Illustration des Mikrobioms: Mikroorganismen im Inneren des Darms
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Mikrobiomforschung
Unsere Bewohner, die Mikroben

Der menschliche Körper wird von Billionen Bakterien bevölkert, vor allem im Darm. Was ist über das Mikrobiom bekannt? Wie wirkt es auf die Gesundheit?

Von Stefan Jordan 27.04.2023

Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden Bakterien vorwiegend mit Schmutz und Krankheit assoziiert. Doch dieses Bild hat sich dank der rasanten Entwicklung moderner molekularbiologischer Methoden, durch welche sich Bakterien anhand von Abschnitten ihres Erbguts ultraschnell und preisgünstig bestimmen lassen, drastisch geändert: Der Mensch ist ein Superorganismus, also ein System, das aus dem Menschen als Wirt und einem ganzen Universum von Mikroorganismen, auch Mikroben genannt, als Bewohnern besteht. Wir beherbergen Billionen dieser winzigen, meist einzelligen Lebewesen, die unsere Haut besiedeln, unsere Schleimhäute besetzen und sich in unserem Darm tummeln. Die Zahlen sind erstaunlich: Allein der Darm wird schätzungsweise von 40 bis 100 Billionen Bakterien bevölkert, die etwa ein Kilogramm unseres Körpergewichts ausmachen. Die Anzahl der Bakterienzellen übersteigt diejenige unserer Körperzellen um das 1,3-fache. Neben Bakterien kommen noch weitere Mikroorganismen wie Viren, Parasiten, Pilze und Archäen (urtümliche Einzeller) hinzu.

"Wir beherbergen Billionen von Mikroorganismen, die unsere Haut besiedeln, unsere Schleimhäute besetzen und sich in unserem Darm tummeln."

Beim gesunden Menschen bilden diese Mikroorganismen – die zusammengefasst als unser "Mikrobiom" bezeichnet werden – ein ausgeglichenes Ökosystem, das seinen Wirt mit wichtigen Stoffwechselprodukten versorgt und vor Krankheitskeimen schützt. Im Gegenzug stellen wir unseren Bewohnern Nahrung, Wärme und einen geschützten Lebensraum zur Verfügung. So hat sich seit Millionen von Jahren ein vorteilhaftes Miteinander zwischen Mensch und Mikroben entwickelt, das allerdings durch unsere moderne Lebensweise aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Welche Funktion die Bakterien in unserem Darm haben

Etwa 99 Prozent unserer Bakterien leben im Dickdarm. Wie in einem Bioreaktor spalten sie hier mit ihren Enzymen Nahrungsreste, die den Dünndarm unverdaut passiert haben. Das beste Futter für unsere Darmbakterien sind Ballaststoffe, das heißt Pflanzenfasern, die der Mensch mit seiner sehr begrenzten Enzymausstattung nicht selbst verdauen kann. Aus diesem Material gewinnen die Bakterien Energie. Dabei setzen sie als Abfallprodukte unter anderem kurzkettige Fettsäuren wie Essig-, Butter- und Propionsäure frei, die dem Körper als Brennstoff dienen können.

Eine weitere wichtige Funktion der kurzkettigen Fettsäuren ist ihr Einfluss auf das Immunsystem. Unter ihrer Einwirkung entwickeln sich Immunzellen, die eine dämpfende Wirkung auf Entzündungsvorgänge haben. Diesen sogenannten "regulatorischen T-Zellen" ist es zu verdanken, dass körperfremde Stoffe aus der Nahrung in der Regel keine Abwehrreaktion des Immunsystems hervorrufen. Ohne diese "orale Toleranz" wäre das Immunsystem in ständigem Aufruhr. Die Wirkung dieser Immunbremse durch regulatorische T-Zellen reicht so weit, dass auch Entzündungsvorgänge abseits des Darms abgemildert werden. So beugt eine gesunde Darmflora nicht nur Darmentzündungen und Zöliakie vor, sondern auch Typ I Diabetes, Multiple Sklerose, Schuppenflechte und Asthma.

Wie unser inneres Ökosystem die Gesundheit fördern kann

Neben den kurzkettigen Fettsäuren produzieren die Bakterien des Mikrobioms aber auch noch viele andere hochaktive Moleküle, die auf verschiedenste Weise den Körper beeinflussen können, darunter Vitamine und Bausteine für Neurotransmitter, also Botenstoffe des Nervensystems. Ob unsere Bakterien somit Einfluss auf unsere Stimmungen, Appetit und soziales Verhalten nehmen können, wird gegenwärtig intensiv erforscht. Auch verändern manche Bakterien die Substanz Carnitin, die in rotem Fleisch enthalten ist, zu einem Produkt, welches letztendlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen fördert. Dieser Vorgang kann jedoch durch Olivenöl neutralisiert werden, wie es in der mediterranen Ernährung verwendet wird. Letzteres ist nur ein Beispiel dafür, wie Wechselwirkungen zwischen bestimmten Ernährungsweisen und unserem Mikrobiom unsere Gesundheit beeinflussen können – und ein kleiner Salat zum Steak schadet bestimmt nicht.

"Ob unsere Bakterien somit Einfluss auf unsere Stimmungen, Appetit und soziales Verhalten nehmen können, wird gegenwärtig intensiv erforscht."

