Ein Teilnehmer mit einer Deutschland-Flagge kommt zum Treffen der AfD-Gruppierung "Der Flügel".
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Rechtsextremismus
Rechtsaußen hat viele Facetten

Der Erfolg der AfD liegt in der Angst vor Veränderung und ausgrenzenden Mentalitäten. Ein Rechtsextremismus-Experte erklärt rechte Beweggründe.

Von Claudia Krapp 22.10.2019

Forschung & Lehre: Herr Virchow, der kontinuierliche Aufstieg der AfD markiert eine rechtspopulistische Entwicklung in Deutschland. Sie forschen seit 25 Jahren zu diesem Thema. Wie erklären Sie sich das Erstarken der rechten Kräfte in der Politik?

Fabian Virchow: In Deutschland gab es – im Unterschied zu vielen anderen Ländern – eine sogenannte rechtspopulistische Lücke. Regelmäßige Meinungsumfragen zeigen schon lange, dass es bei den Wählerinnen und Wählern ein Potenzial für eine rechtspopulistische Partei gibt. Auch von politischen Kräften im rechten und nationalkonservativen Spektrum gab es seit Gründung der BRD den Versuch, ein parteipolitisches Projekt zu etablieren, das die CDU und SPD von rechts unter Druck setzt. Dieser langgehegte Wunsch ließ sich über viele Jahrzehnte nicht durchsetzen. Die AfD hat die Lücke nun geschlossen.

F&L: Was war der Startschuss für die AfD?

Fabian Virchow: Das hat mit mehreren krisenhaften Entwicklungen zu tun: Zum einen mit der Finanzkrise Ende der Nullerjahre, die für viele Menschen die Frage nach der ökonomischen Sicherheit aufgeworfen hat – also was mit ihrem Ersparten und ihrem Eigentum passiert. Auch wenn andere Länder davon noch stärker betroffen waren, war es auch in Deutschland eine sehr tiefgehende ökonomische Krise, die für viele Menschen die Frage aufwarf, wie die Handlungsmöglichkeiten der Politik im nationalstaatlichen Rahmen sind. Welche Durchgriffsmöglichkeiten hat die Regierung des Nationalstaats und wo liegt die Macht auf der europäischen Ebene? In dieser Situation ist dann die AfD gegründet worden, die zunächst hauptsächlich das Thema Anti-EU und Anti-Euro hochgezogen hat. Mit diesem Markenkern hat sich die Partei etabliert.

Portraitfoto von Prof. Dr. Fabian Virchow
Der Soziologe Fabian Virchow ist Professor für Theorien der Gesellschaft und politischen Handelns an der Hochschule Düsseldorf. Seit 2010 leitet er den Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus. privat

F&L: Sie sagten, es gab mehrere Krisen. Die Finanzkrise und ...?

Fabian Virchow: Das zweite zentrale Moment ist die sogenannte Flüchtlings-Krise. Viele Menschen empfanden die Einwanderung 2015 als ein Zuviel an Migration, zu wenig staatliche Kontrolle an den Grenzen. Einige Menschen waren schon immer migrationsfeindlich, andere fühlten sich durch die Einwanderung unwohl und beobachteten sie erstmal. Diese Unsicherheit und Angst der zweiten Gruppe versuchen die Rechtspopulisten und -extremen bis heute auszunutzen und ideologisch zu unterfüttern, damit diese in den Rechtsaußen-Kräften eine dauerhafte politische Heimat finden. Bei der AfD finden sich viele derjenigen wieder, die mit einer liberalen, offenen Gesellschaft, die Unterschiedlichkeit in Herkunft, Religion und sexueller Orientierung akzeptiert, nicht umgehen können oder diese ablehnen. Auch die Bedrohung durch die Klimakrise verkraften nicht alle. Die AfD nimmt all diese Facetten auf und bespielt sie geschickt. Insofern sind mehrere äußere Krisen zusammengekommen. Parallel haben die ehemaligen Volksparteien einen Teil ihrer Stammwählerschaft verloren. Bei der SPD lag das stark an den Hartz-IV-Reformen. Bei der CDU/CSU lag es größtenteils am Vorantreiben der ökonomischen Globalisierung und den damit verbundenen kulturellen und sozialen Verwerfungen.

F&L: Ist die Entwicklung des Rechtspopulismus in Deutschland mit anderen EU-Ländern vergleichbar?

