Illustration von Köpfen mit verschiedenen Fachsymbolen
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Studium Generale
Die Komposition des Getrennten

Kurse zur Allgemeinbildung von Studierenden begleiten seit Jahren den universitären Lehrplan. Wie hat sich ihre Struktur über die Zeit verändert?

Warum heute noch einmal vom Studium Generale sprechen? Wofür sollte es stehen? Für ein nachgeschobenes Schuljahr nach der zeitlichen bzw. curricularen Schrumpfung des Gymnasiums? Für eine fachwissenschaftliche Orientierung in der Studieneingangsphase?

Derlei Begründungen werden aktuell diskutiert. Darauf wollen die Verfasserinnen das Studium Generale jedoch nicht reduziert sehen. Vielmehr sollte es eine Möglichkeit in Forschung und Lehre bieten, die Idee der Universität als Ort öffentlicher Wissenschaft erneut zu durchdenken, Fächer und Fakultäten so miteinander in Austausch zu bringen, dass ausgehend von fachübergreifenden Phänomenen die Grenzen und Stärken von Inter- und Transdisziplinarität ausgelotet werden können.

Auch wenn heute die Universität als Einheit der Fakultäten kaum mehr zu denken ist, sollte nicht darauf verzichtet werden, Räume zu schaffen und Formate zu entwickeln, in denen das Getrennte gemeinsam im fachübergreifenden Gespräch komponiert werden kann, in denen Angehörige unterschiedlicher Fakultäten ihre Expertisen und Spezialisierungen mit Studierenden und wissenschaftlich Interessierten zum Gegenstand der Analyse machen.

Seit Mai untersucht eine Forschungsgruppe an der Bergischen Universität Wuppertal in einem von der DFG geförderten Projekt zur Geschichte des Studium Generale in der BRD nach 1945 die erkenntnistheoretische und bildungspolitische Bedeutung, die dem Studium Generale in unterschiedlichen historischen Phasen im Zusammenhang mit der Veränderung des Selbstverständnisses der Universität und ihrer gesellschaftlichen Funktion zugeschrieben wurde. Dieselbe Gruppe hat in der Lehre unter dem Titel "Grund stiften" ein Format entwickelt, das seit drei Semestern die Universität als Ort von Bildung und Forschung, als Schnittstelle von Wissenschaft und Beruf, Wissenschaft und Kultur, Wissenschaft und Politik erfahrbar zu machen sucht.

Pars pro toto für die ganze Universität

Sowohl im Forschungsprojekt als auch in der konkreten Gestaltung des Studium Generale geht die Forschungsgruppe davon aus, dass das Studium Generale analytisch als pars pro toto für die ganze Universität gelten kann. Die Annahme korrespondiert mit seinen polyvalenten Ausrichtungen in der Geschichte der europäischen Universität, die auch in der Varianz seiner Namen zum Ausdruck kommt.

Im Mittelalter bezeichnete das Studium Generale das gesamte universitäre Studium in Abgrenzung zu anderen Bildungswegen. Das studium generale (der Universität) wurde vom studium particulare und studium provinciale (anderer Bildungsstätten) sowie den artes liberales (als Propädeutik der Universität) unterschieden. In der Artistenfakultät der Sieben Freien Künste (Trivium und Quadrivium) bildete es die "Vorbildung" für ein Studium der drei höheren berufsqualifizierenden Fakultäten (Theologie, Jura, Medizin).

Im 20. Jahrhundert treten neben diese klassischen Bezeichnungen Neuschöpfungen wie studium integrale, studium fundamentale, studium universale, studium digitale. Gelegentlich werden auch offene Veranstaltungsformate wie der dies academicus oder Veranstaltungen Für Hörerinnen und Hörer aller Fakultäten mit dem Prädikat Studium Generale hinzugezählt.

In begrifflicher Hinsicht bildet das Studium Generale den Kern der Idee der modernen Universität, die paradigmatisch in der Gründung der Berliner Universität (1809/10) ihre institutionelle Gestalt gefunden hat. Texte, die idealiter dem Konzept der Berliner Universität zugrunde liegen, wie I. Kants Streit der Fakultäten (1798), J. G. Fichtes Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794), F. W. J. Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802), F. D. E. Schleiermachers Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn (1808), schreiben der Philosophie den Charakter eines Studium Generale zu, indem sie die Philosophie als transzendentale Grammatik der gesamten Wissenschaft betrachten. Die Philosophie – als Studium Generale aufgefasst – bildet in idealistischem Verständnis die Einheit (Uni) der Fakultäten (-versitas, von latein "vertere" wenden, drehen, kehren).

Heilmittel für die Universität

Auf diese Tradition bezogen sich diejenigen (unter anderem Karl Jaspers, Theodor Litt), die nach 1945 an die Welt von Vorgestern anknüpfen wollten. Sie betrachteten das Studium Generale als ein Antidot, als ein Heilmittel für eine Universität, die physisch und geistig am Boden lag. Die Gleichsetzung von Studium Generale und Philosophie hatte jedoch nicht erst nach 1945 an Unmittelbarkeit verloren. Die Philosophie galt längst nicht mehr als gemeinsame erkenntnistheoretische Grundlage und Garantin für die transzendentale Einheit der Wissenschaften.

