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Forschung und Lehre
Barometer für die Wissenschaft 2023

Der Blick auf den Zustand der deutschen Wissenschaft ist teils ernüchternd. Zu viele Talente wollen aus der Wissenschaft aussteigen.

29.02.2024

Das Barometer der Wissenschaft bietet einen detaillierten Einblick in die Arbeits- und Forschungsbedingungen an deutschen Universitäten und Hochschulen. Die Ergebnisse der Wissenschaftsbefragung 2023, an der 11.371 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilnahmen, liefern wertvolle Erkenntnisse für wissenschaftspolitische Debatten und Entscheidungen sowie für die Selbstreflexion der wissenschaftlichen Community. 

Mehr als die Hälfte der Befragten denkt ernsthaft über einen Ausstieg aus der Wissenschaft nach: Insgesamt 57 Prozent der befragten Forscher und Forscherinnen haben das in den letzten zwei Jahren erwogen. Besonders befristet Beschäftigte erwägen diesen Schritt, bedingt durch hohe Arbeitsbelastung und unzureichende berufliche Perspektiven.

"Die Zahlen bestätigen Berichte und Eindrücke, die uns aus der Mitgliedschaft und den Fakultäten erreichen. Sie sollten alle Beteiligten aufhorchen lassen. Politik und Hochschulen müssen ihre Hausaufgaben machen. Teil der Lösung können verlässlichere und planbarere, aber auch gegenüber außerhochschulischen Märkten attraktive Karriereperspektiven sein. Voraussetzung dafür bleibt eine auskömmliche Hochschulfinanzierung, für die Bund und Länder in finanziell herausfordernden Zeiten in die Pflicht genommen werden müssen", ordnet der DHV-Präsident Professor Lambert T. Koch diese Entwicklung ein. 

"Teil der Lösung können verlässlichere und planbarere, aber auch gegenüber außerhochschulischen Märkten attraktive Karriereperspektiven sein."
DHV-Präsident Professor Lambert T. Koch

Arbeits- und Forschungsbedingungen 

Während Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Allgemeinen mit ihren Bedingungen zufrieden sind, zeigen sich bei Juniorprofessuren hohe Arbeitsbelastung und niedrige Zufriedenheit. Die Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung im Mittelbau nehmen zu. 

Die Coronapandemie hat die Forschung und Lehre an deutschen Hochschulen beeinträchtigt, aber nicht vollständig unterbunden. Dennoch gab es Einschränkungen in der Arbeitsproduktivität und der gesellschaftlichen Wertschätzung für wissenschaftliche Arbeit. 

Karriere in der Wissenschaft: Zu viele wollen aussteigen 

Die Mehrheit der Promovierenden bevorzugt eine Karriere in der Wissenschaft, jedoch ist die Professur nicht mehr das primäre Karriereziel. Nur noch 16 Prozent der Promovierenden wollen auf eine Professur hinaus. Diese Veränderung könnte auf eine zunehmende Unsicherheit bezüglich der beruflichen Perspektiven und Einkommensmöglichkeiten im akademischen Bereich zurückzuführen sein. 

Neben der unzureichenden Betreuung und den eingeschränkten Karriereperspektiven werden vor allem die nicht wettbewerbsfähigen Einkommensmöglichkeiten als Problemfelder identifiziert. Trotz einiger Verbesserungen in den letzten Jahren bleibt die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses jedoch weiterhin herausfordernd. 

Professorinnen und Professoren an Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) haben hohe Lehrdeputate und mehr Betreuungszeit als ihre Kolleginnen und Kollegen an Universitäten. Trotz hoher Arbeitsbelastung sind sie insgesamt zufrieden mit ihrer beruflichen Position. 

Berufliche Zufriedenheit und vertragliche Arbeitsbedingungen 

Die Studie zeigt, dass Professorinnen und Professoren die höchste berufliche Zufriedenheit aufweisen, während Juniorprofessorinnen und -professoren im Vergleich dazu deutlich häufiger unzufrieden sind. Generell ist die berufliche Zufriedenheit an deutschen Hochschulen recht hoch, wobei Professorinnen und Professoren in den meisten Bereichen deutlich zufriedener sind als ihre nicht-professoralen Kolleginnen und Kollegen. 

