Rhetorik
Rhetorik kann über Fakten täuschen – oder aufklären
Factum ist bekanntlich ein lateinisches Wort, das abgeleitet vom Verb facere das Getane oder Gemachte, dann auch Tat oder Ereignis bedeutet. Nun ist es mit Taten oder Ereignissen keineswegs so, dass diese sich einfach als etwas Gegebenes präsentieren und ihre eigene Interpretation schon im Handgepäck mitbringen. Im Gegenteil: Das Getane oder die Ereignisabläufe richtig zu beschreiben, einzuordnen und zu bewerten, ist das tägliche Geschäft jedes Historikers und jeder Historikerin, aber nicht nur deren, sondern auch das von uns allen, die wir am politischen und gesellschaftlichen Geschehen als Zuschauer und Akteure teilnehmen. Was Fakten sind und was falsch oder Fake ist, ist also gar nicht so einfach zu sagen, und zwar auch dann nicht, wenn alle Informationen auf dem Tisch liegen. Aber was ist das eigentlich, das richtige Bewerten dessen, was geschehen ist? Richtig muss auf jeden Fall das sein, was der Sache, dem Ereignis, das man beschreibt, angemessen ist, das also zu ihm passt, ihm entspricht. Je nach Situation und Fall gibt es unterschiedliche Methoden, um das zu ermitteln oder dem doch nahe zu kommen. Immer aber ist es eine Erkenntnisaufgabe: Wie bekomme ich das heraus? Woran erkenne ich das, was geschehen ist und wie es geschehen ist? Und wie kann ich es einordnen? Woran erkenne ich Scheintatsachen?
Erfolg als Ziel der Rhetorik
Was aber hat das nun mit Rhetorik zu tun? Ist sie eine Technik, die diese Erkenntnisarbeit erschwert oder behindert oder leistet sie im Gegenteil einen positiven Beitrag zu dieser Aufklärungsarbeit? Auf den ersten Blick könnte man denken, dass es in der Rhetorik nur darum geht, seine eigene Position und Interpretation der Fakten möglichst gut und überzeugend zu verkaufen. Das ist eine sehr alte Idee. Schon die antiken Sophisten haben es im 5. Jahrhundert vor Christus als ihr Credo und ihr Versprechen als Lehrer formuliert: Sie könnten mit der Rhetorik die (eigentlich) schwächere Position zur stärkeren machen, "ton hetto logon kreitto poiein". Hier wird also offensiv die Absicht erklärt, die Dinge eben gerade nicht richtig zu bewerten und angemessen einzuordnen. Stattdessen ist Erfolg und Überwindung der Gegner das Ziel. Diese Position ist es gewesen, die den bis heute schlechten oder doch zwiespältigen Ruf der Rhetorik begründet und den Eindruck erzeugt hat, in der Rhetorik gehe es gerade nicht um die Erkenntnis der Fakten, sondern um eine Verdrehung und Vergewaltigung der Wahrheit.
Die Techniken dieser auf Erfolg abzielenden Rhetorik wurden im Laufe der Zeit immer weiter verfeinert. Dabei ging es immer darum, etwas, das so ähnlich ist wie die Wahrheit, als Wahrheit darzustellen. Eine besonders erfolgreiche Strategie darunter ist es, die Art, wie etwas gilt, und die Hinsichten, in denen etwas zutrifft, offenzulassen und die Unterschiede bei Vergleichen unter den Tisch fallen zu lassen. Schon Platon hat gezeigt, dass und warum dieses Unterschlagen von Hinsichten der Grund sowohl für Fehler in einer Rede ist als auch – paradoxer Weise – dafür, dass die eigene Position überzeugend wirken kann. Wenn jemand zum Beispiel etwas über Unternehmensführung weiß, dann könnte man von ihm sagen, dass er ein Wissen hat und ein Wissender ist. Daraus aber zu schließen, dass er auch über alle anderen Dinge ein Wissen hat, zum Beispiel darüber, wie man die Außenpolitik eines Landes bestimmt oder über den Zusammenhang zwischen Klima und CO2-Ausstoß, wäre ein offensichtlicher Fehlschluss, der darauf beruht, dass man die Hinsicht, in der er etwas weiß, nicht mitbedenkt.
"Ein mündiger Bürger ist in der Lage, mit den Mitteln seiner Vernunft unterschiedliche Argumente zu bewerten und gegeneinander abzuwägen."
