Tina Patel
privat

Interkulturelle Trainerin Tina Patel
"Es ist ein Lernprozess auf beiden Seiten"

Immer mehr Geflüchteten gelingt der Sprung zum Studium. Ein Gespräch über interkulturelle Kommunikation zwischen Geflüchteten und Lehrkräften.

Von Katrin Schmermund 30.04.2018

Forschung & Lehre: Frau Patel, Sie wurden in Indien geboren, haben einige Zeit in den USA gelebt und sind dann vor 18 Jahren nach Deutschland gekommen. Jetzt trainieren Sie Menschen unterschiedlicher Kulturen in "Interkultureller Kompetenz" – was bedeutet diese für Sie?

Tina Patel: Die Grundlage ist zunächst einmal "Sensibilisierung", das Bewusstsein dafür, dass es unterschiedliche Verhaltensweisen gibt. Es ist eine Form von Wachwerden, von Aufmerksamkeit für die Dinge, die direkt vor meiner Nase passieren, die ich aber nicht wahrnehme.

F&L: Was heißt das konkret mit Blick auf das Verhältnis zwischen Lehrkräften und Geflüchteten?

Tina Patel: Nehmen wir die Kommunikation. Häufig gibt es im Hochschulalltag Probleme, wenn die direkte und die indirekte Art zu kommunizieren zusammenkommen. In vielen Kulturen, zum Beispiel in Asien, Afrika oder in Lateinamerika, sagen die Menschen auf eine höfliche Art "nein", die bei Deutschen nicht ankommt, weil sie ein klares "Nein" brauchen. "Ich werde es versuchen" ist aber kein "ja", wie es Deutsche häufig verstehen, sondern ein höfliches "nein". Lehrkräfte müssen genauer zwischen den Zeilen hören.

"Mich auf verschiedene Kulturen einstellen zu können, bedeutet, mit Ungewissheit umgehen zu können."

F&L: Das klingt kompliziert – es könnte doch auch mal als "ja" gemeint sein?

Tina Patel: Das ist hier aber erst einmal gar nicht die Frage. Mich auf verschiedene Kulturen einstellen zu können, bedeutet, mit Ungewissheit umgehen zu können. Als Lehrkraft muss ich mich also mit der Situation zurechtfinden, eine Person kommt oder eben auch nicht.

F&L: Wie ist das mit dem Hochschulalltag vereinbar – schließlich sind zum Beispiel bei Referaten andere Studierende davon abhängig, dass ein Teilnehmer kommt, in vielen Seminaren gilt die Anwesenheitspflicht, die Förderung von Sprachkursen für Geflüchtete ist auch daran gekoppelt, wie viele sie in Anspruch nehmen…

Tina Patel: Wenn ich wissen muss, ob ein Teilnehmer kommt, kann ich natürlich nachfragen. Wenn mein Gegenüber unsicher wird, ist das auch ein "Nein". Gleichzeitig weiß ich dann aber auch, dass ich ihn oder sie zu weit gedrängt habe. Es kann sein, dass diese Person einfach noch nicht in der Lage ist, so direkt zu kommunizieren, wie wir es in Deutschland gewohnt sind. Das gilt vor allem gegenüber einer Lehrkraft, weil diese höher in der Hierarchie steht. Dieser Hintergrund muss mir natürlich bewusst sein und daher ist es wichtig, sich über verschiedene Kulturen zu informieren: Was hat Menschen zu dem gemacht, was sie heute sind? Wie war ihre Erziehung? Das gilt natürlich auch anders herum. In meinen Kursen mit Geflüchteten gehe ich auf die deutsche Geschichte ein und erkläre zum Beispiel, warum Deutsche sehr stark an Regeln festhalten. Viele Geflüchtete verstehen etwa nicht, warum Menschen in Deutschland an einer roten Ampel halten, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Solche Kleinigkeiten sind Teil der Geschichte eines Landes. Die Kriege in Deutschland und die damit zusammenhängenden Unsicherheiten erklären meiner Ansicht nach, warum Deutsche so stark an Regeln festhalten. Sie geben Sicherheit, Halt und Verlässlichkeit.

F&L: Viele Lehrkräfte stehen mehr oder weniger von heute auf morgen vor einem Kurs von Geflüchteten. Im Hochschulalltag haben sie nicht viel Zeit, sich mit verschiedenen Kulturen auseinanderzusetzen, wenn sie das nicht schon vorher gemacht haben. Was raten Sie?

Tina Patel: Es ist nicht notwendig, über die einzelnen Kulturkreise, die im Raum sitzen, alles zu wissen. Lehrkräfte sollten nur allgemeine kulturelle Unterschiede kennen. Da helfen schon die grundlegenden Theorien von Kulturforschern wie Geert Hofstede, Fons Trompenaars oder Edward T. Hall. Wie gehen verschiedene Kulturen mit Zeit, Hierarchie oder Individuum und Kollektivkonzepten um? Das sind typische Themen, die in Kursen an der Hochschule zu den meisten kulturell bedingten Missverständnissen führen.

"Eine zentrale interkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit, Verhalten von Interpretation zu unterscheiden."

F&L: Wie macht es sich im Hochschulalltag bemerkbar, wenn Menschen unterschiedliche Auffassungen von der Bedeutung von Individuum und Kollektiv haben?

