Das Bild zeigt eine diverse Gruppe von Forschenden im Labor.
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Interkulturelle Kompetenz
"Kein Richtig und Falsch, sondern nur ein Anders"

Interkulturelle Zusammenarbeit läuft selten ganz reibungslos. Die Ethnologin Dr. Ursula Bertels gibt Tipps für einen gelingenden Austausch.

Von Henrike Schwab 27.03.2024

Forschung & Lehre: Welche Rolle spielt interkulturelle Kompetenz in Forschung und Lehre in Deutschland?

Ursula Bertels: Auch an Hochschulen wird interkulturelle Kompetenz immer mehr als Schlüsselqualifikation eingestuft. Grundlage hierfür ist insbesondere die zunehmende Internationalisierung von Forschung und Lehre. Studien- und Forschungsaufenthalte an internationalen Partneruniversitäten, (Gast-)Forschende und -Dozierende aus unterschiedlichen Ländern sowie internationale Studierenden-Austauschprogramme prägen inzwischen den Alltag an der Hochschule. Das Arbeiten in einem multikulturellen Team ist daher sowohl für Studierende als auch Lehrende selbstverständlich geworden. Auch die Angestellten der Verwaltung haben durch die zunehmende Internationalisierung immer häufiger Kontakt mit Lehrenden und Studierenden unterschiedlicher Kulturen. Interkulturelle Kompetenz erleichtert somit das Arbeiten, Lehren und Studieren an der von Diversität geprägten Hochschule.

Das Porträtfoto zeigt die Ethnologin Ursula Bertels.
Die Ethnologin Dr. Ursula Bertels ist Vorstandsvorsitzende des Vereins „Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung (ESE)“ privat

F&L: Was sind typische Stolpersteine in der interkulturellen Kommunikation? 

Ursula Bertels: Die Ursachen für Missverständnisse sind sehr vielfältig und können oft sehr banal sein. Im interkulturellen Kontext muss man davon ausgehen, dass das Gegenüber alles anders sehen und machen kann, als man es selbst gewohnt ist. Ist Blickkontakt normal oder wird dieser als unhöflich und respektlos eingestuft? Kann ein Handout einfach auf den Tisch gelegt werden oder muss es den Teilnehmenden persönlich übergeben werden? Welche Kleidung ist für ein Referat oder einen Vortrag angemessen? Ist das Klopfen auf den Tisch nach einem Vortrag ein Zeichen für Beifall oder für Protest?

Im Hochschulkontext ist sicherlich auch Sprache eine wichtige Kategorie für Missverständnisse. Oft wird unterschätzt, dass, wenn beide Gesprächspersonen Englisch nicht als Muttersprache haben, es durch ein unterschiedliches Verständnis von Begriffen zu Missverständnissen kommen kann. Dies gilt auch, wenn eine Person Deutsch als Fremdsprache gelernt hat. Was bedeutet der Wunsch "Schönen Feierabend", wenn es gar keine Feier gibt, und was ist ein "schwarzes Brett"? Diese Beispiele verdeutlichen, dass es immer wieder zu Missverständnissen im interkulturellen Kontext kommen wird, da die Denk- und Lebensweisen zu vielfältig sind und wir nicht alles über alle Denk- und Lebensweisen wissen können. 

Kulturspezifisches Wissen ist zwar hilfreich, aber nur begrenzt erlernbar. Zumal in diesem Zusammenhang sicher auch der Begriff Kultur hinterfragt werden muss. Wichtiger als kulturspezifisches Wissen ist für den interkulturellen Kontext, dass man in der Lage ist, Missverständnisse zu klären. Es geht also um Handlungsstrategien und das Erlernen dieser Handlungsstrategien ist ein wichtiger Bestandteil von interkultureller Kompetenz.

F&L: Welche Rolle spielt nonverbale Kommunikation?

