Das Bild zeigt ein digital stattfindendes Vorstellungsgespräch.
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Digitale Berufungsverfahren
"Ein Bildausschnitt ist in der Regel nicht ausreichend"

In der Corona-Zeit wurden digitale Berufungsverfahren unumgänglich. Claudia Schulpin zu Vor- und Nachteilen digitaler Elemente im Bewerbungsprozess.

Von Henrike Schwab 06.03.2024

Forschung & Lehre: Die Leibniz Universität Hannover (LUH) wickelt Berufungsverfahren schon seit 2018 über ein digitales Berufungsportal ab. Was waren die Gründe für die Einführung?

Claudia Schulpin: Die Nutzung eines Online-Berufungsportal bewegte bereits seit längerem das Berufungsmanagement der LUH, stieß allerdings auf wenig Resonanz. Erst als eine Fakultät aufgrund mehrerer gleichzeitig laufender Berufungsverfahren der Arbeitsbelastung nur schwer nachkommen konnte, wirkte dies als Katalysator und Startschuss für die Implementierung eines digitalen Bewerbungsportals für Professuren. 

F&L: Welche Vorteile bietet ein digitales Berufungsportal?

Claudia Schulpin: Die Vorteile liegen zum einen in der deutlich schnelleren Bearbeitung der eingehenden Bewerbungen, d.h. von der Korrespondenz bis zur Erstellung einer Synopse mit den Bewerber:innen-Daten für die Arbeit der Berufungskommission. Die Qualität der erhobenen Daten ist ebenfalls ein wesentlicher Faktor: Die manuelle Zusammenstellung von Daten ist fehleranfällig und sehr zeitaufwändig. Bei der Nutzung eines Online-Portals geben alle Bewerberinnen und Bewerber die gleichen gewünschten Daten ein, sind damit selbst verantwortlich für eine korrekte Datenzulieferung und ermöglichen eine gute Vergleichbarkeit der eingegangenen Bewerbungen. Das Online-Berufungsportal der LUH bietet zudem den Vorteil, dass für jede Professur eine individuelle Eingabemaske erstellt werden kann. Dies ist bei einer Universität mit einem breiten Fächerspektrum von großer Bedeutung, um für die fachspezifisch unterschiedlichen Anforderungsprofile die Daten passgenau erheben zu können. Für die Bewerber:innen bietet das Online-Portal die Möglichkeit der jederzeitigen Information zum aktuellen Verfahrensstand über einen im Portal integrierten Verfahrensmonitor. Dieser bildet die wichtigsten Verfahrensschritte ab und trägt damit zu einer verbesserten Transparenz der Verfahren bei.

Claudia Schulpin leitet das Referat für Berufungsangelegenheiten der Leibniz Universität Hannover. privat

F&L: Während der Corona-Zeit mussten Berufungsverfahren zum Teil vollständig digitalisiert werden. Welche Erfahrungen hat die Universität Hannover gemacht?

Claudia Schulpin: Mit Beginn der Pandemie war die Digitalisierung an den deutschen Hochschulen nur wenig entwickelt und stellte insbesondere die Durchführung von Berufungsverfahren vor besondere Herausausforderungen. Hochschulseitig betraf dies vor allem die Bereitstellung datenschutzkonformer Videokonferenz-Software und digitaler Abstimmungs-Tools; die Bewerberinnen und Bewerber mussten kurzfristig für die Lehrproben auf Online-Formate umstellen. Inzwischen besteht beiderseitig eine hohe Souveränität in der digitalen Durchführung und Abwicklung von Berufungsverfahren (Online-Bewerbungsportale, Videokonferenz-Software, digitale Berufungsordner…). 

F&L: Welche digitalen Elemente haben sich bewährt? Lassen sich Berufungsverfahren vollständig digitalisieren?

