Studentin am Laptop
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Digitalisierung an Hochschulen
Wie Studierende von digitalen Lehrangeboten profitieren

Universitäten erproben verschiedene Konzepte zum Einsatz von Online-Kursen. Ein Plädoyer, die erfolgsversprechenden Chancen neugierig zu nutzen.

Von Christoph Meinel 01.02.2019

Selbst im letzten Winkel unserer Welt ist die digitale Transformation angekommen. Immer mehr Menschen, neuerdings auch Maschinen vernetzen sich über das Internet und verquicken die bekannte physische Welt mit den neuen digitalen Räumen für Kommunikation, Unterhaltung, Arbeitswelt, Produktion, Handel, Gesundheitsversorgung und natürlich auch für Forschung und Lehre. Diese Realität ist jedoch an den deutschen Hochschulen und hier im speziellen an deutschen Universitäten nur sehr gebremst angekommen, vor allem was den Bereich der Lehre betrifft.

Während es früher möglich war, mit einem Hochschul-Abschluss für ein ganzes Berufsleben bis zur Rente gut vorbereitet zu sein, hat sich das in Zeiten einer immer schnelleren Produktion und Nivellierung von Wissen ganz dramatisch geändert. Lebenslanges Lernen und digitale Bildung sind die Schlüsselbegriffe, um mit den rasanten technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten. In Deutschland sind dafür aber das Bewusstsein, die Veränderungsbereitschaft und die bereitgestellten Mittel mehr als mangelhaft.

Das Verständnis, dass die Universitäten hier in einer ganz neuen und umfassenderen Weise gefordert sind und in einer durch die digitale Transformation bestimmten Zukunft eine Schlüsselrolle in der Gesellschaft einnehmen werden, und auch die Neugier, diese Veränderung zu gestalten, ist viel zu wenig entwickelt. Ja, die Universität wird sich dafür neu erfinden müssen. In Bezug auf ihren Lehrauftrag und die Organisation der Lehre zeichnen sich die ersten Konturen dieser "Universität der Zukunft" bereits ab.

Universitäten müssen sich neu erfinden

Die Entwicklung der Universität, von je her Ort von Forschung und Lehre lässt sich ganz grob kategorisieren in der populären 1.0, 2.0, 3.0-Terminologie. Ihre Anfänge sind bereits in der griechischen Antike zu verorten, wo große Denker, darunter die Vorsokratiker, Platon und Aristoteles eine Schar von Adepten um sich scharten, um Wissenschaft und Kunst zu betreiben sowie ihre Kenntnisse weiterzugeben.

Bestes Beispiel für eine solche "Universität 1.0" ist die platonische "Akademie". Später als erste mittelalterliche Klöster umfangreiche Bibliotheken aufgebaut hatten und um diese Bibliotheken Universitäten gründeten, kreiste die Gelehrsamkeit um diese Archive des niedergeschriebenen Wissens. Der Buchdruck erweiterte den Wirkungskreis der Universität 2.0 drastisch, ermöglichte er doch die Abkopplung des Wissens vom Meister und dessen massenhafte Vervielfältigung.

Bis heute ist die "Universität 2.0" noch immer der Ort, wo sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie junge Menschen um eine Büchersammlung gruppieren, dieses Wissen mehren, lehren und lernen. Bildungsauftrag dieser Universitäten ist die akademische Ausbildung der 18 bis 25-Jährigen in einer nach Fakultäten strukturierten, fest kanonisierten Disziplin und endet nach aller Erfahrung mit der Graduierung und dem Austritt der Studierenden.

"Eine Universität der Zukunft kann sich nicht mehr nur auf die Ausbildung von jungen Menschen mit einem fest vorgegebenen Schulabschluss kümmern."

In den verschiedenen Phasen der Universitätsentwicklung wuchsen die Universität und ihr Auftrag entlang der jeweils herrschenden Welt- und Gesellschaftsbilder. Heute leben wir im aufziehenden Zeitalter der Digitalisierung, in einer sich zunehmend global vernetzenden Welt.