Besonders kritisch bewerten Postdocs ihre beruflichen Perspektiven, was hauptsächlich auf geringe Aussichten auf eine Dauerstelle oder Professur zurückzuführen ist. Die Vertragsdauer von befristeten Verträgen hat in den letzten Jahren zugenommen, jedoch bleibt der Anteil befristeter Stellen in der Wissenschaft hoch. 

Arbeitszeitverteilung zwischen Forschung und Lehre an deutschen Hochschulen 

Die Ergebnisse der Befragung zeigen deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Statusgruppen und Fachbereichen auf. Die Studie beleuchtet die Arbeitszeitverteilung an deutschen Hochschulen und zeigt auf, dass das Verhältnis von Lehre und Forschung im Allgemeinen ausgeglichen ist. Jedoch differenzieren sich die Aufgaben im Verlauf der akademischen Karriere aus, wobei insbesondere Professorinnen und Professoren vergleichsweise wenig Zeit für die Forschung haben. 

Die Tätigkeitsprofile von Professorinnen und Professoren, Postdocs und Prädocs im Jahr 2023 ähneln weitgehend denen der befragten Kohorte von 2019/20. Während Forschung, Lehre und Betreuung den größten Teil der Arbeitszeit einnehmen, variieren die Anteile für Forschung und Lehre je nach Statusgruppe erheblich. 

In Professuren und Juniorprofessuren Beschäftigte arbeiten zwar im Durchschnitt mehr Stunden, haben aber faktisch weniger Forschungszeit zum Publizieren. Trotzdem sind sie publikationsstärker und stärker in die Drittmittelakquise und Gremienarbeit eingebunden als Postdocs und Prädocs. 

Belastbarkeit des wissenschaftlichen Wissens und des Systems 

Die Diskussion um die Belastbarkeit wissenschaftlichen Wissens konzentriert sich weiterhin auf einige wenige Disziplinen. Die Ergebnisse bieten eine umfassende Grundlage für die Diskussion und Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland. 

Trotz innerer und äußerer Herausforderungen bewerten die Befragten die Autonomie und Forschungsfreiheit an deutschen Hochschulen weiterhin positiv. Allerdings wird die Wertschätzung durch die Gesellschaft und die Leistungsgerechtigkeit im Wissenschaftssystem negativ beurteilt. Das Vertrauen in den Wissensbestand bleibt insgesamt hoch, obwohl Debatten über die Belastbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse, insbesondere in den Lebenswissenschaften und der Psychologie, präsent sind. 

Forschungsförderung und Begutachtung 

Die Anzahl der Förderanträge ist rückläufig, der Aufwand für deren Bearbeitung bleibt jedoch hoch. Die Qualität der Begutachtung bleibt größtenteils stabil. Die Publikationsaktivität hat während der Pandemie leicht abgenommen, wobei fächerspezifische Unterschiede bestehen. 

Die Antragsaktivität bei Drittmittelanträgen ist leicht zurückgegangen, wobei Professorinnen und Professoren insgesamt häufiger Anträge stellen als Postdocs und Prädocs. Die Qualität der Begutachtung von Förderanträgen und Fachpublikationen hat sich laut einer Minderheit der Forschenden verschlechtert: Rund 31 Prozent der Professorinnen und Professoren und 30 Prozent der Postdocs nehmen eine Verschlechterung der Begutachtungsqualität wahr. Die Auslastung des Peer-Review-Systems ist insgesamt rückläufig ist. 

Publikationsleistung und Variationen nach Fächergruppen 

Der Wissenschaftsbarometer 2023 offenbart eine Vielzahl an Erkenntnissen, die auf substanzielle Unterschiede innerhalb verschiedener Fächergruppen und akademischer Statusgruppen hinweisen. Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung ist die Feststellung, dass die Gesamtzahl der Publikationen im Vergleich zu den Vorjahren leicht gesunken ist. 

Besonders markante Unterschiede zeichnen sich jedoch zwischen den Fächern ab: Während Professoren in den Geisteswissenschaften durchschnittlich 4,3 Publikationen pro Jahr veröffentlichen, liegt die Zahl in den Ingenieurswissenschaften mit 7,1 Publikationen deutlich höher. Eine mögliche Erklärung für diese Divergenz liegt in den disziplinspezifischen Arbeitsweisen und Publikationskulturen. So werden in einigen Fächern vor allem umfangreiche Monografien erstellt, während in anderen Fachgebieten kürzere Fachartikel in Teamarbeit entstehen. 