Es war auch bereits Platon, der deshalb den Unterricht in der Rhetorik und in der Technik des Argumentierens als Grundlage für alle weitere Bildung eingeführt hat. Seine Nachfolger nannten diese Disziplinen zusammen später Logik und noch viel später Trivium (Dreiweg). Dieser sollte das formale Rüstzeug für jede inhaltliche Bildung vermitteln und auch für das, was wir heute einen mündigen Bürger nennen würden, die Grundlage legen. Ein mündiger Bürger ist ein Mensch, der dazu in der Lage ist, mit den Mitteln seiner Vernunft unterschiedliche Argumente zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Dafür ist nun das Aufdecken von Argumenten, die Hinsichten weglassen und dadurch unbemerkt eine falsche Schlussfolgerung nahelegen, eine zentrale Technik, wie bereits die Auseinandersetzung mit den Sophisten zu Sokrates‘ Zeiten zeigt.
Populistische Rhetorik
Tatsächlich bestimmt eine solche Hinsichten-Unterschlagungs-Taktik aber auch heute viele Reden. Das gilt insbesondere für solche Reden, die man nach den folgenden Kriterien populistisch nennen kann: 1. Sie beanspruchen für den Redner oder die Rednerin, dass er oder sie die Interessen des Volkes gegen eine dieses unterdrückende Elite vertrete, und 2. Sie benutzen verkürzende und die Sachlage unzureichend darstellende Argumentationstechniken, die auf rationale Begründungen weitgehend verzichten und die eben deswegen gefährlich bis zerstörerisch für das Miteinander in einer Gesellschaft und für eine Kultur mündiger Meinungsbildung sein können.
Das folgende Beispiel stammt aus einer typischen Wahlkampfrede des Vorsitzenden der AfD in Brandenburg Andreas Kalbitz, der gemeinsam mit Björn Höcke den völkisch-nationalistischen "Flügel" der AfD leitet und dessen Neonazi-Karriere schon während des Wahlkampfes 2019 in vielen Details bekannt geworden war, was von Kalbitz selbst seitdem auch nicht mehr ernsthaft bestritten wurde:
"30 Jahre nach der Wende sind wir wieder in einer Situation, wo man sich genau überlegt: Was sag ich am Arbeitsplatz, was sag ich dem Vermieter, was sag ich am Küchentisch, damit die Kinder sich im Kindergarten nicht verplappern?" (Zitat von Andreas Kalbitz auf einer Wahlkampfveranstaltung der AfD in Prenzlau am 3. August 2019).
Die Aussage war Teil der Wahlkampagne der Brandenburgischen AfD 2019, die unter dem Motto "Vollende die Wende" die Stimmung in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung geschickt auffing und bediente. Die Kampagne sprach unscharf von dem noch nicht vollendeten Systemumbruch, den die DDR-Bürger in ihrer friedlichen Revolution angestoßen hatten. Die AfD machte sich damit zum Anwalt der ostdeutschen Interessen, weil mit der – wie auch immer gemeinten – Vollendung der Wende die Identität vieler Ostdeutscher wieder in ihr Recht als gleiche freie Bürger eingesetzt werden sollte.
Ein Teil dieser Wende-Idee in der Kampagne bezog sich auf die Meinungsfreiheit. Diese sei 1989 als Befreiung von dem Überwachungsstaat DDR mit seinem Stasi-Apparat mit friedlichen Mitteln erkämpft worden. Jetzt aber sei sie wieder in Gefahr. Die AfD schwang sich mit ihrer Kampagne zu der Verteidigerin dieser Freiheit auf. Wie bitte?, möchte man fragen. Geht da nicht einiges durcheinander? Klar ist, dass sich diese vermeintlich gefährdete Meinungsfreiheit heute auf das bezieht, was oftmals als political correctness beschrieben wird, und konkret auf den herrschenden Diskurs über die Flüchtlingsfrage. Die AfD möchte suggerieren, dass wir in einer Zeit des Meinungsdiktats lebten und dass jeder, der sich kritisch gegenüber der Aufnahme vieler Migranten äußere, sogleich als Nazi diffamiert werde.
"Bloße Sprachkritik ist noch keine rhetorische Analyse."
