Das Bild zeigt Hände auf einer Braillezeile und eine Computertastatur.
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Studium, Forschung und Lehre mit Beeinträchtigung
Blinde an der Hochschule

Der 6. Juni ist der Tag der Sehbehinderten in Deutschland. Wie erleben blinde und sehbehinderte Studierende und Lehrende ihren Hochschulalltag?

Von Charlotte Pardey 07.06.2021

Wie findet man den Weg in die Mensa? Wie stellt man in der Zoom-Konferenz das Mikrofon aus? Was steht auf den Folien, auf die sich der Dozent in der Vorlesung bezieht? Blindheit ist eine Informationseinschränkung – in der visuell organisierten Welt der Sehenden ein Hindernis, auch für blinde und sehbehinderte Studierende und Lehrende an Hochschulen. Forschung & Lehre hat sich bei einigen von ihnen nach ihrem Hochschulalltag erkundigt. Wie hat sich dieser durch die Corona-Pandemie verändert?

Oliver Nadig, Mitarbeiter der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) und Dozent im berufsbegleitenden Masterstudiengang Blinden- und Sehbehindertenpädagogik an der Philipps-Universität Marburg, ist selbst blind und beurteilt die Situation an den Hochschulen insgesamt positiv: "Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Die technischen Voraussetzungen und die Bereitschaft der Universitäten, etwas zu tun, sind denkbar gut. Da hat sich in den letzten 20 bis 30 Jahren viel verändert, heute wollen sich die Universitäten um Barrierefreiheit kümmern." Es gehe aber auch nicht nur um die Frage, ob beispielsweise ein Bibliothekssystem barrierefrei ist, sondern darum, ob die betroffene Person es auch bedienen kann. "Blinde Studierende müssen das jeweils ausprobieren und sich im Zweifelsfall am Anfang helfen lassen. An der Universität haben sie dabei immer die Möglichkeit, auf Assistenz zurückzugreifen."

Ebenso können blinde Hochschulmitarbeiterinnen und -mitarbeiter Arbeitsassistenz erhalten, beispielsweise durch studentische Hilfskräfte. Wer allerdings nicht innerhalb einer Anstellung promoviert, muss sich für diese Stelle im Umfang eines Minijobs mühevoll bei einem Kostenträger um Finanzierung bemühen oder sie mitunter privat bezahlen, berichtet Natalie Geese, die als Blinde an der Universität Köln in Soziologie promoviert und an der Universität Siegen studiert und gearbeitet hat. Sie nutzt die Möglichkeit der Assistenz zum Beispiel, um eigene Texte ansprechend formatiert auf Powerpointfolien zu bekommen.

Die von den Universitäten angebotene Unterstützung unterscheide sich stark zwischen den Institutionen, sagt Oliver Nadig. Die Universität Marburg läge, ebenso wie die Universitäten von Karlsruhe, Dresden und Dortmund, sehr weit vorne. Durch die direkte Nachbarschaft zur "blista", gebe es in Marburg so viele blinde und sehbehinderte Abiturientinnen und Abiturienten, wie nirgends sonst in Deutschland.

Manche von ihnen beginnen ein Studium und viele bleiben dafür in Marburg, so wie Lea Becker, die aktuell im sechsten Semester eines Bachelorstudiengangs für Psychologie an der Philipps-Universität studiert. Wie sie ihr Studienfach gewählt hat? "Ich habe mir erst überlegt, welche Fächer gehen und mich dann gefragt, was mich von diesen Fächern am meisten anspricht". In Psychologie seien in jedem Semester mehrere andere Betroffene. Die Infrastruktur der Universität und der Stadt selbst sei an Blinde und Sehbehinderte angepasst. So gebe es etwa viele Leitliniensysteme wie zum Beispiel Bodenrillen, die innerhalb der Universitätsbibliothek die Wege erleichtern. In Siegen sei die Situation von blinden und sehbehinderten Studierenden schwieriger als in Marburg, berichtet Natalie Geese.

Generell findet sie: "Für blinde und sehbehinderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wird weniger getan als für betroffene Studierende". Sie sieht das darin begründet, dass ihre Gruppe kleiner und dadurch weniger sichtbar sei. Viele Aspekte wissenschaftlicher Arbeitsverhältnisse seien für Blinde besonders schwierig, beispielsweise die Befristungen: Oft dauere es, bis ein Arbeitsplatz über die richtigen Hilfsmittel verfüge. Zeit, die für die eigentliche Arbeit verloren ginge. Häufig umziehen zu müssen und sich neu orientieren zu lernen, sei aufwendig und würde sicher viele von einer Karriere in der Wissenschaft abschrecken. Natalie Geese möchte trotzdem weiter in der Forschung arbeiten.

Aber auch im Studium bleiben Hürden: Natürlich könnten Blinde und Sehbehinderte in der Theorie jedes Fach studieren, aber je visueller ein Studium ausgelegt sei, desto schwieriger werde es, erläutert Oliver Nadig. Da moderne Lehre stärker auf visuelle Mittel setze, sei heute manches sogar komplizierter als dies früher der Fall gewesen wäre. Wenn Studiengänge praktische Aspekte wie Laborarbeit beinhalten, sei das für blinde und sehbehinderte Studierende ein zusätzliches Hindernis.

