Mit Würfeln wurde das Wort "Pisa" buchstabiert
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Internationaler Bildungsvergleich
Deutschland erhält schlechtes Pisa-Zeugnis

Deutsche Jugendliche schneiden bei der aktuellen Pisa-Studie so schlecht ab wie nie. Ergebnisse und Einschätzungen des Deutschen Philologenverbands.

07.12.2023

Die deutschen Schülerinnen und Schüler haben in der internationalen Leistungsstudie Pisa im Jahr 2022 so schlecht abgeschnitten wie noch nie zuvor. Das vermeldete die Deutsche Presse-Agentur (dpa) am Dienstag. Sowohl im Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften handle es sich um die niedrigsten Werte, die für Deutschland jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden. Auch international sei die durchschnittliche Leistung drastisch gesunken, teilte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) am Dienstag in Berlin mit. Es ist das erste Pisa-Zeugnis seit der Corona-Pandemie.

Der Schwerpunkt der Studie lag dieses Mal auf der Mathematik. Die deutschen Schülerinnen und Schüler stürzten demnach verglichen mit der vorherigen Studie im Ländervergleich besonders stark ab. Sie erreichten einen Punktwert von 475, bei der vorherigen Untersuchung, die 2019 veröffentlicht wurde, waren es noch 500. Im Lesen kamen sie auf 480 (2019: 498) und in Naturwissenschaften 492 (2019: 503).

In der aktuellen Erhebung liegt Deutschland im internationalen Vergleich in den Bereichen Mathematik und Lesekompetenz dennoch nahe am OECD-Durchschnitt und in Naturwissenschaften über dem OECD-Durchschnitt, doch das ist kein Grund zum Aufatmen. Den Expertinnen und Experten zufolge ist nämlich nicht nur die Lage in Deutschland besorgniserregend: In diesem Zyklus habe es einen noch nie dagewesenen Leistungsabfall gegeben, hieß es in dem Bericht. "Im Vergleich zu 2018 sank die durchschnittliche Leistung in den OECD-Ländern um 10 Punkte im Lesen und fast 15 Punkte in Mathematik." Letzteres sei fast das Dreifache aller aufeinanderfolgenden Veränderungen.

Nur sehr wenige OECD-Staaten hätten ihr Abschneiden zwischen 2018 und 2022 verbessern können. Unter diesen Ländern ist Japan im Lesen und in den Naturwissenschaften sowie Italien, Irland und Lettland in den Naturwissenschaften.

Entlastung von Lehrkräften und zielführende Digitalisierungskonzepte

Eine Ursache für das schlechte Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler sehen die Autorinnen und Autoren der Studie unter anderem in der Corona-Pandemie. Die Ergebnisse zeigten, dass die Schulschließungen einen negativen Effekt auf den Kompetenzerwerb hatten. In Deutschland sei der Distanzunterricht weniger mit digitalen Medien und mehr mit Materialien, die an die Jugendlichen geschickt wurden, bestritten worden als im OECD-Durchschnitt.

Professorin Dr. Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbands, sprach auf Nachfrage von Forschung & Lehre von Unterschieden in der Qualität der digitalen Lehre. Eine Bewertung traf sie nicht. Sie plädierte für eine offene Auseinandersetzung mit der Digitalisierung und ihren Möglichkeiten für die Lehre: "Keine Glorifizierung, aber einen überlegten Einsatz, dort wo er lern- und erkenntnisfördernd ist". Das entspreche dem Kern von Bildung: Auf der Basis von Wissen, Einstellungen und Fähigkeiten einen reflektierten Blick auf sich selbst und die Umwelt zu gewinnen. "Privathandys sind sicher kein geeignetes Instrument für den Unterricht, aber gut konfigurierte Tablets oder Laptops mit hochwertiger Lernsoftware ohne Ablenkungsanwendungen wie etwa Social Media sind wiederum unterstützenswert und haben klug eingesetzt einen Mehrwert für den Unterricht", so Lin-Klitzing.

Insgesamt zeigten die Ergebnisse der PISA-Studie Handlungsbedarf. "Obwohl die Studie schulische Bildungsziele als Gesamtheit nicht ausreichend abbildet, bestätigt sie doch insgesamt leider negative Trends, die wir seit Jahren beobachten", teilte der Deutsche Philologenverband nach Veröffentlichung der Ergebnisse mit. Die Gründe seien laut Lin-Klitzing zum Teil hausgemacht. "Es ist es wichtig, dass die Politik den Fachunterricht wieder zur Priorität erklärt. Lehrkräfte müssen umgehend und nachhaltig von unterrichtsfernen Aufgaben entlastet werden – sie sind weder Hilfskräfte in der Verwaltung, Sozialarbeiter noch Reiseverkehrskaufleute", so die Bundesvorsitzende.

Im Schulalltag müssten Lehrkräfte in zahlreiche Rollen schlüpfen und hätten weniger Zeit für den eigentlichen Unterricht. Immer mehr Unterrichtszeit gehe verloren. Im Gespräch mit Forschung & Lehre nannte sie das Beispiel einer Klassenfahrt, bei der in der Regel die komplette Organisation bei den Lehrkräften liege. "Genehmigung, nebst Geldeinholen und Abrechnung, Datenschutz, Dokumentationen oder das wiederholte Einholen von Zustimmungen – jedes Jahr neu", betonte die Bundesvorsitzende.

