Kunstpädagogik
Das Lesen von Bildern lernen
Forschung & Lehre: Frau Professor Lutz-Sterzenbach, wozu brauchen wir Menschen die Kunst?
Barbara Lutz-Sterzenbach: Wir brauchen die Kunst, um uns mit der Welt auseinanderzusetzen und die Welt verstehen zu können, aber auch, um eine Beziehung herstellen zu können zwischen unserer inneren und äußeren Welt. Indem wir uns gestaltend beschäftigen, versuchen wir Dinge, die wir wahrnehmen, zu erklären und zu ordnen. Aus evolutionstheoretischer und kulturhistorischer Sicht gehört es zu den anthropologischen Grundkonstanten des Menschen, sich zeichnerisch und bildnerisch auszudrücken. Auch vor 400.000 Jahren existierte eine Art von ästhetischem Bewusstsein, wenn man die von Menschen entwickelten Werkzeuge betrachtet.
F&L: Vor diesem Hintergrund wäre es naheliegend, dass wir der Kunst und der Begegnung mit ihr einen angemessenen Raum zugestehen – auch im Bildungssystem. Dem ist aber eher nicht so. Hat Kunst keine Lobby?
Barbara Lutz-Sterzenbach: Es mangelt an einem grundsätzlichen Verständnis, wie notwendig es ist, die Bedeutung der Bilder als einen wesentlichen Teil unserer Weltwahrnehmung anzuerkennen. Unser Zugang zur Welt ist maßgeblich durch naturwissenschaftliches Denken bestimmt und damit auch die Möglichkeiten, mit Fortschritt umzugehen. Diese Sicht auf die Dinge wurde über Jahrhunderte gefestigt durch eine bestimmte Form von philosophischer Setzung, wie man zu Erkenntnissen über die Welt kommt. Das lässt sich bis zu Platon zurückverfolgen. Er gestand Bildern lediglich eine bescheidene Möglichkeit zu, sich Erkenntnis über die Welt zu verschaffen; hauptsächlich verlief das über die Mathematik und die Naturwissenschaften. Diese Auffassung zieht sich über die Aufklärung mit einer gewissen Marginalisierung des bildnerischen Tuns bis in die heutige Zeit; was ja, wenn man vom Bildungsbegriff ausgeht, ein großes Missverständnis ist, weil das Wort Bildung das Wort Bild beinhaltet und einen künstlerisch-handwerklichen Vorgang bezeichnete. Insofern müsste Bildung aus meiner Sicht ganz anders aufgestellt sein.
F&L: Inwiefern muss Ihrer Meinung nach das Verständnis über Bilder über den eurozentrischen Horizont und Kanon erweitert werden?
Barbara Lutz-Sterzenbach: Bilder fungieren immer als Grundlage unseres Denkens. Wenn der Bilderkanon Bilder aus der europäischen Kunstgeschichte zeigt, dann ist Kunst in unserem bewusstsein verankert, die in Europa erstellt worden ist. Dieser Bilderkanon hat – ich beziehe mich auf die letzten Jahrhunderte – die Sicht auf Kunst und Kultur sehr stark geprägt. Die Ordnung unseres Kunstbegriffs basiert auf einer bestimmten Art von stilgeschichtlicher Deutung, die von der Antike über die Renaissance bis heute verläuft. Aus meiner Sicht ist wichtig, dass man diese Perspektive reflektieren kann. Andere Teile der Welt haben eine völlig andere Art von Kunstbegriff beziehungsweise er existiert so überhaupt nicht. Wenn ein ästhetisches Objekt eine Funktion hat, dann wird es dadurch bereits nicht mehr der Kategorie Kunst zugeordnet. Das ist in vielen außereuropäischen Kulturen völlig anders, die Verknüpfung von Objekt und Funktion ist viel selbstverständlicher gegeben. Wie menschliche Erfahrungen und Anliegen in anderen Teilen der Welt in Bilder übersetzt werden, ist wichtig zu wissen, auch um in Kommunikation treten zu können. Ich lerne gerade von den Kolleginnen und Kollegen aus der Hochschule in Ghana zum Beispiel, dass die Kunst eher eine gemeinschaftsstiftende Funktion und sehr viel mit sozialem Umgang in der Gruppe zu tun hat. Bei uns entwickelte sich Kunst über eine starke Individualisierung, die dann auch zu so etwas wie den Begriff "Künstlergenie" geführt hat. Hier geht es immer darum, innovativ zu sein und sich abzugrenzen mit seinem Werk, um besonders hervorzustechen. Ein weiteres Beispiel ist das weitgehende Fehlen weiblicher Künstler: Ohne diese Perspektiven handelt es sich um einen einseitigen Bilderkanon, der nicht repräsentativ ist. Wichtig sind Möglichkeiten der Identifikation, die nicht gegeben sind, wenn die Hälfte der Klasse aus Mädchen besteht und fast ausschließlich männliche Künstler präsentiert werden. Es braucht weibliche Vorbilder in der Kunst mit diversen Perspektiven auf die Welt und spezifischen künstlerischen Praxen.