Als Ersatz für die verlorengegangene Einheit sollte das Studium Generale als institutionell vermittelte Form von Interdisziplinarität gestaltet werden. Hierfür wurde es an der Universität in spezifischen Programmen organisiert, mit bestimmten Lebensformen, wie dem Collegium Academicum in Heidelberg und dem Leibniz Kolleg in Tübingen, verbunden und im Rahmen der Gründung interdisziplinärer Organe (paradigmatisch dafür "Studium Generale: Zeitschrift für interdisziplinäre Studien", Gründung 1947) wissenschaftlich diskutiert. Der Wille zur Form in der (in physischer Hinsicht) zertrümmerten, (in politischer Hinsicht) kompromittierten und (in wissenschaftlicher Hinsicht) zergliederten Universität hat das Studium Generale in all seinen Transformationen überdauert.

Bildungspolitisch bemühten sich die Alliierten unmittelbar nach Kriegsende, das Bildungssystem in Deutschland im Rahmen der Re-Educa­tion-Programme neu auszurichten. Eine wichtige Rolle kam in diesem Prozess dem von der britischen Besatzungsmacht einberufenen Studienausschuss für Hochschulreform (1948) zu, der das sogenannte Blaue Gutachten erarbeitete.

Es zählte auch die fachliche und politisch-soziale Bildung von Erwachsenen zum demokratisierenden Auftrag der Universität, für deren Neuerrichtung Vorbilder in Skandinavien und Großbritannien dienten. Der aus dem Exil zurückgekehrte Fritz Borinski forderte die theoretische und praktische Einbeziehung der Erwachsenenbildung in die Universität als Teil einer zeitgemäßen Hochschulreform. Jedoch konnten weder das Blaue Gutachten noch bildungspolitische Appelle an die geistige Verantwortung der Hochschulen für eine demokratisierende Bildung eine große Wirkung entfalten.

Kritik am Studium Generale

Darüber hinaus fehlte es bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht an Stimmen, die Versuche der Wiederbelebung des Studium Generale kritisierten. Max Horkheimers erster Vortrag zum Thema Universität während seines Besuchs in Frankfurt/M. 1948 lässt sich als Gegenrede zu Karl Jaspers Idee von einem Studium Generale begreifen. Wenngleich auch Horkheimer die Gefahr einer gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen blinden Spezialisierung sah, lehnte er die Vorstellung von einer jungen nationalen Elite, einer Geistes­aristo­kratie, die die erneuerte Universität hervorbringen sollte, ab.

Für Horkheimer kam es vielmehr darauf an, jene Einzelnen zu stärken, die sich fähig zeigten, gegebenenfalls auch gegen das eigene Kollektiv standzuhalten. Diese Aufgabe fiel allen Fakultäten zu. Um das auseinandergefallene, in sich widersprüchliche Ganze überhaupt denken zu können, bedurfte es einer Aufhebung der Philosophie in kritische Gesellschaftstheorie. Dafür stand nach seiner Rückkehr aus der Emigration das wiedererrichtete Frankfurter Institut für Sozialforschung.

Für die Siebzigerjahre ist der Übergang von einem in der Philosophie begründeten Verständnis des Studium Generale als Einheit der Wissenschaft (Theodor Litt, Josef Derbolav) zu seiner interdisziplinären Auslegung charakteristisch. Das Anliegen des Studium Generale wurde im Kontext steigender Studierendenzahlen von den Programmen der Wissenschaftsdidaktik und Hochschuldidaktik übernommen.

In der neuesten Universitätsgeschichte ist die Diskussion über das Studium Generale dagegen vom Prozess der Europäisierung des Bildungswesens und der Bildungspolitik geprägt. In der Hochschulsteuerung bildet die Pariser Deklaration von 1998 die Grundlage einer Neuordnung und Harmonisierung der Studienstrukturen und stellt damit einen Wendepunkt in der Universitätsgeschichte dar.

Im Kontext der Bologna-Reform wurde die Berufsrelevanz des Studiums zur unmittelbaren Arbeitsmarktbefähigung umgedeutet. Akademische Bildung soll die Erwartung auf wirtschaftlichen Fortschritt und gleichzeitig die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit erfüllen. Die sich widersprechenden Legitimationen des Studium Generale schreiben ihm folglich je nach Kontext eine optimierende oder eine kompensatorische Funktion zu.

Bildungspolitisch ist dagegen wieder von der Universität als integrierter Einrichtung zur allgemeinen Menschenbildung die Rede und von der Notwendigkeit eines studienintegrierten Studium Generale (Dieter Lenzen). In dieser Hinsicht fordert auch Konrad Paul Liessmann die Wiedergewinnung von "Bildung durch Wissenschaft" im Sinne eines verpflichtenden Philosophicum oder eines Studium Generale mit einer wissenschaftstheoretischen, -historischen und -philosophischen Ausrichtung.  

Transdisziplinäres Format

Das Studium Generale ist heute weder ein Fundament, auf dem die ausdifferenzierten Einzelwissenschaften zusammengefügt werden können, noch ein sinnstiftendes Ganzes. Es kann jedoch auf das für die Idee der Universität Grundlegende fokussieren und die Historizität der Gegenwart sichtbar machen. Als transdisziplinäres Format öffentlicher Wissenschaft und iterativer wissenschaftlicher Bildung über die Lebensspanne sollte es ein Ort der Aushandlung von Geltungsansprüchen von Wissen und der wechselseitig verknüpften Wissensproduktion und Wissensgenerierung innerhalb und außerhalb der Universität sein. Dann ist es ein zukunftsfähiges Bildungsformat, das den Sinn für universitäre und gesellschaftliche Transformationen zu schärfen vermag.