Dank Digitalisierung explodieren das globale Wissen und die Komplexität unserer Lebenswirklichkeit. Diese speist sich aus der Internationalisierung, Globalisierung, Multikulturalität und den vielen Herausforderungen, die sich daraus für die tägliche Lebens- und Arbeitswelt ergeben.

Eine Universität der Zukunft kann sich nicht mehr nur auf die Ausbildung von jungen Menschen mit einem fest vorgegebenen Schulabschluss kümmern, sondern sie wird gebraucht, um alle Bildungsinteressierten in der sich immer schneller drehenden Welt zu befähigen, sich den Herausforderungen in Wirtschaft, Verwaltung, Gesundheitswesen und Gesellschaft zu stellen und sich an der Fortentwicklung des globalen Wissens zu beteiligen.

Studienorganisation über das Internet – sozial und interaktiv

Das wird nur gelingen, wenn sich eine "Universität 3.0" über das weltumspannende Internet organisiert, nicht um einzelne weise Persönlichkeiten – "Universität 1.0" – oder um regionale Bibliotheken – Universität 2.0. Universität 3.0 wird der zentrale Bildungsort werden für alle, die gesellschaftliche Verantwortung und Führungspositionen übernehmen, der Ort, an dem Forschung, Lehre, Aus- und Weiterbildung in einem dynamischen und kollaborativen Prozess stattfinden kann.

Allein schon aus Kapazitätsgründen können nicht alle Bildungsinteressierte an Universitäten vom Typ "Universität 2.0" aus- und weitergebildet und am Wissensvermehrungsprozess beteiligt werden. Über das Internet aber ist es durchaus möglich, eine beliebige Anzahl von Lernenden zu versammeln und effizient neues sowie auch sehr spezifisches Wissen zu vermitteln.

Bis dato aber krankten eLearning-Angebote stets an einem Mangel an sozialer Interaktion mit anderen Lernern. Diese fehlende soziale Komponente beschränkte die Motivation zum Lernen, sitzt der Lernende doch allein vorm Bildschirm und ist den vielfältigsten Ablenkungen ausgesetzt. Und im Ergebnis stellt sich dann, wenn überhaupt, nur ein sehr bescheidener Lernerfolg ein. Lediglich Autodidakten schaffen es, sich selbst zu motivieren, und autodidaktisch begabt sind sicherlich weniger als ein Prozent der Bevölkerung.

Deutsche Universitäten bereiten Studierende zu wenig auf die Anforderungen einer digital vernetzten Welt vor, sagt Professor Meinel vom Hasso-Plattner-Institut in Potsdam. mauritius images/Science Photo Library/Ktsdesign

Ein online Veranstaltungsformat für universitäre Lehre einer Universität 3.0 hat sich bereits auch in Deutschland sehr erfolgreich etabliert, die MOOCs – Massive Open Online Courses. So betreibt zum Beispiel das Hasso-Plattner-Institut die inzwischen größte europäische MOOC-Plattform "openHPI.de" mit mehr als 500.000 eingeschriebenen Lernern. Studierende können interaktive Online-Kurse mit Zertifikatsabschluss zu verschiedenen Themen im Bereich der Informatik und des Digital Engineering belegen.

Dabei arbeitet das Hasso-Plattner-Institut mit den Schwesterplattformen von SAP, der Weltgesundheitsorganisation WHO, acatech und anderen zusammen. Nach fünf Jahren haben die Plattformen zusammen rund vier Millionen Nutzerinnen und Nutzer, was das Interesse an solchen Online-Lernformaten belegt.

MOOCs bieten aufbereitetes Wissen in digitaler Form an, zum Beispiel über kurze Lernvideos, interaktive Lernaufgaben oder Lesematerial. Das Ganze sollte in strukturierte Kursprogramme eingebunden sein. Ein MOOC hat ein festes Start- und Enddatum. Auf openHPI haben wir gute Erfahrungen mit 6-wöchigen Kursen gemacht.

