Wärmemengenmesser im CERN
CERN

Leitung von Forschungsprojekten
"Sie müssen am CERN Manager und Regisseur sein"

Wer eine große Forschungseinrichtung leitet, hat vielfältige Aufgaben. Professor Dr. Rolf-Dieter Heuer erklärt, worauf es ankommt.

Von Ina Lohaus 02.07.2018

Forschung & Lehre: Sie waren von 2009 bis 2015 Generaldirektor des CERN. Welche Voraussetzungen muss der Leiter einer Großforschungseinrichtung mitbringen?

Rolf-Dieter Heuer: Sehr viele unterschiedliche. Man braucht Weitblick, nennen wir es einmal eine Vision für eine Großforschungseinrichtung, man braucht Erfahrung und Anerkennung in der Wissenschaftscommunity. Auch gewisse Fähigkeiten im Management sind wichtig. Man sollte schon einmal eine größere Forschungseinheit geleitet haben, denn sonst ist der Sprung zum CERN doch sehr groß. Zu den Voraussetzungen zählen natürlich auch Erfahrungen in der Menschenführung. Dazu gehört meiner Ansicht nach die Fähigkeit zuzuhören und sich beraten zu lassen und dann nach Möglichkeit die richtigen Schlüsse zu ziehen, mit denen man auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitnimmt. Dies geht nicht ohne eine entsprechende Kommunikation. Die Kommunikation ist der Schlüssel für sehr vieles. Das gilt auch in der Regie. Sie müssen kommunizieren, was Sie wollen und wie Sie es wollen. Gleichzeitig müssen Sie bereit sein, die Kommunikation der anderen zu akzeptieren. Ganz wichtige Voraussetzung ist noch die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und zu diesen auch zu stehen. Man muss Verantwortung übernehmen, auch in schlechten Zeiten, wenn etwas nicht funktioniert. Dann muss man sagen können: ok, das war meine Entscheidung, die war vielleicht im Nachhinein falsch. Aber wer keine Entscheidungen trifft, bringt auch nichts voran. Das sind für mich die wichtigen Dinge.

F&L: Ist es hilfreich, vorher schon am CERN gewesen zu sein und die Innenansicht zu kennen?

Rolf-Dieter Heuer: Ich weiß nicht, was es mir gebracht hat, vorher am CERN gewesen zu sein, sicherlich einiges. Wichtig war für mich, auch eine Zeit weg gewesen zu sein vom CERN. Dann weiß man, was die wissenschaftlichen Nutzer, in diesem Fall die Gastwissenschaftler, brauchen. Sie müssen berücksichtigen, was diesen wichtig ist. Es sind ja im Wesentlichen die Gastwissenschaftler, die die Forschung am CERN durchführen.

F&L: Ist man als Leiter oder Leiterin einer wissenschaftlichen Einrichtung eher Regisseur oder eher Manager?

Rolf-Dieter Heuer: Eigentlich beides. Sie können Wissenschaft nicht als Regisseur betreiben. Sie müssen am CERN eine Art Manager sein, denn Sie sind dort wirklich für alles verantwortlich, auch außerhalb der Wissenschaft, vom gereinigten Zimmer bis hin zum Unfall. Aber bezogen auf die Projektsteuerung können Sie der Regisseur sein, wobei Sie den Wissenschaftlern natürlich Freiraum geben müssen. Wenn es darum geht, welchen Projekten mehr Messzeit gegeben werden soll oder wie sich eine große Kollaboration an einem Experiment verhält, ist das eher mit der Tätigkeit eines Regisseurs vergleichbar und nicht so sehr eine Managementaufgabe. Das CERN zu leiten hat von beidem etwas, vom Regisseur und vom Manager. Es ist schwer zu unterscheiden.

Rolf-Dieter Heuer
privat

F&L: Wie weit kommt man mit "Regieanweisungen" in der Forschung?

Rolf-Dieter Heuer: Nicht weit, denn man braucht die Ideen der Wissenschaftler und dafür müssen sie Freiräume haben. Aber – und hier kommt die Regieanweisung ins Spiel – es gibt Randbedingungen: Wenn ein Schauspieler unbedingt eine 50 Quadratmeter große Bühne will und es im Theater nur eine 30 Quadratmeter große Bühne gibt, ist das eine Randbedingung, die ein Schauspieler akzeptieren muss. Genauso haben wir am CERN Randbedingungen, etwa Finanzen oder human ressources. Und diese Randbedingungen müssen von den Wissenschaftlern akzeptiert werden und das muss man ihnen verdeutlichen. Der wissenschaftliche Regisseur handelt an dieser Stelle nicht alleine. Wichtig für die Entscheidungsfindung sind auch die wissenschaftlichen Gremien, die unabhängig und international besetzt sind.

F&L: Sie sagten, die Wissenschaftler brauchen Freiräume, gilt das für die Leitungsebene auch?

