vergangenen zehn Jahren auch in bisher stark christlich geprägten Staaten rapide zugenommen, etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika, Italien und Polen. Zu diesem Schluss kommen Professor Detlef Pollack vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster und sein Fachkollege Dr. Gergely Rosta in einem neuaufgelegten Fachbuch.

Die Autoren sehen die Säkularisierungstheorie, nach der Modernisierung zum Bedeutungsverlust von Religion führt, durch viele Befunde bestätigt. In allen untersuchten Ländern gehe die Religiosität aus ähnlichen Gründe zurück: Die zunehmende Individualisierung, ein wachsendes Wohlstandsniveau, ein breites Konsum- und Freizeitangebot und ein hohes Maß an weltanschaulicher Vielfalt sorgten für ihren Rückgang.

Glaube an "höhere Macht" weit verbreitet

"Auch die Entwicklung hin zu einer individuellen Religiosität bestätigt den Trend, der nun selbst die USA umfasst – bisher oft ein Paradebeispiel für das Zusammengehen von Modernität und Religiosität", so Pollack. Das Bild eines säkularen Europas auf der einen und den tiefreligiösen Vereinigten Staaten von Amerika auf der anderen Seite bedürfe der Revision. Gerade in Westeuropa glaubten mehr Menschen an eine undefinierte "höhere Macht" als an einen persönlichen Gott, wie der Soziologe darlegt. "Dieser unkonkrete Glaube hat im Unterschied zum personalen Gottesglauben kaum Einfluss auf die Kindererziehung oder politische Einstellungen."

Allerdings müsse die Säkularisierungstheorie auch durch andere Ansätze ergänzt werden, um regional zu beobachtende religiöse Aufschwünge wie etwa in Russland einzuordnen.

Die Forschenden beschreiben die verschiedenen Funktionen, die Gläubigkeit im gesellschaftlichen Kontext einnehmen kann. Wenn sich religiöse Identitäten etwa mit politischen, wirtschaftlichen oder nationalen Interessen verbänden, aktuell beispielsweise in Russland, trage dies meist zur Stärkung von Religion und Kirche bei. Würden diese mit religiösen Mitteln verfolgten politischen, wirtschaftlichen oder nationalen Ziele erreicht, sänke die Religiosität wieder.

Rituale stärken die Gläubigkeit, Zwang ist jedoch schädlich

Dem festegestellten schwindenden Gottesglauben gehe oft ein Rückgang gemeinschaftlicher Rituale voraus, die den Glauben stärkten, etwa der Gottesdienstbesuch oder das Tischgebet. Diese verlören heute immer mehr an Relevanz, da mehr Verwirklichungsmöglichkeiten in Beruf und Freizeit bestünden. Je mehr Alternativen zur religiösen Lebensgestaltung existierten, desto mehr verschiebe sich die Aufmerksamkeit von religiösen zu säkularen Praktiken.

Kleine Religionsgemeinschaften profitierten von Konflikten mit der Mehrheitsgesellschaft, besonders wenn sie auch nichtreligiöse Interessen vertreten. Als Beispiel nennen die Autoren evangelikale und pfingstlerische Gruppen in den Vereinigten Staaten von Amerika, die sich etwa über ihre Einstellungen zu Abtreibung und Homosexualität von der übrigen Gesellschaft abgrenzten. Für die Mitglieder hätten die Konflikte einen identitätsstiftenden Effekt.

Äußerer religiöser Zwang behindere die Verinnerlichung des Glaubens, wenn er zu dominant werde. Zunächst fördere eine gesellschaftliche Einbettung der Religion die Religiosität. Wenn das Individuum allerdings kaum persönlichen Spielraum besitze, verkehre sich dieser Effekt in sein Gegenteil und die Gläubigkeit lasse nach.

Diese und weitere Ergebnisse haben Pollack und Rosta in der überarbeiteten Neuauflage des Standardwerks "Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich" (Erstveröffentlichung 2015) publiziert. Die Forscher stellen darin Fallstudien für Italien, die Niederlande, Ost- und Westdeutschland, Polen, Russland, die USA, Südkorea und Brasilien vor und ziehen Schlussfolgerungen aus dem Vergleich zwischen Ost- und Westeuropa, den USA, asiatischen und südamerikanischen Ländern. Die Autoren zeichnen den religiösen Wandel in verschiedenen Gesellschaften nach – islamisch geprägte Länder und der afrikanische Kontinent bleiben dabei außen vor, auch weil die Datenlage laut Pollack dazu nicht ausreichend gewesen sei. Zum Islam enthält das Buch ein Kapitel zur Religiosität von Musliminnen und Muslimen in Deutschland.

cpy