An diesem Vergleich ist einiges schief und es ist die Aufgabe einer rhetorischen Analyse, diese Schieflage transparent zu machen. Rhetorisch ist die Analyse dabei keineswegs schon dann, wenn sie sich nur mit der Wortwahl auseinandersetzt, sondern sie muss auch die Inhalte betrachten, die (fehlende) Valenz der Argumente und die inhaltlichen Lücken aufdecken. Wenn Andreas Kalbitz die Situation vor 1989 in der DDR mit der heutigen Situation vergleicht und auf die Repressalien verweist, mit denen jeder in der DDR zu rechnen hatte, der sich nicht systemkonform benahm oder der gar eine andere Meinung vertrat, dann will er den Eindruck erwecken, dass diese beiden Situationen tatsächlich ähnlich geartet sind. Hier hilft ihm die Möglichkeit, in der Rede ein Argument nur anzusprechen, es aber nicht in allen Teilen auszuführen. Diese Argumentationsform nennt man in der rhetorischen Theorie auch Enthymem. Ein Argument wird nicht mit allen Prämissen ausgeführt, damit es den Zuhörern nicht lästig wird und durch übergroße Genauigkeit und Vollständigkeit Verdruss erzeugt. Ein solches Argument kann – und sollte natürlich – gültig sein und vollständig ausgeführt werden können und dann auch immer noch richtig und überzeugend wirken. Doch die Unvollständigkeit eines solchen rhetorischen Arguments birgt auch die Gefahr, dass der Redner eine solche Prämisse unterschlägt, die weder selbstevident noch überzeugend wäre, wenn man sie ausspräche.
So ist es auch in diesem Fall. Denn es dürfte dem Redner Kalbitz schwerfallen zu belegen, dass es heute von staatlicher Seite Strafandrohungen und andere staatlich verordnete Nachteile für denjenigen gibt, der – zumal im familiären Raum – sich kritisch zur Flüchtlingspolitik von Angela Merkel äußert. Es gibt keine Belege, ja nicht einmal Anzeichen für einen solchen bis ins Private vordringenden Überwachungsstaat oder auch nur für den Wunsch, dass es einen solchen gibt. Im Gegenteil: Die bundesdeutsche Öffentlichkeit ist sensibler als viele andere Nationen gegenüber Eingriffen in die Privatsphäre und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Weil das Argument aber eben nicht ausbuchstabiert wird und daher das Verzerrende der Aussage verdeckt bleibt, kann der Redner bei seinem Zielpublikum auf Zustimmung hoffen. Kalbitz nutzt diese Möglichkeit gezielt, um seine Position, seinen Logos, zum stärkeren zu machen und als Redner erfolgreich zu sein.
Was dabei aber auf der Strecke bleibt, ist die eigentliche Erkenntnisarbeit, derer es im Umgang mit der Wirklichkeit bedarf. Sie wird in dem populistischen Diskurs der AfD in Brandenburg zugunsten einer demagogischen Überzeugungslist geopfert. Dazu gehört das geschilderte Meinungsfreiheitsargument, aber auch der Hauptslogan "Vollende die Wende". Denn auch hier wird ein Anspruch erhoben und verglichen, der eigentlich nicht vergleichbar ist und entscheidende Hinsichten weglässt. Dieser besagt, dass es heute einen Aufstand des unzufriedenen Volkes gebe, das sich gegen eine für die Allgemeinheit (vermeintlich) schädliche Elite auflehne und diese vertreiben wolle. Aber war das nicht ganz anders in der DDR im Jahre 1989, wird hier so mancher fragen? Hat denn die Unzufriedenheit von Menschen besonders in wirtschaftlich benachteiligten Regionen im Deutschland des Jahres 2019 wirklich etwas zu tun mit dem Freiheitsdrang, der 1989 die Leute auf die Straße trieb? Und stehen die meist aus dem Westen stammenden AfD-Funktionäre wirklich selbst für die Ostdeutschen, die sich ihre Freiheit gegenüber West-Eliten, die sie vermeintlich unterdrücken, erkämpfen wollen? Das alles ist bei näherer Betrachtung mehr als schief: Ja, es ist demagogisch um wichtige Hinsichten verkürzt und dadurch verzerrend.
Man könnte also sagen, diese Art der Rhetorik ist eine missbräuchliche, eine verdrehte Anwendung formaler Techniken, die einen anderen wichtigen Markenkern der Rhetorik, nämlich zu lehren, wie man mittels der Rede einen Sachverhalt oder eine Faktenlage in angemessener Weise vermittelt und verständlich macht, verabschiedet hat.