Barrierefreie Dokumente und die Herausforderungen von Video-Konferenzsoftware

Im Hochschulalltag selbst ist viel Eigeninitiative gefordert, da sind sich Lea Becker, Natalie Geese und Oliver Nadig einig. Das finge im Seminar mit der Bitte an die Lehrenden an, mehr mit Worten zu beschreiben und weniger davon auszugehen, dass alle Teilnehmenden eine Grafik ansehen könnten. Auch bei der Literatur sei digitalisiert nicht gleichbedeutend mit barrierefrei und zugänglich, erläutert Nadig. Blinde lesen Texte am Computer mit einem Screen Reader, doch der kann nicht alle Formate erkennen. Optische Scans beispielsweise enthalten für den Reader nur bedeutungslose Pixel, solange keine OCR-Software, also ein Programm zur automatisierten Texterkennung, auf den Bildern vorhandene Buchstaben und Wörter ausgelesen hat. Abbildungen wie Grafen benötigen eine ausreichende Beschriftung, damit sie verständlich werden. Erst dann können sie von einer Computerstimme vorgelesen oder mit einer Braille-Zeile in Blindenschrift ausgegeben werden.

"Eine normale Vorlesung ist wie ein Audio, das man nicht stoppen kann", meint Lea Becker. Ohne die Möglichkeit des Blicks auf die Powerpointfolien, sei es schwierig sich innerhalb des Vortrags zu orientieren und allgemein konzentriert zu bleiben. Ihr Notizenmachen sei sehr ineffizient, da sie sich so viel wie möglich aufschriebe, ohne zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu können. Hilfreich sei es, im Vorfeld das Skript des Dozierenden zu erhalten und genug Zeit zu haben, damit ihre Studienassistentin beispielsweise Abbildungen für sie beschreiben kann. Aber das sei in Beckers Erfahrung nicht immer möglich. Insgesamt schätzt die Studentin die Materialbeschaffung im Studium als "sehr aufwendig" ein. Ohne Unterstützung und Assistenz ginge es nicht, mit ihnen haben blinde Studierende ähnliche Chancen auf ein erfolgreiches Studium. Auch bei Klausuren wird auf Vergleichbarkeit geachtet: Beispielsweise erhalten blinde und sehbehinderte Studierende mehr Zeit oder eine kürzere Klausur, statt schriftlich können sie auch mündlich geprüft werden.

Beim Arbeiten am Computer fehlt Blinden und Sehbehinderten der Gesamtüberblick, sie können einen Bildschirm nicht nach visuellen Steuerungselementen abscannen. Im vergangenen Jahr, als plötzlich viel über Videokonferenzen erledigt wurde, seien die neuen Programme ein Problem gewesen. Zunächst habe die Barrierefreiheit zu wünschen übriggelassen, wie Oliver Nadig berichtet. In seiner Arbeit für die "blista" in Marburg habe er einen Ansturm an blinden Studierenden und Berufstätigen erlebt, die Trainings in Konferenzsystemen anfragten. Das Problem dabei sei, dass es oft gar keine Lehrmaterialien gäbe, die sich speziell an Blinde richteten. Alle Unterrichtsmaterialien musste Nadig also selbst erstellen, während er sich noch mit den neuen Programmen vertraut machte.

Die Studentin Lea Becker hat durch die pandemiebedingte Fernlehre auch Vorteile erlebt: Viele Vorlesungen seien Videoformate, die sie dann bei Unklarheiten pausieren und noch einmal anhören könne. Auch werde das Skript zeitgleich mit der Vorlesung für alle hochgeladen. Becker verfolge die Vorlesung dann erst, wenn ihr ein eventuell überarbeitetes, barrierefreies Skript als Leitlinie vorliege. Schwierig sei es allerdings, den Überblick zu behalten: über die verschiedenen Links zu Veranstaltungen, die unterschiedlichen Plattformen und die Materialablagen. Es sei auch anstrengend: Da sie die Videokonferenzportale mit Tastatur und Screenreader bediene, habe sie mitunter zwei Stimmen im Ohr – eine Computerstimme und eine Stimme von anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Auch müsse sie sich in digitalen Formaten viel öfter erklären, berichtet Lea Becker: "Wenn man aber mit dem Blindenstock ins Seminar geht, weiß jeder Bescheid".

Natalie Geese unterrichtete im Sommer 2020 ihr erstes Seminar an der Universität Siegen digital und fand Zoom erstmal "überwältigend". Aber: "Sehende waren genauso unsicher und mussten sich mit dem neuen Format auch erst einmal vertraut machen", bemerkt sie. Für blinde Lehrende sei es ebenso irritierend, wenn die Teilnehmenden Kameras und Mikros ausstellen, wie für Sehende: "Ich dachte, ich rede gegen eine Wand, ohne die kleinen akustischen Rückmeldungen, die man in Präsenz erhält: Räuspern, Stuhlrücken, Scharren von Füßen, das alles fällt ja nun weg."

Auch Oliver Nadig unterrichtete im letzten Jahr per Videokonferenz in einem Programm, das er selbst noch nicht bedienen konnte. Alles wurde ihm vorgelesen, den Chat mussten andere beobachten. Mit Blick in die Zukunft von blinden Studierenden und Lehrenden sagt Nadig aber: "Alles ist möglich, man muss es nur organisieren."