Fehlende Sprachkenntnisse erschweren Lernerfolg

Ursache für das schlechte Abschneiden vieler Schülerinnen und Schülern sind laut Autorinnen und Autoren der Studie auch fehlende Sprachkenntnisse. "Ein zentraler Grund ist sicherlich, dass wir es nach wie vor nicht geschafft haben, eine frühe Sprachförderung für alle, die sie benötigen, durchgängig sicherzustellen", sagte Studienleiterin Doris Lewalter, Bildungsforscherin an der Technischen Universität München und Vorstandsvorsitzende des Zentrums für internationale Bildungsvergleichsstudien. "Wenn wir Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund haben, können wir nicht davon ausgehen, dass sie die deutsche Bildungssprache schon beherrschen, wenn sie nach Deutschland kommen."

Dem stimmt Lin-Klitzing vom Deutschen Philologenverband zu. Sie plädierte gegenüber Forschung & Lehre für vorschulische Sprachtests, um sicherzustellen, dass Schülerinnen und Schüler mit einem ausreichenden Sprachniveau in die Schule starteten und im Unterricht damit alles sprachlich verfolgen könnten. "Das Beherrschen der deutschen Sprache ist und bleibt die Grundlage unserer Kultur und damit das Fundament unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wir dürfen es einfach nicht hinnehmen, dass sie von so vielen jungen Menschen in unserem Land nicht ausreichend beherrscht wird."

Sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler müssten weiterhin speziell gefördert werden. Gleichzeitig forderte Lin-Klitzing  auch insgesamt stärker in die individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler zu investieren. Die Schulsysteme als solche seien nicht das Problem für schlechte PISA-Ergebnisse. Das zeige die Studie, nach der 12 Prozent der Varianz der Mathematikleistungen auf Unterschiede zwischen Bildungssysteme zurückzuführen seien. Wichtig sei, die Qualität der Lehre im bestehenden System zu fördern – durch gute Unterrichtskonzepte und Zeit für Lehrkräfte, diese auch umzusetzen.

Damit verbunden plädierte Lin-Klitzing im Gespräch für eine nachhaltige Lehrkräftebildung. Bedeutet: "Nicht nur punktuelle Workshops, sondern ein strukturiertes und kontinuierliches Fortbildungskonzept." Mit Blick auf die Digitalisierung sei dabei wichtig, dass die fachliche Fortbildung im Mittelpunkt stehe und nicht ein digitales Tool. "Es muss darum gehen, wie Digitalisierung ein bestimmtes Fach verändert und wie digitale Tools in diesem Fach demgemäß sinnvoll eingesetzt werden können, um einen klug digital unterstützten Präsenzunterricht zu stärken." Wenig hilfreich seien Kurse, die sich allein mit der Nutzung von digitalen Tools ohne konkreten Anwendungsbezug beschäftigten.

Was ist die Pisa-Studie?

Pisa steht für "Programme for International Student Assessment" und ist die größte internationale Schulleistungsvergleichsstudie. Sie wird von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) durchgeführt. Es werden die Kompetenzen von 15-jährigen Jugendlichen beim Lesen, in der Mathematik und den Naturwissenschaften erfasst. Seit dem Jahr 2000 wird sie alle drei Jahre durchgeführt. Die diesjährige Studie ist die erste nach Beginn der Corona-Pandemie. Diesmal standen die mathematischen Kompetenzen im Mittelpunkt.

Die erste Vergleichsstudie hatte für den "Pisa-Schock" gesorgt: Die deutschen 15-Jährigen schnitten extrem schlecht ab, zudem stand ein beschämend enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen im Pisa-Zeugnis. Die Folge war eine heftige Bildungsdebatte. Danach ging es in den Pisa-Studien für Deutschland zwar stetig bergauf mit den Ergebnissen, aber seit 2016 sinken die Werte wieder.

Die Studie ist eine Kompetenzmessung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Leistungsentwicklung einzelner Schüler wird nicht erfasst. Kausale Zusammenhänge liefert PISA damit nicht, genauso wenig wie konkrete Vorschläge für einen anderen Unterricht, da der Unterricht nicht Inhalt oder Ziel dieser Untersuchung ist. Auch bilde eine solche Kompetenzmessung in ausgewählten Domänen nicht die gesamten schulischen Bildungsziele ab, wie Vertreterinnen und Vertreter aus dem Bildungsbereich betonen. Hierzu gehöre für Schülerinnen und Schüler etwa auch zu lernen, wie sie sich demokratisch einbringen und am gesellschaftlichen Diskurs teilhaben können.

Aktualisierte Fassung einer zuerst am 5. Dezember veröffentlichten Version, ergänzt um Einschätzungen der Bundesvorsitzenden des Deutschen Philologenverbands, Prof. Susanne Lin-Klitzing.

kas/dpa