Fabian Virchow: Im Grunde gilt dasselbe, aber einige Faktoren sind doch spezifisch. In manchen osteuropäischen Ländern spielt Religion eine große Rolle. Beispielsweise in Polen, insbesondere in den ländlichen Regionen, gibt es ein traditionelles Verständnis von Religion, das wenig gesellschaftliche Veränderung billigt. Mit Religion sind in diesem Fall konservativere Weltbilder verbunden, die Rechtspopulismus begünstigen. In Italien war dagegen die politische Krise noch viel tiefer als in der BRD. Dort wurde das Parteiensystem völlig durcheinander gewürfelt. In Spanien gab es eine massive ökonomische Krise und Bestechungsskandale der Volksparteien, wodurch es heute auch dort eine relativ erfolgreiche rechtspopulistische Partei gibt, obwohl es lange hieß, das sei in Spanien nicht möglich. Dort waren die Rechtspopulisten lange in der konservativen Partei gebunden und aufgehoben. Nach den Erfolgen in anderen europäischen Ländern haben diese es dann auch mal alleine versucht. Es gibt also unter den Rechtspopulisten auch gewisse transnationale Lernprozesse. Aber nicht immer ist es eine unmittelbare Krisensituation, die den Aufstieg rechter Parteien begünstigt. Österreich ging es beispielsweise ökonomisch relativ gut in den letzten Jahren. Dort hat sich die FPÖ schon vor 25 Jahren etabliert. Das hat mit der politischen Kultur zu tun, beispielsweise mit den rechten Burschenschaften, die in Österreich stark in gesellschaftlichen Strukturen wie Verwaltung und Ministerien verankert sind.

F&L: Hat sich der Rechtspopulismus im Osten anders entwickelt als im Westen?

Fabian Virchow: Der Niedergang der linken Parteien in vielen europäischen Ländern ist nicht zu vernachlässigen, vor allem in Osteuropa, wo linke Parteien für eine überwundene historische Periode stehen. Wer Protest ausdrücken will und das vorher über linke Parteien getan hat, ist heute vielfach geneigt, rechts zu wählen. Auch in Ostdeutschland war lange die PDS, die heutige Linke, die klassische Protestpartei. Mittlerweile regiert die Linkspartei mit und gehört zum Establishment. Wer heute im Osten seine Grundunzufriedenheit ausdrücken will, macht das entweder bei den Grünen oder bei der AfD – je nach Weltbild. Denn eine Protestwahl hat immer auch eine programmatische Richtung.

"Rechtspopulisten sammeln alles ein, was es an Widerspruch und Unzufriedenheit gibt, aus allen Bereichen."

F&L: Die Rechtspopulisten nutzen die Unzufriedenheit der Menschen für sich. Bei ihrem Angebot fühlen sich verschiedenste enttäuschte Wählergruppen aufgehoben. Warum?

Fabian Virchow: Die Rechtspopulisten sammeln sozusagen alles ein, was es an Widerspruch und Unzufriedenheit gibt, aus allen Bereichen. Sowohl bei den migrations-feindlichen Menschen als auch bei denen, denen die Gleichstellung der Geschlechter zu weit geht und sich über Gendersternchen aufregen.

F&L: Was macht den Unterschied, ob jemand "nur" rechts wählt oder auch gewaltbereit rechtsextrem wird?