Die Studie hebt auch die Bedeutung der Publikationskulturen hervor, die maßgeblich das Publikationsverhalten beeinflussen. Während in den Lebens-, Natur- und Ingenieurswissenschaften Originalartikel in Fachzeitschriften dominieren, sind in den Geistes- und Sozialwissenschaften auch Buchbeiträge von großer Relevanz. 

Die Auswahl der Fachzeitschrift für die Publikation hängt dabei primär von der Reputation ab, wobei der Journal Impact Factor je nach Fachbereich unterschiedlich stark berücksichtigt wird. Zudem gewinnt Open Access zunehmend an Bedeutung in allen Fächergruppen. 

Qualität von Dissertationen: Zweifel an Spitzennoten 

Die Qualität von Dissertationen in verschiedenen Disziplinen wird von Professorinnen und Professoren mehrheitlich positiv bewertet, jedoch bestehen Zweifel bezüglich der Vergabe von Spitzennoten und der Benotung einiger schlechterer Arbeiten. Etwa die Hälfte der Professorinnen und Professoren stimmt zu, dass zu viele Spitzennoten vergeben werden, wobei diese Meinung nicht auf Fachrichtungen beschränkt ist, die häufiger Spitzennoten vergeben. Einige Professorinnen und Professoren widersprechen jedoch dieser Einschätzung. 

Professorinnen und Professoren äußerten bereits in vergangenen Befragungen eine überwiegend positive Einschätzung der formalen Qualität von Dissertationen, jedoch bleibt offen, ob diese angemessen benotet werden. Aktuelle Umfragen zeigen, dass 70 Prozent der Professorinnen und Professoren mit der Qualität zufrieden sind, obwohl Bedenken hinsichtlich der Vergabe von Spitzennoten und der Benotung schlechterer Arbeiten bestehen, insbesondere in den Fachbereichen Agrar- und Forstwissenschaften sowie Medizin. 

Wissenschaftspolitik: Reformen und Gleichstellung 

Mehrheiten befürworten eine Umstellung von Lehrstuhl- auf Department-Struktur sowie unbefristete Stellen unterhalb der Professur. Die Zustimmung zu diesen Reformen ist in allen Statusgruppen hoch. Die Schaffung unbefristeter Stellen jenseits der Professur wird von einer klaren Mehrheit befürwortet, während es bei reinen Lehrprofessuren unterschiedliche Meinungen gibt. 

Diskriminierungserfahrungen im beruflichen Umfeld sind für etwa ein Drittel der weiblichen und ein Siebtel der männlichen Wissenschaftlerinnen beziehungsweise Wissenschaftler innerhalb der letzten 24 Monate keine Seltenheit. Insbesondere Geschlechts- und Altersdiskriminierung sind häufig anzutreffen. Eine Verschlechterung der Situation im Vergleich zu früheren Studien ist nicht festzustellen. 

Männer in der Wissenschaft sind insgesamt zufriedener mit ihrer Work-Life-Balance als Frauen. Insbesondere Juniorprofessorinnen sind unzufriedener als ihre männlichen Kollegen oder Kolleginnen ohne Kinder. Der höhere akademische Status von Frauen erhöht die Wahrscheinlichkeit von Diskriminierungserfahrungen eher, anstatt sie zu verringern. 

Internationale Wissenschafts-Kooperationen trotz Spannungen 

Die Risikobereitschaft der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist überwiegend moderat. Etwa drei Viertel ordnen sich in die moderaten Kategorien ein. Geschlechterspezifische Unterschiede zeigen sich vor allem bei der Gruppe der risikoaverseren Befragten, wobei Frauen häufiger als Männer diese Einschätzung teilen. 

Die meisten Forschenden sind in internationale Kooperationen eingebunden, wobei etwa jede fünfte Person an einem internationalen Drittmittelprojekt teilnimmt. Gründe gegen internationale Kooperationen sind vor allem Zeitmangel und fehlende Ressourcen. 

Onlinedienste: Google Scholar und Researchgate dominieren 

Die meisten Forschenden nutzen wissenschaftsspezifische Onlinedienste wie Google Scholar und Researchgate, wobei die Nutzungshäufigkeit nicht sehr hoch ist. Unterschiede zwischen den Statusgruppen sind gering, wobei Professorinnen und Professoren diese Dienste seltener nutzen als Prädocs oder Postdocs.

cva