Tina Patel: Zum Beispiel, wenn es darum geht, als Studentin oder Student selbstständig zu arbeiten oder die eigene Meinung zu äußern. Das ist schwierig für Menschen, die aus kollektiv geprägten Gesellschaften kommen, weil man da nicht selbst entscheiden darf. Das wäre kontraproduktiv für die Gemeinschaft. Es geht um die Fragen: "Was brauchen wir? Was ist gut für meine Familie?" Und nicht: "Was will ich?" Werden Geflüchtete aus solchen Kulturen von einer Lehrkraft gefragt, was sie wollen, werden sie wahrscheinlich unsicher reagieren, weil sie es gewohnt sind, dass die Lehrkräfte, die "Hierarchie-Höheren", die Entscheidung treffen. Der schlimmste Fall ist, dass Geflüchtete denken, die Lehrperson habe nicht die ausreichende Kompetenz, um eine Lösung vorzugeben. Dann haben sie jedoch leider ein falsches Bild. Deswegen ist es ein Lernprozess für beide Seiten – für Lehrkräfte und Geflüchtete.

F&L: Hochschulmitarbeiterinnen berichten immer wieder, dass sie sich von Männern aus arabischen Ländern nicht respektiert fühlen. Wie nehmen Sie die Situation wahr?

Tina Patel: Meist sind es Kleinigkeiten: "Er guckt mir nicht in die Augen" oder "Er gibt mir nicht die Hand". Hier liegt eine zentrale interkulturelle Kompetenz, nämlich die Fähigkeit, Verhalten von Interpretation zu unterscheiden. Wenn ein Geflüchteter einer Dozentin nicht die Hand gibt oder ihr nicht in die Augen schaut, ist das zunächst einmal nur eine Tatsache. Die Schlussfolgerung "Er respektiert mich nicht" ist eine Interpretation. Doch die ist meist kulturell bedingt. In Deutschland ist es mit Interesse, Aufmerksamkeit und gegenseitigem Respekt verknüpft, sich in die Augen zu schauen. In anderen Ländern gilt es als unhöflich und respektlos, ist ein Zeichen für Aggressivität und Dominanz – besonders gegenüber hierarchisch Höherstehenden. Ich sollte Verhaltensweisen daher nicht persönlich nehmen, sondern erst einmal davon ausgehen, dass sie eine Person nicht böse meint. Verhält sich jemand so, der in Deutschland groß geworden ist, ist es eine andere Sache.

F&L: Wie sollte ich denn reagieren, wenn mich die Art und Weise einer Person irritiert?

Tina Patel: Ich kann sagen, welches Verhalten ich erwartet hätte und fragen, wie es in dem Land üblich ist, aus dem eine Person kommt. Dann sollte ich mich fragen, ob ich nicht damit umgehen kann, dass mir diese Person Respekt auf ihre Weise zeigt. Da öffnen sich dann neue Kulturen und das ist spannend.

F&L: Was ist mit Fällen, in denen ich ein Verhalten nicht hinnehmen kann oder will?

Tina Patel: Dann sollte ich meinem Gegenüber sagen, wie ich mich in der konkreten Situation oder Konfrontation fühle, was genau ich brauche und welches Verhalten ich mir für eine gute Zusammenarbeit wünsche. So zeige ich meine Erwartungen und auch Bedürfnisse. Ein Problem ist häufig, dass Geflüchtete und Lehrkräfte aus unterschiedlichen Gründen unter Stress stehen. Doch unter Stress kehren wir in der Regel immer zurück zu alten Gewohnheiten, weil sie uns vertraut sind und uns Halt geben. Wenn ich mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zusammenarbeite, sollte ich immer Zeit, Geduld, Nerven und Flexibilität mitbringen. Natürlich müssen sich Geflüchtete auch ein Stück weit anpassen. Aber man muss ihnen Zeit geben, zu lernen. Wenn ich nicht weiß, was ich falsch mache, kann ich mein Verhalten nicht ändern. Ich brauche jemanden, der mir auf menschliche Art und Weise zeigt, was von mir erwartet wird.

"Wie ein Baum brauche ich meine Wurzeln als Stütze. Sonst falle ich um."

F&L: Was aber, wenn es nicht um eine Frage der Zeit geht; wenn die kulturellen Unterschiede einfach fundamental auseinandergehen?

Tina Patel: Für solche Fälle ist es wichtig, dass es klare Strukturen und Regeln gibt. Diese müssen transparent sein, sodass jeder weiß, was geht und was nicht geht; wo die Grenzen sind. Darauf kann ich mich dann als Lehrkraft berufen. Wenn ein Geflüchteter also zum Beispiel weiß, dass er einen Kurs nicht mehr besuchen kann, wenn er dreimal fehlt und es trotzdem tut, muss er die Konsequenzen tragen. Sind es Probleme, die eine Lehrkraft nicht alleine lösen kann, ist es wichtig, dass es eine Ansprechperson an der Hochschule gibt, an die sie sich wenden kann. 

F&L: Wie sieht Ihre Idealvorstellung eines interkulturellen Miteinanders aus?

Tina Patel: Ich bin ein Fan davon, die kulturellen Werte, mit denen man groß geworden ist, zu halten – besonders am Anfang, wenn ich mich in einem neuen Umfeld befinde, weil es "meine Ressourcen" sind. Sie haben mich am Leben gehalten. Das gilt besonders für die Geflüchteten. Wie ein Baum brauche ich meine Wurzeln als Stütze. Sonst falle ich um. Es muss eine Mischung sein aus den Kulturen. Es wäre schade für unsere Menschheit und unser Miteinander, wenn wir wie eine lokale Kultur werden. Es würde viel verloren gehen.