Fabian Virchow: Rechtspopulisten wollen meist nicht den Systemsturz, sondern einen Wechsel der Eliten. Dabei geht es nicht darum, die Demokratie zu beseitigen, sondern hin zu einer konservativeren, restriktiveren Politik zu verändern. Vielleicht auch hin zu einem Präsidialsystem, das deutlich weniger politische Partizipation, dafür mehr Akklamation vorsieht. Rechtsextreme wollen dagegen einen Systemsturz und eine radikale Veränderung der Gesellschaft. Soweit die Lehrliteratur. Eine scharfe Trennung gibt es unter den Parteien meines Erachtens vielfach aber nicht. Die AfD und der Front National etwa vereinigen beide Typen. Auch die Trennung des rechtsextremen "Flügels" der AfD vom rechtspopulistischen Teil der Partei ist nur eine grobe Unterscheidung, die den Kern aber trifft. Ein Teil der AfD will im Grunde nur eine deutlich konservativere CDU. Der Teil um Höcke will dagegen eine andere Republik, will eingewanderte Menschen aus Deutschland vertreiben und die jüngere Geschichte zurückdrehen – wie auch immer das funktionieren soll. Die strategische Orientierung des rechtsextremen "Flügels" wird dabei von der restlichen AfD nicht offensiv in Frage gestellt beziehungsweise geschützt, allen voran von Herrn Gauland. Zumindest solange, wie sich die Partei im Wahlkampf befindet, weist die AfD alle Aufforderungen zurück, sich vom radikal-völkischen Flügel abzugrenzen. Einer in weiten Teilen extrem rechten Partei wie der AfD die Wahlstimme zu geben und gewalttätig zu sein, muss kein Widerspruch sein. Die AfD ist Teil eines diffusen Milieus, in dem vielfach auch der Gewalt das Wort geredet wird beziehungsweise eine scharfe Abgrenzung davon fehlt. Unter denjenigen, die Gewalt ausüben – von nächtlichen Brandanschlägen, Attacken auf Menschen mit anderer Hautfarbe oder Kopftuch bis hin zu terroristischen Anschlägen – sind sowohl klassisch rechtsextreme Personen als auch Menschen, die nichts mit Neonazis zu tun haben. Die Grenze zur Gewalt überschreitet eine Person häufig in einer Situation, die sie als akute Bedrohung empfindet.

F&L: Was treibt Menschen dazu, diese Schwelle zu überschreiten?

Fabian Virchow: Erstens das schwindende Vertrauen, dass Politik für die persönliche "Notlage" eine Lösung findet. Zweitens eine generelle Enthemmung bei Personen, die in ihrem sozialen Umfeld an Gewalt gewöhnt sind und diese als normal empfinden. Drittens ein Weltbild, das die Wahrnehmung der Situation verzerrt und bedrohlicher erscheinen lässt als sie ist. Bei einer vermeintlichen Bedrohung radikalisieren sich auch Leute, die vorher nie gewalttätig waren. Und viertens spielt natürlich das Internet eine Rolle, wodurch rechtspopulistische Personen schnell und einfach Gleichgesinnte finden, die sich gegenseitig pushen und stärken können. Soziale Medien eignen sich auch hervorragend zur schnellen Mobilisierung mehrerer Gruppen, wie es beispielsweise 2018 in Chemnitz passiert ist, als ein breites Spektrum – von rechten Hooligans bis zu AfD-Anhängern – gleichermaßen auf die Straße gingen.

"Rechtsextreme haben in der Regel antisemitische und rassistische Denkmuster."

F&L: Vor kurzem griff ein bewaffneter Rechtsextremer die Synagoge in Halle an. Wie hängen Rechtsextremismus und Antisemitismus zusammen?

Fabian Virchow: Antisemitismus setzte im späten 18. und 19. Jahrhundert ein, als Rassentheorien aufkamen und versucht wurde, wissenschaftlich nachzuweisen, dass sich Rassen hierarchisch unterscheiden. Für die Zeit vorher wird von religiös begründetem Judenhass gesprochen. Judenhass hat es über viele Jahrhunderte in unterschiedlicher Form gegeben. Rechtsextremismus – also die Ablehnung moderner, auf dem Anspruch von Gleichheit beruhender Gesellschaften und die Idee einer Gesellschaft, die auf einer biologistischen Welterklärung beruht – gibt es seit dem frühen 20. Jahrhundert. Wobei es völkisches Denken schon vorher gab. Wenn wir von Rechtsextremismus sprechen, gibt es immer auch eine antisemitische Komponente, bei der Juden für alles Schlechte auf dieser Welt verantwortlich gemacht werden. Dabei wird auch unterstellt, Juden würden überproportional Einfluss nehmen auf das, was in einer Gesellschaft passiert – im Zweifel zum Nachteil der Deutschen. Rechtsextreme haben in der Regel antisemitische Denkmuster, aber es gibt auch Antisemitismus, der nicht im rechtsextremen Bereich liegt. Rechtsextremismus ist jedoch immer auch Rassismus – also die Einstellung, dass Personen aufgrund von Herkunft, Aussehen, Hautfarbe, Kleidung oder Namen in Deutschland nicht gleichberechtigt leben dürfen und das Gesellschaft nach entsprechenden Kriterien hierarchisch organisiert sein soll. Im Rechtspopulismus steht nicht der Antisemitismus im Vordergrund, sondern der anti-muslimische Rassismus. Der führt sie vielfach auch dahin, sich positiv auf den Staat Israel – insbesondere auf rechtskonservative Kräfte – zu beziehen, die als vorderste Linie im Kampf gegen den radikalen Islam angesehen werden.