Jede Woche werden neue, im Umfang begrenzte Lerninhalte für die eingeschriebenen Lerner freigeschaltet, zusammen mit Selbsttests und einer abschließenden Hausaufgabe, deren Bearbeitung in einer festgelegten Zeit (bei openHPI eine Stunde) erfolgen muss und die bewertet wird. Wollen Studierende eine Teilnahmebestätigung erhalten, müssen sie am Ende des Kurses eine Klausur schreiben. Wenn sie über deren Bewertung zusammen mit den Punkten für die wöchentlichen Hausaufgaben mehr als 50 Prozent der insgesamt möglichen Punktezahl erreichen, erhalten sie ein Zertifikat. Rund zehn Prozent der Studierenden konnten dieses Abschlusszertifikat bei openHPI erlangen.

Identitätsprüfung über die Webcam

Die Lernenden sind bei MOOCs eingeladen, sich über Social Media auszutauschen. Gelingt es, sehr viele (mehrere Tausend) Interessente als Teilnehmer an einem MOOCs zu gewinnen ("M" von Massive), dann entfaltet sich in den auf der Plattform bereitgestellten Social-Media-Kanälen – ein reger Austausch der Teilnehmer über den Lernstoff: Fragen werden artikuliert, Widerspruch regt sich, Erläuterungen aus dem jeweils eigenen Erleben werden beigetragen, Lerner schlüpfen in die Rolle von Mentoren, also all die gewohnten und gewünschten Interaktionen in einer Lerngruppe seien es Schulklassen oder Seminargruppen.

Durch die Kursstruktur werden die Lernenden "synchronisiert" und alle sind mit den gleichen Lerninhalten befasst. Es entsteht eine virtuelle Lerngemeinschaft, die es auch autodidaktisch unbegabten Personen ermöglicht, im Netz zu lernen – also denjenigen, die Schwierigkeiten haben, sich im Selbststudium weiterzuentwickeln.

Selbst Credit-Points können online erworben werden. Dazu werden die erbrachten Prüfungsleistungen mittels Webcam einer automatisierten Videoanalyse unterzogen, um die Identität des Prüflings sicherzustellen. Auch die Beurteilung von Zehntausenden von Online-Aufsätzen und anderen individuellen Prüfungslösungen mittels gegenseitiger Beurteilung ("Peer Assessment") ist erprobt und praxistauglich, ohne dass das Lehrpersonal massiv belastet werden muss.

Learning-Analytics-Forschungen am HPI haben gezeigt, dass es zu verlässlichen Ergebnissen führt, wenn Lerner als Teil ihrer eigenen Lernleistungen andere Lerner bewerten. Nicht zuletzt werden dabei Tugenden geschult, denen im Zeitalter flacher werdender Hierarchien, steigender Anforderungen an die Teamfähigkeit und breiter verteilter Verantwortung eine zunehmende Bedeutung zukommt.

Interessanterweise werden solche neuen Formen des Lernens wie die MOOCs nicht nur von jungen Leuten nachgefragt. OpenHPI-Statistiken zeigen, dass über 80 Prozent der auf der Plattform eingeschriebenen Lerner älter als 30 sind, knapp 25 Prozent sogar älter als 50. Ihnen geht es darum, Grundlagenwissen zu erwerben, zum Beispiel "Wie das Internet funktioniert", "Datenbank Management" oder "Sicher im Internet", oder sich mit den neuesten Entwicklungen vertraut zu machen, zum Beispiel "In-Memory Data Management" oder "Blockchain Technologie".

"Junge Leute brauchen nach der allgemeinbildenden Schule auch in Zukunft eine solide wissenschaftliche Grundausbildung."