Aufgrund seiner vielfältigen Wirkungen geht man davon aus, dass ein artenreiches, in sich austariertes Mikrobiom gesundheitsfördernde Wirkungen hat. Bei einer naturnahen Lebensweise ist die Lebensgemeinschaft im Darm sehr divers. So wurde gezeigt, dass Jäger und Sammler im südamerikanischen Urwald circa 60 Prozent mehr Bakterienarten in ihrem Darm beherbergen als Menschen in Industrieländern. Dies zeigt, dass unsere moderne Lebensweise anscheinend zu einem drastischen Artenverlust unseres inneren Ökosystems geführt hat. In gewisser Weise entspricht unser inneres Artensterben dem Biodiversitätsverlust in unserer äußeren Umwelt. Wie auch dort führt der Verlust von Arten zu Instabilität des Systems und zum Verlust von Funktionen. Die Folge kann sein, dass Immunantworten nicht mehr effizient reguliert werden und Entzündungskrankheiten entstehen.

"Westlicher Lebensstil" reduziert das Mikrobiom und fördert Krankheiten

Unser inneres Artensterben hängt wahrscheinlich mit den Veränderungen der Lebensbedingungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zusammen, unserem "westlichen Lebensstil". Seit den 1950er Jahren hat sich in den Industrieländern insbesondere die Ernährung stark verändert. Ein wichtiger Faktor scheinen die hoch verarbeiteten, industriell hergestellten Lebensmittel zu sein, die die Regale der Supermärkte erobert haben. Statt mit frischen Produkten selbst zu kochen, werden Fertigprodukte verwendet, die meist aus billigen Grundstoffen hergestellt und mit viel Zucker, Salz und gesättigten Fetten gaumenfreundlich gestaltet werden. Mittlerweile stammen in Deutschland etwa 45 Prozent der Kalorien aus Produkten wie Tiefkühlpizzas, Fertiggerichten, Softdrinks, Chips, Süßspeisen und preisgünstigen Backwaren. Die vorwiegende Verwendung dieser Produkte spart Zeit und oft auch Geld, ist aber nicht gesund. Durch die Art der Verarbeitung liegen Nährstoffe wie Zucker in sehr gut zugänglicher Form vor und werden bereits im Dünndarm weitgehend aufgenommen, so dass die Bakterien im Dickdarm hungern. Es fehlen die Ballaststoffe und zahlreiche Pflanzeninhaltsstoffe, aus denen die Bakterien nützliche Stoffwechselprodukte herstellen.

Hinzu kommt, dass den Schöpfungen der Lebensmittelindustrie häufig Substanzen beigemischt werden, welche die Verarbeitung erleichtern und die Haltbarkeit verlängern. Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang besonders der Emulgator Carboxymethylzellulose, der als E466 in Süßspeisen, Speiseeis, Mayonnaise und ähnlichen Produkten enthalten ist und zu Veränderungen des Mikrobioms und Darmentzündungen führen kann. Tatsächlich beobachtet man, dass bestimmte Entzündungskrankheiten mit den veränderten Ernährungsgewohnheiten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der westlichen Welt stark zugenommen haben und heutzutage als "Volkskrankheiten" bezeichnet werden. In Regionen wie China und den Ländern des globalen Südens, wo ein westlicher Ernährungsstil häufig auch als Statussymbol wirtschaftlichen Erfolgs auf dem Vormarsch ist, beobachtet man gegenwärtig einen starken Anstieg von Entzündungskrankheiten. Ernährungsbedingte "Volkskrankheiten" werden zu einer globalen Pandemie. Typischerweise sind diese Krankheiten mit einem gestörten, artenarmen Mikrobiom assoziiert.

"Typischerweise sind diese Krankheiten mit einem gestörten, artenarmen Mikrobiom assoziiert."

Aber auch der Mangel an Kontakt mit Umweltmikroben oder früher natürlicherweise in Lebensmitteln wie selbstgemachtem Joghurt, Sauermilch oder Sauerkraut vorkommenden Bakterien führt zu einem Schwund des Mikrobioms, da der Nachschub an Mikroben fehlt, die verloren gegangene Arten ersetzen könnten. Auch unsachgemäß angewendete (Hand-)Desinfektionsmittel und Antibiotika können jedes Mal einen Kahlschlag unseres inneren Ökosystems bewirken.

Länger leben dank gesunder Nahrung für Mensch und Mikrobiom

Diese neue Sicht auf das Mikrobiom zeigt, dass wir unserem zusätzlichen Organ weit mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, als bisher geschehen. Gesundheits- und Therapiekonzepte müssen das Wohlbefinden unserer Mikroben miteinbeziehen. Positiv ist, dass die Art der Ernährung großen Einfluss auf das Mikrobiom hat. Eine gesündere Ernährung fördert die Stabilität und Diversität unseres inneren Ökosystems. Dazu gehört die Vermeidung hoch verarbeiteter Lebensmittel zugunsten von frisch zubereiteten, ballaststoffreichen Speisen. Aber auch vermehrter Kontakt mit Natur, das heißt mit Boden, Haustieren und Pflanzen, reichert das Mikrobiom an. Eine solche Veränderung der Lebensweise zahlt sich aus: Sie wirkt nachgewiesenermaßen lebensverlängernd.

Zum Weiterlesen

Von Professor Richard Lucius (a.D.) der Humboldt-Universität zu Berlin ist kürzlich das Buch "Die Kraft unseres inneren Ökosystems" (Scorpio-Verlag) erschienen.