Claudia Schulpin: Bewährt haben sich Kommissionssitzungen und Vorstellungen im Online- oder Hybrid-Format dahingehend, dass sie für externe Kommissionsmitglieder und Kandidat:innen im Ausland eine erhebliche Zeitersparnis bedeuten. Reisekosten können reduziert, Sitzungen schneller terminiert und dadurch Berufungsverfahren beschleunigt werden. Allerdings hat sich die Online-Vorstellung der Bewerbenden nicht zufriedenstellend bewährt. Ein Bildausschnitt ist in der Regel nicht ausreichend, um einen umfassenden Eindruck von der Persönlichkeit der Kandidatin oder des Kandidaten zu erhalten. Dies ist insbesondere für die Kollegschaft am Standort hinsichtlich einer langjährigen und erfolgreichen wissenschaftlichen Zusammenarbeit von Bedeutung. 

Erfahrungen haben gezeigt, dass Kandidatinnen und Kandidaten, die sich online vorstellen, häufig weniger gut abschneiden als in Präsenzveranstaltungen.

Online-Lehrproben geben zwar einen guten Einblick in den Umgang mit digitalen Lehrformaten und der Nutzung beispielsweise von Lehrplattformen, erschweren jedoch auch die Interaktion mit den Studierenden. So haben Erfahrungen gezeigt, dass Kandidatinnen und Kandidaten, die sich online vorstellen, häufig weniger gut abschneiden als in Präsenzveranstaltungen. Daher ist bei der Entscheidung, ob die Vorstellungsveranstaltung in Präsenz oder online erfolgen soll, Einheitlichkeit im Sinne von Gleichbehandlung herzustellen. Die Anwesenheit der Bewerbenden vor Ort ermöglicht zudem der ausschreibenden Einrichtung sich zu präsentieren und beispielsweise die Forschungsinfrastruktur vorzustellen. Dieses Angebot entspricht internationalen Berufungsprozessen wie dem US-amerikanischen Modell, bei dem eine wesentlich intensivere Befassung mit den einzelnen Kandidat:innen erfolgt und auch als Teil der Willkommenskultur wahrgenommen wird. 

F&L: Gibt es spezielle Anforderungen an Bewerberinnen und Bewerber oder an Kommissionsmitglieder?

Claudia Schulpin: Für digitale beziehungsweise hybride Sitzungen empfehlen wir weiterhin technische Unterstützung des Vorsitzes, da dieser neben einer strukturierten Sitzungsleitung sowohl die Wortmeldungen der online teilnehmenden Mitglieder als auch den Chatverlauf beobachten muss. Klare Regeln und Absprachen zu Sitzungsbeginn helfen, den Überblick zu behalten. Da es sich bei Berufungsverfahren um streng vertrauliche Personalangelegenheiten handelt, versteht es sich von selbst, dass online Teilnehmende sich in einer entsprechend geschützten Umgebung befinden und nicht beispielsweise im Zug die Sitzung aktiv verfolgen. Bewerbende sollten bei Online-Lehrproben auf Tafelanschrieb gänzlich verzichten und praktische Übungen lediglich begrenzt einsetzen, da eine Interaktion mit den Studierenden kaum möglich ist. Die Verwendung digitaler Lehrformate sollte einen nicht zu großen Zeitslot in der Lehrprobe einnehmen, damit bei technischen Problemen nicht die gesamte Lehrprobe davon betroffen ist. 

F&L: Was zeichnet ein gutes Berufungsverfahren Ihrer Meinung nach aus? 

Claudia Schulpin: Grundvoraussetzung guter Berufungsverfahren ist die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen. Eine noch so gute Berufungsliste ist nahezu wertlos, wenn Verfahrensfehler zu einer erfolgreichen Konkurrentenklage führen. Berufungsverfahren an deutschen Hochschulen sind daher sehr formalistisch. Weitere Qualitätsstandards für Berufungsverfahren sind Transparenz, Einbeziehung internationaler Expertise, Diversität und Gleichbehandlung sowie eine kurze Verfahrensdauer. 

