Polizeiauto patroulliert zwischen Spaziergängern im Englischen Garten
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Populismus und Corona
Politikwechsel könnte Populismus schwächen

Wie wandeln sich Staat und Gesellschaft in der Corona-Krise? Bleibt darin Raum für Populismus? Andreas Reckwitz hält mehrere Szenarien für denkbar.

Von Claudia Krapp 05.05.2020

Forschung & Lehre: Herr Professor Reckwitz, Sie haben vergangenes Jahr in einem Interview gesagt, Populismus sei ein Symptom des gesellschaftlichen Wandels. Die Corona-Pandemie ändert das gesellschaftliche Leben derzeit grundlegend – warum haben wir dann erst nach einigen Wochen des Lockdowns von Populisten gehört?

Andreas Reckwitz: Die Corona-Krise und der völlig überraschende Lockdown trafen auf eine Gesellschaft, in der es prinzipiell einen sogenannten "Cleavage" gibt: eine neue, das politische Feld durchschneide Konfliktlinie, aus der in den westlichen Gesellschaften in den 2010er Jahren der Populismus entstand. Die alte, das ganze 20. Jahrhundert prägende Konfliktlinie zwischen sozialdemokratischen und konservativen Positionen wird zwar nicht zur Gänze abgelöst, aber doch überlagert von einem neuen Cleavage zwischen liberalem, postmaterialistischem Kosmopolitismus und national orientiertem, stärker materialistischem Kommunitarismus. Die Differenzen werden an Fragen wie der Haltung zu Globalisierung und Migration oder dem Klimawandel deutlich. Der politische Populismus ist dabei eine radikalisierte Artikulation der zweiten Position. Aber interessanterweise führte der Lockdown zunächst nicht zu einem politischen Konflikt entlang dieser Konfliktlinie. Meine Interpretation wäre, dass die Lockdown-Politik – geht man von den konträren Deutungsmustern der Kosmopoliten und er Kommunitarier aus – in vielleicht verblüffender Weise von beiden Lagern als sinnvoll eingeordnet werden konnte, und es daher nicht zu Protesten kam – auch nicht von den Populisten. Für das liberal-kosmopolitische Lager ist Gesundheit ein extrem hoher Wert, ebenso wie der Schutz der Menschenwürde und des Lebens des Individuums. Vor diesem Hintergrund erscheint der Lockdown gerechtfertigt, gewissermaßen als angewandter Kantianismus. Für das kommuntarische Lager sind hingegen Ordnung und Sicherheit ein sehr hoher Wert – aber auch vor diesem Hintergrund erscheint der Lockdown legitim und nötig. Die Grenzschließungen, die man jetzt betrieben hat, sind sogar ein alter populistischer Traum. Insofern konnten zunächst beide Lager recht gut damit leben.

Portraitfoto von Prof. Dr. Andreas Reckwitz
Andreas Reckwitz ist Professor für Allgemeine Soziologie an der HU Berlin. picture alliance/Geisler-Fotopress

F&L: Sie waren schon vor der Corona-Krise der Ansicht, dass die Politik die Gesellschaft wieder stärker regulieren müsse, um dem Erfolg der Populisten entgegen zu wirken – etwa durch die Definition sozialer Mindeststandards und kultureller Regeln des Zusammenlebens. Nun macht die Politik genau das. Hat sich Populismus dann mit oder nach der Krise erledigt?

Andreas Reckwitz: Generell hat der Dynamisierungsliberalismus, der seit den 1980er Jahren die politische Agenda beherrscht, eine Reihe negativer Folgen: zum Beispiel eine Vernachlässigung öffentlicher Infrastruktur, wachsende soziale Ungleichheit, kulturelle Desintegration. Was sich schon seit zehn Jahren andeutet, ist eine Redefinition von Staatlichkeit in Richtung eines Infrastrukturstaates und eines resilienten Staates, man könnte auch von einem einbettenden Liberalismus sprechen. Sowohl auf Seiten der Linken als auch der Konservativen gibt es entsprechende Ansätze. Meines Erachtens sollte ein solcher politischer Paradigmenwechsel übrigens nicht allein deshalb vollzogen werden, um den Populisten das Wasser abzugraben. Das kann kein Argument sein. Vielmehr zeigt sich ein Lernprozess im demokratischen Spektrum selbst. Der einbettende Liberalismus wäre eine Alternative zum autoritären Populismus à la Orban oder Bolsonaro. Tatsächlich könnte die Corona-Krise einen Beitrag zu dieser Redefinition von Staatlichkeit liefern, etwa durch einen Ausbau des Katastrophenschutzes und der Pandemieprävention. Der Nebeneffekt: Falls langfristig der Staat sich wirklich in Richtung eines resilienten Infrastrukturstaates entwickelt und überzeugend agiert, würde sich die Anhängerschaft der Populisten wohl zumindest reduzieren.

F&L: Angesichts kursierender Verschwörungstheorien zu Herkunft und Umgang mit dem Virus und der internationalen politischen (Ohn-)Macht – welche Konsequenzen aus der Corona-Pandemie könnten Populisten bestärken?