Ursula Bertels: Nonverbale Kommunikation wird als Ursache von interkulturellen Missverständnissen oft unterschätzt. Gestik und Mimik können im interkulturellen Kontext sehr unterschiedlich besetzt sein. Da sie oft unbewusst eingesetzt werden, ist in diesem Bereich die Selbstreflektion besonders wichtig, wenn ich bei meinem Gegenüber eine Reaktion bemerke, die ich nicht erwartet habe. Was habe ich vielleicht gerade an Gestik und Mimik eingesetzt, was missverständlich war? In einigen Gesellschaften wird zum Beispiel als Zeichen des Aktiven Zuhörens der Kopf leicht hin und her bewegt, was von jemandem, der in Deutschland sozialisiert wurde, schnell als Kopfschütteln gedeutet werden kann und somit eine ganz andere Bedeutung erhält.

Zu dem Bereich der Kommunikation gehört zudem auch die paraverbale Kommunikation, also die Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit. In diesen Bereich fällt zum Beispiel auch die Frage, ob ich jemanden in einer Diskussion ausreden lassen oder, um meine Meinung überzeugend darlegen zu können, der Gesprächsperson ins Wort fallen muss.

Auch kleine Unterschiede können Ursachen für Missverständnisse sein, die unter anderem in multikulturellen Forschungsgruppen zu Konflikten führen.

F&L: Gibt es Probleme in der interkulturellen Kommunikation, die speziell den Wissenschaftsbetrieb betreffen?

Ursula Bertels: Oft wird davon ausgegangen, dass der Wissenschaftsbetrieb im internationalen Rahmen ähnlich funktioniert. Dies mag für einige Bereiche (zum Beispiel Fachsprache oder Ablauf von Versuchen) zutreffen, in vielen anderen Bereichen können aber kulturelle Unterschiede bestehen. Diese müssen nicht immer groß sein, aber auch kleine Unterschiede können Ursachen für Missverständnisse sein, die unter anderem in multikulturellen Forschungsgruppen zu Konflikten führen. Einige Beispiele: Welchen Status hat eine Doktorandin oder ein Doktorand? Muss jemand in dieser Position seinen Laborplatz aufräumen? Gehört ein Titel zur Anrede dazu oder kann er weggelassen werden? Wie wird zitiert? Was ist ein Plagiat? Für ein erfolgreiches Zusammenarbeiten im interkulturellen Kontext ist es daher erforderlich, diese kulturellen Unterschiede wahrzunehmen, anzusprechen und gemeinsam zu klären, wie man im Team damit umgeht. 

Allerdings gibt es auch Aspekte, die zwar erklärt werden sollten, aber nicht verhandelbar sind wie zum Beispiel Sicherheitsvorschriften oder Prüfungsordnungen. Diese Beispiele machen deutlich, dass es auch Grenzen der interkulturellen Verständigung gibt.

F&L: Kritik zu äußern, ist für die Wissenschaft essentiell. Was ist in der internationalen Zusammenarbeit zu beachten?

Ursula Bertels: In vielen Gesellschaften wird viel indirekter kommuniziert, als viele Menschen in Deutschland dies gewohnt sind. Oft wird schon ein direktes "nein" als unhöflich empfunden. Natürlich wird überall "nein" gesagt, aber dies wird zum Beispiel mit vielen Worten umschrieben. In diesen Bereich der direkten beziehungsweise indirekten Kommunikation fällt auch der Umgang mit Kritik. In Deutschland können die meisten mit direkter Kritik umgehen, da man gelernt hat, die sachliche Ebene von der persönlichen Ebene zu unterscheiden. Nur weil jemand meinen Lösungsvorschlag für ein aufgetretenes Problem nicht gut findet, heißt dies nicht, dass ich als Person kritisiert werde. 

Diese Unterscheidung in Sach- und Beziehungsebene treffen nicht alle Gesellschaften. Das bedeutet, dass jemand sich durch direkte Kritik verletzt fühlen kann und sich zum Beispiel in der Folge aus Diskussionen heraushält. Daher ist es sehr wichtig, bei einer kritischen Äußerung die Reaktion des Gegenübers genau zu beobachten und gegebenenfalls zu erläutern, dass es sich nicht um eine Kritik an der Person gehandelt hat. In multikulturellen Teams, die länger zusammenarbeiten werden, ist es sinnvoll, zu Beginn zu klären, wie Kritik geübt werden soll.

F&L: Wie lassen sich Vertrauen aufbauen und Missverständnisse vermeiden?