Damit sich die geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten bewerben, sollte bei der Ausrichtung der Professur ein klares Anforderungsprofil erstellt werden, welches sowohl fachliche als auch außerfachliche Kriterien umfasst und die Grundlage für den Ausschreibungstext und das spätere Auswahlverfahren ist. Anhand des Anforderungsprofils sollte frühzeitig mit einer aktiven Rekrutierung, d.h. der breiten Recherche und der positiven persönlichen Ansprache von Kandidat:innen begonnen werden. Aktive Rekrutierung zeigt vor allem bei der Gewinnung von Frauen und internationalen Forschenden gute Erfolge. Für die Gewinnung und Bindung herausragender Professorinnen und Professoren ist zusätzlich zur aktiven Rekrutierung ein umfassendes Onboarding der Berufenen von Bedeutung. Es beginnt bereits mit der Ruferteilung (Preboarding) und Angeboten wie Dual Career- und Familienservice. Nach der Rufannahme umfasst es Unterstützungsangebote beispielsweise bei der Wohnungssuche, bei Fragen zur Krankenversicherung, Aufenthaltstitel etc. und fakultätsseitig die Einrichtung des Arbeitsplatzes. Im Rahmen der Beantragung des Gütesiegels für faire und transparente Berufungsverhandlungen hat die LUH vom Deutschen Hochschulverband wertvolle Hinweise für ein bedarfsorientiertes Onboarding erhalten. Berufungsmanagement und Personalentwicklung haben zusammen ein weitreichendes Angebot aufgesetzt und eine umfassende Willkommenskultur für Neuberufene etabliert. 

Das deutsche Hochschulsystem muss mehr Gestaltungsspielraum und finanzielle Mittel erhalten – für einen Kulturwandel hin zu einem deutlichen "Willkommen an unserer Hochschule".

F&L: Welche Unterschiede zeigen sich im internationalen Vergleich?

Claudia Schulpin: Während an deutschen Hochschulen Rekrutierungs- und Onboarding-Maßnahmen noch keine Selbstverständlichkeit sind und sich vielfach noch in der Auf- und Ausbauphase befinden, sind an den Universitäten im Ausland die Serviceleistungen und individuell geschnürten Berufungszusagen deutlich umfassender. Um mit diesen Welcome-Angeboten konkurrenzfähig zu sein, muss das deutsche Hochschulsystem mehr Gestaltungsspielraum und finanzielle Mittel erhalten – für einen Kulturwandel hin zu einem deutlichen "Willkommen an unserer Hochschule".

Studie "Finding digital solutions in pandemic times"

Berufungsverfahren in Corona-Zeiten
Die Pandemie erzwang eine weitgreifende Digitalisierung des Berufungsgeschehens – insbesondere im Hinblick auf die Sitzungen der Berufungskommission und die persönliche Vorstellung der Kandidatinnen und Kandidaten. Den fehlenden persönlichen Kontakt empfanden die Entscheidungsträgerinnen und -träger als problematisch, wie eine 2023 veröffentlichte Studie von Anna Gerchen ergab: https://link.springer.com/article/10.1007/s10734-023-01083-z
Vorteile digitaler Vorstellungen
Zu den Vorteilen digitaler Kommissionssitzungen und Vorstellungen der Kandidatinnen und Kandidaten gehören strategische und organisatorische Aspekte: Da Beteiligte nicht reisen müssen, vereinfachen digitale Verfahren unter anderem die Einbeziehung internationaler Bewerberinnen und Bewerber und unterstützen so die strategische Ausrichtung der Universitäten auf Internationalisierung und Exzellenz. Zudem senken digitale Verfahren Zeitaufwand und Reisekosten und erlauben durch eine höhere Flexibilität auch kürzere Verfahrensdauern.
Nachteil digitaler Vorstellungen
Trotz dieser Vorteile digitaler Verfahren wünschen sich die Verantwortlichen an den Universitäten aber den persönlichen Kontakt mit den Kandidatinnen und Kandidaten und bevorzugen eine Vorstellung in Person. So beschreiben die Interviewten, dass der persönliche Kontakt einen 'besseren Eindruck' von den Kandidatinnen und Kandidaten erlaubt. Videokommunikation wird in dieser Hinsicht als defizitär wahrgenommen. Der durch das persönliche Erleben der Kandidatinnen und Kandidaten erlaubte Eindruck wird dabei zum Teil sogar als unverzichtbar für eine gute Auswahlentscheidung beschrieben.