Andreas Reckwitz: Das ist schwierig zu sagen. Mehrere Szenarien sind denkbar: Falls die Corona-Krise tatsächlich einen Politikwechsel in Richtung eines resilienten Infrastrukturstaates ermutigt, würde der Populismus wohl an Attraktivität verlieren. Aktuell ist das der Fall. Andererseits: Kommt es zu einer heftigen Wirtschaftskrise durch die Corona-Politik, könnten Populisten von ökonomischen Abstiegsängsten profitieren. Übrigens zeigt sich in den USA, dass Präsident Trump leicht wieder auf der populistischen Klaviatur spielt, indem er die liberale Ostküste gegen andere Bundesstaaten ausspielt oder auf altvertraute Wissenschaftsskepsis zurückgreift. Hier wird die Krise für das bekannte populistische Freund-Feind-Schema gegen die "liberalen Eliten" benutzt. Wie bereits gesagt, muss sich die Krise nicht von vornherein in die Konfliktlinie zwischen Liberalen und Populisten übersetzen, aber eine solche Instrumentalisierung ist, wie man sieht, durchaus möglich – in einer extrem polarisierten Gesellschaft wie den USA (oder in Frankreich) sicherlich umso mehr.

F&L: Die Politik hat im Lockdown mit starken Regulierungen in das Leben der Bevölkerung eingegriffen, anfangs nur mit verhaltenem Widerstand der Opposition und der Bevölkerung. Basis der politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Handlungen, so scheint es, waren anfangs allein wissenschaftliche Ratschläge einiger weniger epidemiologischer Experten. Die Datenlage ist dabei weiterhin dünn. Inzwischen werden die Stimmen aus und über die übergangenen Gesellschaftsschichten lauter, die politik-beratenden Forschungsfelder weiten sich aus. Wie beurteilen sie diese Entwicklung?

Andreas Reckwitz: Generell ist das, was wir in der Corona-Krise erleben, ein Fall staatlichen Risikomanagements großen Stils. Ein solches Risikomanagement hat immer das Problem, dass es verschiedene Risiken gegeneinander abwägen muss – zum Beispiel in diesem Fall die Vermeidung von Todesfällen, die Bürgerrechte und die ökonomische Existenzsicherung. Das Ideal des Risikomanagements ist Sicherheit – aber das ist eine Zielmarke, die unerreichbar ist. Die Frage ist: wie viele Risiken der verschiedenen Sorten, wie viel Unsicherheit ist die Gesellschaft bereit zu tragen? Hinzu kommt: Modernes Risikomanagement ist immer stark von wissenschaftlicher Expertise beeinflusst, hier vor allem von Seiten der Virologie. Auch das ist eine Gratwanderung zwischen Expertokratie und politischer Entscheidung. Wissenschaftliche Interpretationen sind dabei selber häufig kontrovers und veränderlich. Generell habe ich den Eindruck, dass nach der ersten "Schrecksekunde" mittlerweile der für eine liberale Demokratie normale Prozess des öffentlichen Diskurses über verschiedene Vor- und Nachteile bestimmter Maßnahmen stattfindet.

"In einer liberalen Demokratie muss politisches Handeln immer Gegenstand eines öffentlichen Diskurses sein." Andreas Reckwitz

F&L: Inwiefern ist das politische Handeln in der Krise überhaupt verhandelbar? Was bedeutet das für unsere so vermeintlich vielfältige Demokratie und Debattenkultur?

Andreas Reckwitz: In einer liberalen Demokratie muss politisches Handeln immer Gegenstand eines öffentlichen Diskurses sein, der Vor- und Nachteile abwägt und in dem verschiedene Interessen und Werte zu Wort kommen. Eine Politik der Alternativlosigkeit sprengt den Pluralismus der liberalen Demokratie. Es gibt ständig neue 'Krisen': wenn in jeder Krise der Pluralismus eingedämmt werden soll, wäre die liberale Demokratie schnell am Ende.

F&L: Die Corona-Pandemie krempelt gerade viele Aspekte des gesellschaftlichen Miteinanders um. Werte wie Freiheit, Selbstverwirklichung und Wohlstand, die vorher Aushängeschilder unserer Gesellschaft waren, werden nun durch Solidarität und Zusammenhalt ersetzt. Das Gemeinwohl steht auf einmal über dem Individuum und dem Wettbewerb. Gleichzeitig offenbart die Krise, indem sie jeden unterschiedlich hart trifft, dass Stand, Klasse und Privilegien unsere Gesellschaft spalten statt einen. Werden unsere gesellschaftlichen Werte nun insgesamt neu verhandelt?

Andreas Reckwitz: Ich bin skeptisch gegenüber der These, dass die Corona-Krise einen Epochenbruch bedeutet. Natürlich wird sich nach der Corona-Krise das eine oder andere gegenüber der Vor-Corona-Zeit verändert haben – allein schon infolge der einsetzenden Wirtschaftskrise –, aber dass sich die Gesellschaft insgesamt durch ein einziges Ereignis in ihren ökonomischen und kulturellen Grundstrukturen wandelt, ist unrealistisch. Diese Vorstellung 'Alles sollte anders werden' scheint mir sehr stark ein mediales Diskursphänomen zu sein, auch ein Ausdruck der kritischen Disposition seit 2010, genährt auch durch die Debatte um den Klimawandel. Der Bereich, in dem ich am ehesten einen Strukturwandel vermuten würde, ist wie gesagt in der Ausrichtung staatlicher Politik. Dort könnte tatsächlich die Frage wichtig werden, inwiefern der Dynamisierungsliberalismus der letzten Jahrzehnte eine neue 'Erdung' in einer Politik brächte, die sich etwa um eine Grundversorgung sozialer Güter – zum Beispiel im Gesundheitswesen – kümmert oder auch eine Entprekarisierung in der service class vorantreibt, die jetzt systemrelevant scheint. Aber ein solcher möglicher Politikwechsel würde keinen Epochenbruch bedeuten und sämtliche privaten Werte und Lebensziele umstürzen. Die Gesellschaft ist sehr viel mehr als die Politik.