Ursula Bertels: Für ein erfolgreiches Zusammenarbeiten ist es wichtig zu reflektieren, dass die eigene Denk- und Lebensweise nur eine von vielen auf dieser Welt ist. Es gibt daher im interkulturellen Kontext kein Richtig und Falsch, sondern nur ein Anders. Wichtig ist es, sich über das andere Verhalten zu informieren. Durch dieses Interesse an dem Verhalten der anderen Person kann man eine vertrauensvolle Kommunikation ermöglichen. In solchen Gesprächen, in denen der Perspektivenwechsel im Mittelpunkt steht, erhält man Einblicke in andere Denk- und Lebensweisen, die die Person immer weiter für kulturelle Unterschiede sensibilisieren werden. Die erhaltenen Informationen können zudem in jeder weiteren interkulturellen Begegnung nützlich sein.

Doch so viel kulturspezifisches Wissen man sich auch im Laufe seines Lebens aneignet, es wird immer wieder zu interkulturellen Missverständnissen kommen. Denn jede Person ist ja nicht nur durch die ethnische Herkunft geprägt, sondern gehört darüber hinaus auch noch weiteren Differenzlinien an wie zum Beispiel Jung und Alt oder Mensch mit und ohne Behinderung. So sehr man es sich auch wünscht, es gibt für den interkulturellen Kontext keine Dos and Don'ts, die für alle Menschen aus einem Land gelten. Wichtig ist es, sich bei jeder interkulturellen Begegnung erneut auf den jeweiligen individuellen Menschen einzulassen.

Wichtig ist es, sich seines eigenen Ethnozentrismus bewusst zu sein.

F&L: Wie kann ich meine interkulturelle Kompetenz erhöhen?

Ursula Bertels: Wichtig ist es, sich seines eigenen Ethnozentrismus bewusst zu sein. Ethnozentrismus basiert auf der Annahme, dass die Gegebenheiten der eigenen Kultur universal gültig sind. Dabei beinhaltet Ethnozentrismus meistens eine Höherbewertung der eigenen Kultur und eine Abwertung der anderen Kultur. Das bedeutet, dass es in interkulturellen Begegnungen hilfreich ist, mit schnellen Urteilen und Einschätzungen vorsichtig zu sein. 

Ganz zentral für interkulturelle Kompetenz ist es aber, dass ich mir verschiedene Handlungsstrategien aneigne, die mir helfen, mit interkulturellen Missverständnissen umzugehen. Hier einige Beispiele: Wer ist die geeignete Gesprächsperson? Wie fange ich das Gespräch an? Wo hole ich mir Informationen? Kann ich aus Beobachtungen lernen? Das Erlernen dieser Handlungsstrategien steht daher im Mittelpunkt der Trainings, die der Verein "Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung (ESE)" zur Vermittlung von interkultureller Kompetenz durchführt.

Zur interkulturellen Kompetenz gehört es aber auch, sich mit aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen zu diesem Thema zu beschäftigten. So werden in einem ESE-Training zur Vermittlung von interkultureller Kompetenz seit einigen Jahren auch immer die Themen Rassismus, Machtasymmetrie und postkoloniale Verantwortung angesprochen. Gerade die letztgenannten Themen zeigen, dass interkulturelle Kompetenz ein lebenslanger Lernprozess ist, der nötig ist, um auf die Diversität in einer Gesellschaft und damit auch in der Wissenschaft eingehen zu können.

Tätigkeitsfelder von ESE

Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung (ESE) e.V. mit Sitz am Institut für Ethnologie der Universität Münster vermittelt seit 1992 interkulturelle Kompetenz an unterschiedliche Zielgruppen (Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung) und für verschiedene Tätigkeitsfelder (z.B. interkulturelle Trainings für Beschäftigte bei der Stadtverwaltung oder Polizei oder im Gesundheitssystem). Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit von ESE ist die Vermittlung von interkultureller Kompetenz im Bereich Forschung und Lehre. Neben der Zusammenarbeit mit Hochschulen im In- und Ausland kooperiert ESE insbesondere mit dem International Office der Universität Münster und bietet unter anderem Seminare für Studierende im Rahmen der Allgemeinen Studien, Training für Incomings sowie für Outgoings und Fortbildungen für Lehrende und Mitarbeitende an.