F&L: Hat Rassismus per se immer etwas mit Religion zu tun?

Fabian Virchow: Nein, aber es gibt vielfach eine sogenannte Rassisierung von Religion. Das meint, dass im Denken über Muslime implizit davon ausgegangen wird, dass diese Person nicht "deutsch" ist. Was empirisch Unsinn ist. Zugleich gibt es innerhalb des Rechtsextremismus eine kontroverse Debatte darüber, ob man vor allem gegen den Islam ist oder gegen Einwanderung. Einige haben durchaus Sympathien für konservative, patriarchalische Auslegungen des Islam. Für Deutschland wird er jedoch als "wesensfremde" Religion angesehen, die hier nicht gleichberechtigt gelebt werden können soll.

F&L: Geht es beim Rechtsextremismus auch um eine empfundene Bedrohung durch äußere Einflüsse?

Fabian Virchow: Ja, wobei die Betonung auf dem Gefühl liegt. Mit der tatsächlichen Situation hat das oft gar nichts zu tun.

"Die Angst verzerrt die Wahrnehmung."

F&L: Was ist denn das vorherrschende Gefühl, das diesen Grundkonflikt auslöst?

Fabian Virchow: Das sind vor allem Enttäuschung und Angst, die sich mit spezifischen Denkmustern verbinden. Enttäuschung darüber, nicht gehört zu werden. Angst vor gesellschaftlichen Entwicklungen, deren Konsequenzen man nicht überblicken kann. Die Angst verzerrt die Wahrnehmung, beispielsweise über die Kriminalität und Sicherheit im Lande. Dazu kommt die subjektive Erfahrung, als Einzelner nicht viel ausrichten zu können, also Hilflosigkeit. Der nachfolgende Ausdruck davon ist Wut. Mit der AfD gibt es nun einen politischen Akteur, der als Lautsprecher für diese Gefühle fungiert und sie missbraucht. Rechtspopulisten arbeiten mit der Angst und verstärken sie bewusst, unter anderem in dem sie Falschmeldungen verbreiten. Anstelle von Fakten und Ursachenforschung und der Suche nach demokratischen Lösungen, geben Populisten vermeintlich einfache Antworten. Demokratische Prozesse brauchen immer Zeit. Bei Rechtspopulisten findet sich stattdessen oft der Wunsch nach einer autoritären Führung, die Entscheidungen schneller trifft, ohne langes Gerede im Parlament.

F&L: Wie könnten andere Parteien mit den Sorgen der Menschen umgehen, die sonst Rechtsextremisten aufgreifen, und anderweitig für deren Resonanz sorgen?

Fabian Virchow: Dieser ausgrenzenden Weltdeutung nachhaltig die Zustimmung zu entziehen, ist keine kurzfristige oder leichte Aufgabe. Ich veranschlage eine solche Entwicklung auf 20 bis 30 Jahre. Rechtsextreme Einstellungen sind in der Bevölkerung weit verbreitet und existieren nicht nur innerhalb der AfD. Zudem feuern einige Medien, nicht zuletzt die BILD-Zeitung, und auch die AfD dieses Denken immer wieder an und halten es am Leben. Daher müssen wir immer wieder deutlich machen, dass die deutsche Gesellschaft unumkehrbar eine Migrationsgesellschaft ist. Dazu gehört auch, die Lebensleistungen der Zugewanderten zu würdigen, und die Idee einer deutschen Leitkultur aufzugeben zugunsten einer Vielfalt an Kulturen, die zudem immer neue Hybridformen hervorbringen, wie wir sie im Grunde in unterschiedlicher Gestalt bereits haben. Wir müssen uns von der Lebenslüge eines "deutschen Deutschlands" verabschieden.

F&L: Sie sagen, das ist ein langwieriger Prozess. Wirft die nächste Krise diese Maßnahmen gegen Rechtsextremismus nicht wieder über den Haufen?