Rhetorik als Aufklärungspraxis
Denn es gibt auch noch eine andere Rhetorik und eine andere Tradition der Theorie der Rhetorik. Diese betreibt gerade das ganz am Anfang beschriebene Geschäft der kritischen Faktenermittlung: Sie lehrt zu erkennen, worum es in einer bestimmten Situation geht, wie sich die Dinge wirklich verhalten. Eine solche Rhetorik ist eine Aufklärungspraxis und keine Verdunkelungspraxis, in der Fakten und Fake ineinander zu verschwimmen drohen. Der nach Platon bedeutendste Rhetorik-Theoretiker der griechischen Antike, Aristoteles, beschreibt das folgendermaßen: "Es ist nicht die Aufgabe der Rhetorik zu überzeugen, sondern das zu erkennen, was in jedem Sachverhalt an Überzeugendem enthalten ist." (Aristoteles, Rh. I,1) Die Redekunst ist also zuerst eine Erkenntniskunst, die konkrete Sachverhalte richtig durchschaut und erkennen kann, was jeweils vorliegt. Mit anderen Worten: Der Redner oder die Rednerin muss erst einmal durch eine begründete Erkenntnis die Fakten als solche aus den erkennbaren Qualitäten des Sachverhalts herleiten. Sie sind sein oder ihr Erkenntnisprodukt, das er oder sie an rationalen Kriterien orientiert gewinnt.
"Die Redekunst ist zuerst eine Erkenntniskunst, die konkrete Sachverhalte richtig durchschaut und erkennen kann, was jeweils vorliegt."
Wenn ein Redner oder eine Rednerin diesem Konzept von Rhetorik folgt, dann wird er oder sie nicht mit der Absicht, die Zuhörerinnen und Zuhörer zu täuschen, sprechen, und auch nicht mit dem Ziel, koste es was es wolle Erfolg zu haben und sich durchzusetzen. Denn die rational ermittelten Fakten sind sein oder ihr Maßstab. Fake News oder manipulative Redestrategien haben mit dieser Rhetorik nichts zu tun. Diese Rhetorik ist nicht der Verursacher von Kommunikationsproblemen und Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern deren Lösung und Heilmittel.
Wenn wir also auf die Rhetorik blicken und die Frage stellen, ob mit der Rhetorik so etwas wie Fake News und populistische Verdrehungen und Verkürzungen der Wirklichkeit zur gesellschaftlichen Realität geworden sind, dann muss die Antwort eine differenzierte sein: Ja, es gibt ein Programm einer Rhetorik, die täuschen will oder dies doch zumindest in Kauf nimmt. Und nein, das ist nicht die einzige Art, erfolgreich Rhetorik zu verwenden. Denn die Rhetorik kann auch als Kunst betrieben und im Unterricht gelehrt werden, die Fakten so ermittelt, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer auf das hingewiesen werden, was an diesen Fakten das Überzeugende ist. Sie bekommen dadurch sogleich das Rezept mitgeliefert, wie sie sich vor manipulativen Reden schützen können: Gründe kennen, konkret den Einzelfall betrachten und Strategien, wie man täuschen kann, durchschauen und aufdecken.
"Es ist Zeit für eine Renaissance des Rhetorik-Unterrichts."
Es ist daher gerade heute und als Antwort auf populistische Kommunikationspraktiken Zeit für eine Renaissance des Rhetorik-Unterrichts in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Denn nur, wenn das Handwerkszeug für den Umgang mit Argumenten, für ihre Prüfung und dafür, sie selbst korrekt und transparent zu bilden, vermittelt wird und wenn dafür die Schulen mit ausreichenden zeitlichen Kapazitäten und mit Lehrkräften, die dafür theoretisch und didaktisch geschult sind, ausgestattet sind, kann eine politische Bildung, die Jugendliche zu mündigen Bürgern erzieht, gelingen. Das kann weder die Politik- und Geschichtswissenschaft ohne die Rhetorik und Logik, deren Traditionen besonders in der Klassischen Antike verwurzelt sind, noch umgekehrt. Nur dann, wenn diese Zusammenarbeit an Universitäten und Schulen gelingt, kann jeder und jede das Know how dafür erwerben, selbstständig mit rhetorischen Argumenten umzugehen und darauf zu achten, dass die Argumente, die Fakten vorstellen und bewerten, nicht nur gültig zu sein scheinen, sondern es auch wirklich sind. Nur mit einem guten und grundlegend an den Schulen verankerten Rhetorik-Unterricht kann eine Gesellschaft Fake News und populistischen Faktenverdrehern kritisch und mit guten Argumenten begegnen.
Von der Autorin ist 2019 im J.B. Metzler Verlag das Buch "Rhetorik und Wahrheit: Ein prekäres Verhältnis von Sokrates bis Trump" erschienen.