Eine junge Frau beantwortet auf einem Blatt vor ihr auf einem Desk Prüfungsfragen.
Billy Albert/unsplash

Digitalisierung
Vision für neue Prüfungskultur veröffentlicht

Das Hochschulforum Digitalisierung hat eine Prüfungs-Vision entwickelt. Sie definieren Vorbedingungen, Rahmenbedingungen sowie Werte.

30.01.2024

Prüfungen und deren zukunftsfähige Ausgestaltung sind ein zentrales und heiß diskutiertes Thema auf allen Hochschulebenen. "Statt bloßer Wissensabfragen sollte der Fokus auf Verständnis, Anwendbarkeit und kritischer Reflexion liegen, um Kompetenzen zu fördern und zu bewerten", konstatiert das Hochschulforum Digitalisierung (HFD) in ihrer Diskussionsvorlage als zentraler Anspruch an neue Prüfungsformate. Das Forum beschreibt sich selbst als bundesweiter Think-&-Do-Tank, das eine breite Community rund um die Digitalisierung in Studium und Lehre zusammenführt, Entwicklungen sichtbar macht und innovative Lösungsansätze erprobt. 

Grundlage der entstandenen Vision war eine konsekutive Workshop-Reihe im Sommer 2023, die jede Stakeholdergruppe – Studierende, Lehrende, Unterstützungseinrichtungen und Hochschulmanagement – einzeln adressierte. Insgesamt nahmen rund 245 Hochschulangehörige an der Debatte über eine zeitgemäße Prüfungskultur teil. Konsens bestand bei allen Gruppen darin, dass es Bedarf gebe "innovative Prüfungspraktiken zu honorieren, weniger benotete Prüfungen durchzuführen, kollaborative Prüfungsleistungen anzubieten und stärkere Lernprozessorientierung sowie kooperative Feedbackschleifen zu integrieren". 

"Kein Versuch, ein bröckelndes System zu kitten" 

Die Veränderung von Studium und Lehre durch die Corona-Pandemie sowie technische Entwicklungen wie ChatGPT machten laut HFD eine stetige Anpassung der Prüfungskultur notwendig. Während entstandene Formate wie mündliche Fernprüfungen bereits fest etabliert seien, müssten beispielsweise Take-Home-Prüfungen angesichts potentiell möglicher KI-Unterstützung überdacht werden. Ein nicht deklarierter Einsatz von KI-Textgeneratoren wie ChatGPT zum Beispiel in Abschlussarbeiten bleibt aus Expertensicht vorerst schwer nachweisbar. "Die Hoffnung, dass es eine einfache Softwarelösung zum Enttarnen von KI-Texten gibt, wird sich nicht erfüllen", sagte die Berliner Plagiatsforscherin Professorin Debora Weber-Wulff (Hochschule für Technik und Wirtschaft) der Deutschen Presse-Agentur. "Es gibt zwar sehr viel angebliche Detektoren-Software, aber sie tut nicht das, was sie soll." Manche der Hersteller hätten Mängel auch selbst eingeräumt und auf Grenzen der Verlässlichkeit hingewiesen. 

"Die Hoffnung, dass es eine einfache Softwarelösung zum Enttarnen von KI-Texten gibt, wird sich nicht erfüllen."
Berliner Plagiatsforscherin Professorin Debora Weber-Wulff, Hochschule für Technik und Wirtschaft

Eine zukunftsfähige Prüfungskultur müsse laut HFD aus Lösungen bestehen, die grundlegend aufeinander abgestimmt seien und keine "temporäre Notlösungen" darstellten oder den "Versuch, ein bröckelndes System zu kitten". Der Heterogenität der Hochschulangehörigen und den zunehmend individualisierten Bildungsbiografien entsprechend, müsse man zukünftig Lehr- und Prüfungsangebote individualisiert und vielfältig gestalten. Innovative Formate sollten genutzt, Prüfungsängste und punktuelle Prüfungslast aktiv verringert werden. 

HFD setzt für Vision bei drei Bausteinen der Prüfungskultur an 

Der HFD definiert Prüfungskultur in Anlehnung an Reinmann (2022) und entwirft in seiner Vision Vorgaben für die drei Aspekte Überzeugungen, Verfahren und Praktiken. 

Zu den Überzeugungen gehörten demnach individuelle und kollektive Vorstellungen vom Sinn und Zweck einer Prüfung. Diese spiegelten sich in den Prüfungsverfahren zwar wider, würden aber selten explizit aufgeführt. Ziel der Verfahrensweisen sei stets, gleiche und faire Behandlung im Prüfungsgeschehen sicherzustellen. Die Prüfungspraktiken bezögen sich "auf das eigentliche Prüfungshandeln und -verhalten". 

Das Hochschulforum bemängelt, dass in aktuellen Diskussionen oft nur die Dimension der Praktiken diskutiert werde: "Haltungen, Überzeugungen, Funktionen von Prüfungen und damit auch Normen bleiben in der Diskussion häufig unreflektiert. Für die nachhaltige Gestaltung einer neuen Prüfungskultur, die angemessen ist für ein Zeitalter der Digitalität, ist es aber notwendig, alle drei Aspekte zu berücksichtigen." 