Fabian Virchow: Natürlich müssen wir mit weiteren Krisen rechnen. Die Frage ist aber, trifft diese Krise auf eine Bevölkerung, von denen ein erheblicher Teil sagt, "aus dieser Krise rettet uns nur ein Führer", oder trifft die Krise auf Menschen, die die strukturellen Ursachen von Krisen im Kapitalismus verstehen und daraus lernen. Suchen diese Menschen nach einem Ausweg aus der Krise oder suchen sie einen Sündenbock? Ich bin überzeugt, dass das den Unterschied markiert. Daher sollte man mit der Stärkung der politischen Bildung nicht bis zur nächsten Krise warten. Demokratie als alltägliches Handeln wieder zu stärken, ist eine zentrale Aufgabe.

F&L: Über den richtigen Umgang mit Rechtsextremen wird viel diskutiert. Dabei gibt es derzeit eine Tendenz zum Unversöhnlichen von beiden Seiten. Wie führt man diese Diskussionen wieder hin zum konstruktiven Dialog?

Fabian Virchow: In jeder Gesellschaft gibt es Konflikte und verschiedene Interessen. Diese Pluralität wollen wir ja. Sich zu streiten ist zunächst unproblematisch, denn Konflikte entwickeln Gesellschaften weiter. Bei der Austragung der Konflikte sehe ich jedoch eine Verrohung im Umgang. Was wir lernen müssen, ist ein zivilisierter, zwischenmenschlicher Umgang. Das ist eine Aufgabe, bei der viele verschiedene Akteure gefordert sind. Zum einen muss der Staat sie unterstützen, aber auch Parteien und Verbände müssen für einen zivilisierten zwischenmenschlichen Umgang eintreten. Das mag sich altmodisch anhören, aber ich glaube da ist viel dran.

"Was wir lernen müssen, ist ein zivilisierter, zwischenmenschlicher Umgang."

F&L: Warum könnte das misslingen?

Fabian Virchow: Die Verrohung ist zunächst mal in der Welt. Man muss die politische Entwicklung rückgängig machen, dass der belohnt wird, der am lautesten schreit. Ein Großteil der Hass-Postings im Netz kommt Statistiken zufolge von der rechten Seite. Da wird man auch über rechtliche Sanktionen nachdenken müssen, damit etwa Aufrufe zu Körperverletzung und Mord nicht ungestraft bleiben.

F&L: Auch der Angreifer der Synagoge in Halle hat sich im Netz radikalisiert. Er hatte Vorbilder und hat seine Tat selbst für Nachahmer dokumentiert. Lassen sich rechtsextremistische Taten verhindern?

Fabian Virchow: Solche Taten werden nie 100 Prozent zu verhindern sein. Eine flächendeckende Überwachung ist nicht möglich. Rechtsextremes und rassistisches Denken werden nie vollständig aus der Gesellschaft verbannt sein. Daher können wir nie ganz ausschließen, dass Menschen entsprechend diesem Denken auch handeln. Als Gesellschaft können wir uns aber von diesem Gedankengut abgrenzen und die Personen sanktionieren und gesellschaftlich isolieren. Man kann versuchen, solchen Taten den handlungsideologischen Boden zu entziehen.

F&L: Wie können Einzelpersonen tun, um Rechtsextremen und Rechtspopulisten diesen Boden zu entziehen?

Fabian Virchow: Vor allem geht es darum, Haltung zu zeigen und rassistischen, antisemitischen, sexistischen und nationalistischen Statements auch im Alltag klar zu widersprechen, um der weiteren Normalisierung entgegenzuwirken. Zugleich kann es sinnvoll sein, die Auseinandersetzung mit diesen Menschen zu führen. Das ist dann im Detail sehr abhängig von deren Beweggründen und davon, wie fest die Überzeugungen sind. Man kann versuchen, die Ansichten mit Fakten zu widerlegen. Wo immer man die Möglichkeit, die Ressourcen und Kompetenzen hat, jemanden von rechtsextremen Weltanschauungen wieder abzubringen, sollte man das tun. Das kann anstrengend sein, weil man sich unter anderem selbst erst Wissen aneignen muss, um Argumente zu widerlegen. Grundsätzlich sollte man im Familien- und Freundeskreis durchaus nachfragen und diskutieren und Interesse an den Sorgen seines Gegenübers zeigen. In solchen sozialen Zusammenhängen sollte es möglich sein, Äußerungen wie die eben genannten nicht unwidersprochen zu lassen.