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Forschung
Psychische Leiden bei Männern

Männer bitten seltener um Hilfe als Frauen, auch bei psychischen Leiden. Das kann gravierende Folgen haben.

14.11.2023

Übermüdet, überlastet, erdrückt von angestautem Stress und gepeinigt durch unbewältigte Tiefs: Viele Männer in Deutschland haben psychische Probleme, ignorieren das aber und nehmen keine Hilfe in Anspruch, vermeldet die Deutsche Presse-Agentur (dpa).

"Krankheiten, insbesondere psychische, sind für viele nicht vereinbar mit dem klassischen Männlichkeitsideal", berichtet apl. Professor Anne-Maria Möller-Leimkühler vom Universitätsklinikum München gegenüber der dpa. Die Orientierung an traditionellen Männlichkeitsnormen, "also stark und erfolgreich zu sein, Probleme allein zu lösen, durchzuhalten und keine Gefühle zu zeigen", sei bei älteren Männern ausgeprägter als bei Jüngeren. Diese Haltung könne "sehr selbstschädigend" sein.

Viele Männer hätten aufgrund ihrer Sozialisation nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu ihrer Gefühlswelt, so die Professorin für Sozialwissenschaftliche Psychiatrie an der Ludwig-Maximilian-Universität (LMU) München. "Sie verdrängen und bagatellisieren ihre psychischen Probleme." Vor allem Depressionen würden oft als Ausdruck von persönlicher Schwäche und Versagen missverstanden. So mancher versuche, mit "männlichen Strategien" zu kompensieren, sagt Möller-Leimkühler weiter. "Also mehr Aggression und Wut, mehr Alkohol, mehr sozialer Rückzug, viel mehr Arbeit, viel mehr Sport, mehr Risikoverhalten und Flucht ins Virtuelle."

Psychische Erkrankungen sind alles andere als selten

Jeder vierte Erwachsene in Deutschland sei innerhalb eines Jahres von einer psychischen Erkrankung betroffen - etwa jede dritte Frau und jeder vierte bis fünfte Mann, wie Professor Anette Kersting von der Klinik für Psychosomatische Medizin am Uniklinikum Leipzig schildert. "Männer leiden häufiger an einem Substanzmissbrauch, also Abhängigkeit oder Missbrauch von Alkohol und Drogen." Dagegen werde eine Depression bei ihnen nur etwa halb so oft diagnostiziert wie bei Frauen.

Gerade bei Depressionen geht Möller-Leimkühler von einer hohen Dunkelziffer und Unterdiagnostizierung aus. Nicht erkannte Depressionen könnten folgenschwer sei: Erwerbsunfähigkeit, sozialer Abstieg, Vereinsamung, Angsterkrankungen, Diabetes, Schlaganfall, eine allgemein erhöhte Sterblichkeit. Und: "Die Suizidrate von Männern ist mindestens dreimal so hoch wie die von Frauen."

Spielt der Job eine zentrale Rolle? 

Generell treten psychische Störungen unabhängig vom Beruf auf, heißt es in Fachkreisen. Möller-Leimkühler weist gegenüber der dpa allerdings auf Risikoberufsgruppen mit einem hohen Männeranteil hin, in denen es häufiger als in der Allgemeinbevölkerung zu psychischen Störungen komme: Bundeswehr, Rettungswesen und auch Polizei. Belastungen könnten hier extrem und traumatisch sein, zugleich seien traditionelle Männlichkeitsnormen eher stark ausgeprägt. Als häufigste Störungen gelten hier Posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen.

Frauen könnten Symptome besser erkennen und benennen als Männer, sagt Kersting der dpa. "Wir sehen klare Geschlechtsunterschiede bei der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems. Die Hilfsangebote werden von Männern deutlich seltener genutzt." Unter Menschen mit psychischen Problemen sei ohnehin nur eine Minderheit in therapeutischer Behandlung - Männer dabei noch seltener als Frauen.

Der Mangel an Plätzen sei problematisch, betont auch Psychologe Sebastian Jakobi, der Unternehmen beim Arbeitsschutz berät. "Wer eine Psychotherapie braucht, befindet sich in einer geschwächten Lebenssituation und kann nicht viele Monate lang auf einen Therapieplatz warten." Dass es dabei anteilig wenig männliche Therapeuten gebe, falle hingegen weniger ins Gewicht. Das sei jedenfalls nicht der Grund dafür, dass Männer selten eine psychotherapeutische Praxis aufsuchten.

In den letzten Jahrzehnten habe das Klischee "ein Mann kennt keinen Schmerz" an Bedeutung verloren. Tendenziell sei der Rückgang gerade bei jüngeren Männern zu beobachten, so Jakobi. "Achtsamkeit, Reflexion, Hilfe aufzusuchen und anzunehmen, sind wichtige Gesundheitskompetenzen." Jakobi sieht einen Trend zur Ent-Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen. Es werde mehr Augenmerk auf psychische Faktoren gelegt, die Diagnostik sei besser geworden, auch bei der Ärzteschaft gebe es eine deutlich gesteigerte Sensibilisierung. Das Klischee des "starken Mannes" verliert an Bedeutung.

dpa