Die entwickelte Vision einer zeitgemäßen Prüfungskultur 

Das Forum hat eine Vision formuliert, in der alle aus ihrer Sicht notwendigen Verbesserungen bereits umgesetzt sind: 

  1. Lehre: 
    Lehre und Forschung sind ebenbürtig und werden, wo auch immer sinnvoll, miteinander verzahnt. Die Lehrenden haben genügend Raum für die Weiterentwicklung der Lehre und des Prüfens. 
  2. Curriculum: 
    Studiengänge werden so entwickelt, dass Lern- und Prüfungsaktivitäten aufeinander abgestimmt sind. Das Prüfen ist damit Teil des prozessualen Lernens entlang von Kompetenzentwicklungslinien. 
  3. Innovation: 
    Eine breit geteilte Offenheit aller Hochschulangehörigen zur Veränderung und Entwicklung erlaubt es, Ermöglichungsräume zur kreativen Erprobung neuer Prüfungsszenarien zu eröffnen und mit entsprechenden Ressourcen auszustatten. So aktualisiert sich das Prüfwesen an Hochschulen stetig selbst. 
  4. Technik: 
    Es wird eine sichere und intelligente digitale Prüfungsumgebung angeboten, die es den Lehrenden und Studierenden erleichtert, digitale Settings zu nutzen. Vielfältige Prüfungs-Settings wie (digitale) Prüfungen vor Ort, Remote-Settings und Bring-Your-Own-Device-Lösungen (BYOD) werden ermöglicht. 
  5. Raum und Personal: 
    Die Räume bilden die Vielfalt der Formen und Arten des Prüfens ab und stehen in ausreichender Anzahl zur Verfügung. Zusätzliches Personal hilft den am Prüfprozess beteiligten Akteurinnen und Akteuren, sich zurechtzufinden, berät sie hinsichtlich ihrer heterogenen Bedarfslagen und unterstützt Lehrende in der Ausgestaltung zeitgemäßer Prüfungsformate. 
  6. Recht: 
    Die Sinnhaftigkeit der Prüfung als intrinsisch motivierende Lernerfahrung wird wahrgenommen und es herrscht Transparenz über die Ermittlung des Leistungsstandes. Das ehemalige Misstrauensverhältnis hat sich aufgelöst. Den Prüfungsgestaltenden werden rechtliche Spielräume für Innovation und Flexibilität gewährt. 
  7. Lernprozessorientierung: 
    Das Prüfen ist enger an den individuellen, fortschreitenden Lernprozess der Studierenden geknüpft. Es herrscht Klarheit und Transparenz über die Relevanz der Lernziele im Abgleich mit dem eigenen Lernstand. Neben Noten gibt es differenzierte Beschreibungen zum individuellen Erkenntnisstand von Studierenden. 
  8. Kompetenzorientierung: 
    Handlungs- und Problemorientierung, ein starker Anwendungsbezug sowie transformative, technologische und digitale Schlüsselkompetenzen sind sinnvoll in Prüfungen integriert. 
  9. Vielfältige Prüfungsangebote: 
    Studierenden können selbst darüber entscheiden können, welches Prüfungsformat und welcher inhaltliche Fokus sich im Sinne des selbstgesteuerten Lernens am besten für die eigene Kompetenzentwicklung anbietet. Sie wählen aus einem Kaleidoskop an Prüfungsangeboten innerhalb eines Rahmenkonzepts mit Wahlpfaden aus. 
  10. Flexibilität: 
    Es wird Flexibilität ermöglicht, um trotz Herausforderungen und Rollenkonflikten Prüfungsangebote wahrnehmen zu können. Die Heterogenität und Diversität der Studierenden wird berücksichtigt und gleichzeitig Fairness und Chancengerechtigkeit gewährleistet. 

Forum sieht Umsetzung der Vision im Rahmen von Partizipationsprozessen 

Die Gestaltung des Wandels und Umbruchs müsse im Dialog und als konstruktiver Perspektivaustausch über alle Statusgruppen hinweg geschehen. Dabei sei eine Anpassung der Rahmenbedingungen für die notwendige digitale Transformation der Prüfungskultur essentiell. Dazu gehörten unter anderem die Gewährung von zeitlichen Freiräumen Lehrender, die Verteilung der Aufgaben im Kontext der Prüfungsgestaltung, der Ausbau von entlastenden Personalstrukturen und der Einsatz von KI-Tools bei der Gestaltung von komplexeren Prüfungsformaten. 

Eine besondere Herausforderung sei das Spannungsfeld zwischen dem didaktisch Wünschenswerten flexibleren, lernprozessorientierten Prüfen und der rechtlichen Perspektive der chancengleichen Prüfungen. Es müsse die Frage geklärt werden, "ob unsere derzeitige Vorstellung von Chancengerechtigkeit, im Sinne von gleichem Prüfen, noch tragbar ist und ob gleiches Prüfen wirklich gerecht ist".

cva