Für Lernbegierige im Berufsleben und mit Familie gibt es keine bequemere und gleichzeitig aktuellere Form der Weiterbildung. Und Weiterbildung wird immer notwendiger in einer Zeit, in der sich das gesellschaftliche und berufliche Leben immer rasanter verändert.

Die auf solchen Lernplattformen wie openHPI massenhaft anfallenden Messdaten geben nicht nur Auskunft über die Wünsche und Vorlieben der Lerner, sondern sie können auch genutzt werden, um den Lernerfolg bei den verschiedenen Angeboten zu messen oder die Gestaltung von Lehrinhalten zu optimieren.

Im Gegensatz zu früheren didaktischen Forschungen sind die im Rahmen solcher "Learning Analytics" ermittelten Erkenntnisse objektiv und viel aussagefähiger, einfach weil sich die Untersuchungen nicht auf Beobachtungen von zufälligen kleinen Schulklassen oder Seminargruppen beziehen, sondern auf das Verhalten von Zehntausenden von Lernern.

Analysen aus den Learning Analytics zeigen beispielsweise, dass Lernvideos auf nicht länger als zehn Minuten sein sollten, damit nicht abgeschaltet wird, oder dass die Einführung von Gamification-Elementen, wie bewerteten Selbsttests, Würdigungen für besondere Lernfortschritte oder die Kommunikation von Vergleichsstatistiken, erheblich zur Lernmotivation beitragen. So liegen die Abschlussquoten bei den verschiedenen Angeboten der openHPI-Plattform bei circa 30 Prozent, ein Wert der sich durchaus mit Abschlussquoten bei analogen Lernangeboten messen kann.

Die Universität 3.0 wird aber keinesfalls die Universität 2.0 ersetzen, wie die es nicht geschafft hat, die "charismatischen Weisen" der Universität 1.0 zu verdrängen. Junge Leute brauchen nach der allgemeinbildenden Schule in einer ersten selbständigen Lebensphase außerhalb des Elternhauses auch in Zukunft eine solide wissenschaftliche Grundausbildung und müssen das selbständige Aneignen neun Wissens erlernen.

Internationale Experten klären spezifische Fragen

Hierzu hat die Universität 2.0 gute Traditionen ausgebildet, wenn man auch davon ausgehen kann, dass es zur späteren Aneignung von ganz frischem und immer tiefer spezialisiertem neuen Wissens keiner hunderttausend verschiedener Bachelorstudiengänge braucht, wie von deutschen Unis missverstanden angeboten, sondern sehr grundlegend und breit angelegter (Grund-)Studienangebote, die jeweils vorbereiten auf eine spätere technische, naturwissenschaftliche, medizinische oder sozial- und gesellschaftswissenschaftliche Spezialisierung.

Diese Spezialisierungen werden dann im Laufe des Lebens immer wieder mit ganz aktuellem, neuem Wissen aufzufrischen, auszubauen oder ganz neu zu erwerben sein. Abgestandene, langfristig und bürokratisch akkreditierte Studiengänge werden dazu sicher nicht geeignet sein, einfach aufgrund fehlender Aktualität und Flexibilität.

Überhaupt wird es nicht darauf ankommen, sich mit einem Abschlusszeugnis eines bestimmten Faches als Fachmann oder Fachfrau auszuweisen, sondern mit einem Potpourri von Zertifikaten über die für die jeweilige berufliche oder gesellschaftliche Tätigkeit aktuell benötigten Spezialqualifikationen.

Diese Spezialqualifikationen können unmöglich vermittelt werden von Professoren und Professorinnen einer Universität 2.0, auch nicht von allen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen eines Landes, sondern nur von den in diesen Spezialbereichen Forschenden, an welchem Ort in dieser Welt auch immer sie tätig sind.

Die Universität 3.0 bietet die Möglichkeit, genau diese Fülle von höchstspezialisiertem aktuellem Wissen von über die Welt verteilten Spezialisten interessierten Lernenden an jedem Ort und jeden Lebensalters anzubieten und zu vermitteln.