F&L: Nun gilt es auch, im Unterricht Verknüpfungen zwischen der Welt der Bilder aus unserer europäischen Tradition und den Bildwelten herzustellen, mit denen sich Jugendliche gegenwärtig auseinandersetzen. Wie funktioniert das?
Barbara Lutz-Sterzenbach: Natürlich ist es wichtig zu wissen, welche Absicht und welches Denksystem in den Bildern repräsentiert ist und was sie uns emotional vermitteln können. Dies gilt für globale Bildsprachen beziehungsweise zeitgenössische Bilder der Kunst oder Alltagskultur ebenso wie für historische Artefakte. Wir leben ja nicht losgelöst von dem, was die Generationen vorher an Architektur, Design und Bildern hervorgebracht haben. Dabei zeigen sich wiederkehrende Themen und Anliegen. Wenn wir uns im Unterricht zum Beispiel mit Selfies und der Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken beschäftigen, gibt es die Tradition der Auseinandersetzung mit sich selbst, der Darstellung und der Inszenierung von sich selbst, denken wir an Dürers Selbstbildnis von 1500, um nur ein Beispiel zu nennen, auch in der historischen Kunst. Es ist wichtig, Linien aufzuzeigen – sowohl in Längsschnitten als auch in Querschnitten – in welcher Art und Weise wir uns in Bildern in einer globalen Welt ausdrücken, wie wir mit Bildern kommunizieren.
F&L: In unserer bilderdominierten Welt braucht es Orientierung. Wird die in der Schule in ausreichendem Maß vermittelt?
Barbara Lutz-Sterzenbach: Da besteht eine extreme Diskrepanz zwischen dem, was regelmäßig über die Notwendigkeit von Wissen über Kultur oder Kunst gesagt wird und dem, was dann letztlich für die Schule an Stundenkontingenten angeboten wird. Es ist geradezu ein Hohn, dass Schülerinnen und Schüler bei einem Gesamtstundenumfang von zum Teil über 30 Stunden eine Stunde in der Woche Kunstunterricht haben. Dabei ist es absolut wesentlich, sich kritisch mit Bildern auseinanderzusetzen und sich in der Flut von Bildern und der Möglichkeit ihrer Manipulation zu orientieren. Die Schule ist der einzige Ort, wo Kinder aus allen Bildungsschichten zusammenkommen und die Möglichkeit haben, über die Bilder aus verschiedenen historischen oder zeitgenössischen Kontexten überhaupt etwas zu erfahren und sich damit analytisch und praktisch sowie mit eigenen Ideen auseinanderzusetzen.
F&L: Auch Sehen muss eingeübt werden…
Barbara Lutz-Sterzenbach: Unbedingt, das ist ein wesentlicher Bildungsauftrag des Kunstunterrichts: Bei dieser irrsinnigen Flut an Bildern, die die digitalisierte Welt hervorbringt, zu lernen, Bilder mit einer gewissen Aufmerksamkeit anzusehen. Sich selbst bewusst zu sein, dass man an eine bestimmte Perspektive gebunden ist, die man erlernt hat – und diese zu hinterfragen, wenn man Bildern begegnet, die einem zunächst fremd erscheinen. Das Lesen von Bildern zu lernen ist ganz wesentlich.
F&L: Nehmen wir als Gesellschaft die Kunst ernst genug?
Barbara Lutz-Sterzenbach: Ich denke, wir müssen sie viel ernster nehmen. Was die Kunst bietet, bietet sonst kein anderer Bereich. Wolfgang Welsch hat in seinem Buch "Ästhetisches Denken" darüber nachgedacht, dass die Kunst als Modell oder als Ausgangspunkt fungieren sollte, wie wir gesellschaftlich handeln können – Kunst ist kontrovers und bietet nicht nur eine Lösung, sondern auch eine gewisse Mehrdeutigkeit des Denkens an. Das auszuhalten, mit bestimmten Vagheiten und Ambiguitäten umgehen zu können und zu erkennen, es existieren bestimmte Perspektiven, die umgedacht werden können, das ist etwas, was so nur im Feld der Kunst möglich ist. Insbesondere für demokratisches Denken halte ich das für enorm wichtig, dass es nicht nur eine Lösung oder eine Denkrichtung gibt, sondern ein vielschichtiges und zu diskutierendes offenes Feld, mit dem man sich beschäftigt und zu dem man eine Haltung entwickeln muss.
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