Rolf-Dieter Heuer: Ja. Für die Leitungsebene gibt es Randbedingungen, die das große Haus als Ganzes betreffen. Aber innerhalb des Hauses hat die Leitung Freiräume, zum Beispiel zu entscheiden, – bildlich gesprochen – wie die Zimmer eingerichtet werden. Sollen ganze Wände verschoben werden, etwa um einem besonders vielversprechenden Experiment mehr Raum zu geben, gibt es dafür die wissenschaftlichen Gremien. Wissenschaftliche Ziele, Machbarkeitsanalyse, Projektsteuerung, das sind die Freiräume, die die Leitungsebene braucht.

F&L: Nicht nur bei Schauspielern, sondern auch bei Wissenschaftlern kommt es auf Kreativität, Talent und Individualität an. Wie kann das seitens der Leitung gefördert werden?

Rolf-Dieter Heuer: Es gibt die Möglichkeit, das zu fördern, indem man den Wissenschaftlern sagt, macht mal was und kommt dann mit euren Vorschlägen. Man darf nicht jeden Tag nachfragen, wie weit seid ihr. Man muss Vertrauen in die Kreativität der Mitarbeiter setzen, und sich dann – ich nenn es mal das Gesamtkunstwerk – anschauen. Natürlich gibt es auch Diskussionsforen usw., aber es ist ganz wichtig, den Wissenschaftlern erst einmal zu sagen, innerhalb dieser Grenzen könnt ihr nachdenken und einen Vorschlag machen. Diesen Vorschlag kann man in die internationalen Gremien geben, die  die Machbarkeit und Finanzierbarkeit prüfen, und danach kann entschieden werden. In der Regel kommen die Vorschläge von Wissenschaftlerteams, die zum Teil sehr groß sind. Ein Team funktioniert jedoch nicht nur durch eine Ansammlung von Individualisten. Im Team müssen alle zusammenpassen, einigermaßen zumindest. Die Teams haben meist Leitfiguren. Das ist ja auch beim Schauspiel so. Häufig zieht ein Film oder ein Theaterstück durch einen besonderen Schauspieler die Zuschauer an. Ich meine, mit dem Fußball kann man das noch viel besser vergleichen. Wenn Sie im Fußball elf Stars haben, kommt diese Mannschaft nicht weiter, die zerstreiten sich nur. Wenn Sie eine Mannschaft haben, in der alle nur ordentlichen Fußball spielen, kommt diese auch nicht weit. Wir brauchen die gesunde Mischung aus Leitfiguren und denen, die mitarbeiten, das ist das Eigentliche. Man braucht alle und die Mischung macht‘s.

F&L: Wie gehen Sie mit "Forschungsstars" um? Es gibt unter ihnen sicher auch einige "Diven"?

Rolf-Dieter Heuer: Natürlich, es gibt auch "Diven" unter den Wissenschaftlern, es sind ja alles Menschen. Im Wesentlichen muss man mit den "Forschungsstars" umgehen wie mit allen anderen. Vielleicht brauchen sie manchmal etwas mehr Diskussion. Aber ganz wichtig ist, dass man auch "Forschungsstars" kritisch hinterfragt und nicht sagt, ja, ja, wir machen es so, wie du es vorschlägst. Sie wollen sich ja auch mit ihren Vorschlägen reiben und sie wollen das auch geprüft haben.

F&L: Regisseur und Schauspieler sind gemeinsam für den Erfolg eines Stückes verantwortlich. Wer ist bei einer derart großen Forschungseinrichtung wie dem CERN für den Erfolg maßgeblich?

Rolf-Dieter Heuer: Da muss ich gleich korrigieren: Für den Erfolg eines Stückes sind auch diejenigen hinter den Kulissen verantwortlich, sie sind extrem wichtig, nicht nur der Regisseur und die Schauspieler, zum Beispiel das Reinigungsteam. Wenn es im Theater schmutzig ist, geht ja keiner mehr gerne dorthin. Es ist manchmal schade, wenn nur die wissenschaftlichen Leitfiguren auftauchen, zum Beispiel bei Vorträgen und so weiter, denn es ist eine Teamarbeit. Die Wissenschaftler sind für den Erfolg mit verantwortlich, aber es geht nicht ohne die Ingenieure, und die Ingenieure sind nichts ohne die Techniker, das gehört ganz eng zusammen. Wenn es nur um die Theorie geht, sind natürlich die Physiker wichtig, aber keine Theorie kann überleben, ohne experimentell überprüft zu sein. Da kommen dann die experimentellen Physiker und die Ingenieure ins Spiel. Und wenn die Leitungsebene keine klugen Entscheidungen trifft, bleiben die Gastwissenschaftler weg, und wenn die wegbleiben, bricht die Finanzierung weg. Dann hat man keine Daseinsberechtigung mehr. Das ist alles sehr ähnlich wie bei Film und Theater. Wissenschaft ist gar nicht so anders.