Illustration für konstruktiven Dialog: Eine Glühbirne im Raum zwischen zwei sich überlagernder Sprechblasen
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Wissenschaft und Politik
Über Erkenntnisse und Entscheidungen

Politiker erwarten von der Wissenschaft belastbares Wissen. Diese liefert vorläufige Erkenntnisse. Wie können Politik und Wissenschaft zusammenkommen?

Von Armin Nassehi 02.05.2023

Dass das Verhältnis von Wissenschaft und Politik nicht trivial ist, ist einem größeren Publikum spätestens während der Pandemie ansichtig geworden. Einerseits hat "Wissenschaft" keineswegs mit einer Stimme gesprochen, andererseits wurden wissenschaftliche Erkenntnisse und Empfehlungen fast unvermeidlich politisiert, weil sie die (oft nur vermeintliche) Grundlage für politische Entscheidungen wurden. Was diesem größeren Publikum freilich vorgeführt wurde, ist der fundamentale Unterschied zwischen politischen und wissenschaftlichen Formen der Problemlösung.

Wer sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik beschäftigt, zitiert fast rituell – zumal als Soziologe – aus Max Webers berühmtem "Objektivitätsaufsatz" von 1904. Darin heißt es: "Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur was er kann und – unter Umstä̈nden – was er will." Weber formulierte damit keineswegs, wie eine restringierte Lesart es bisweilen nahelegt, so etwas wie ein Reinheitsgebot – er wusste sehr wohl, dass persönliche Weltanschauungen, die Gewichtung von Argumenten, sogar die Konstruktion von Kausalitäten zu unterschiedlichen Einschätzungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern führen, die von den Werten und politischen Überzeugungen der Akteure geprägt sind, ohne dass diese beiden Seiten ineinander aufgehen würden. Die oft zitierten Sätze von Weber sind weniger die Beschreibung eines realen Verhältnisses, sondern eher eine Problemanzeige, die eben darauf verweist, wie wenig trivial das Verhältnis von Wissenschaft und Politik ist.

Was erwarten Wissenschaft, Politik und Gesellschaft voneinander?

Diese Problemanzeige wird oftmals überspielt mit der Idee des Wissenstransfers. In einem vielbeachteten Positionspapier des Wissenschaftsrates aus dem Jahre 2016 heißt es, Transfer sei eine "Kernaufgabe und mit Forschung, Lehre und wissenschaftlichen Infrastrukturangeboten eine der wesentlichen Leistungsdimensionen wissenschaftlicher Einrichtungen". Gelingen könne das nur, wenn die Partner aus Politik und Wissenschaft aufeinander zugehen, damit man den "gestiegenen Erwartungen aus Politik und Gesellschaft an die Leistungen des Wissenschaftssystems besser gerecht werden" könne. Das ist eine schöne Formel, die freilich mehr verdeckt, als sie beschreibt. Es sind typische Sätze solcher Positionspapiere, bei denen man nicht weiß, ob es sich um konstative oder normative Sätze handelt, und diese Unterscheidung auch gerne im Dunkeln lässt.

"Ob eine virologisch belastbare Aussage zu Schulschließungen führen soll, lässt sich nicht virologisch klären."

Wie verhält es sich nun mit den Erwartungen? Politische und auch andere Erwartungen an das Wissenschaftssystem sind, vor allem, wenn sie explizit formuliert werden, die Bereitstellung von eindeutigem und belastbarem Wissen – was man freilich zumeist bekommt, ist eine erkenntnisrelative Eindeutigkeit, die allzu oft den Index des Vorläufigen, des Falliblen, auch des Korrekturbedürftigen und deutlicher Lern-, also Veränderungsbereitschaft in sich trägt. Abgesehen davon lassen sich normative und wertorientierte Konsequenzen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht immer auf den Akt der Wissensgewinnung selbst zurückführen. Ob eine bestimmte virologisch belastbare Aussage zu Schulschließungen führen soll, lässt sich nicht virologisch klären, und ob der soziologische Nachweis eines Ungleichheitseffekts etwa von Verkehrsverboten während der Pandemie diese Verbote für untauglich erklärt, lässt sich nicht auf die Erkenntnis selbst zurückführen.

Differenz von Erwartung und Funktion

Der Konflikt besteht darin, dass politische Akteure oftmals eine verwendungsrelative Eindeutigkeit von wissenschaftlichem Wissen erwarten – sie bekommen aber oft nur erkenntnisrelative (Un-)Eindeutigkeiten. Das kann aus soziologischer Perspektive nicht wirklich überraschen, denn dass es auch in anderen Funktionssystemen eine fast unheilbare Differenz von Funktion und Erwartung gibt, ist kaum wegzudiskutieren. So lautet eine der Erwartungen an das Rechtssystem die Befriedung von Konflikten und die Herstellung von Gerechtigkeit – die Funktion besteht aber nur darin, eine Konsistenz von Entscheidungslagen und damit normative Erwartungssicherheit herzustellen. Vom Wirtschaftssystem wird eine Versorgung und Bereitstellung von Gütern beziehungsweise Dienstleistungen erwartet, die Funktion ist aber letztlich nur die Regulierung dezentraler Knappheitsprobleme. Von Medien wird gerne Orientierung gefordert, man bekommt aber letztlich nur Informationen, also etwas, das einen Unterschied macht, oftmals auch nur zu anderen Medien. Am eklatantesten ist die Differenz vielleicht im politischen System. Politisch muss so kommuniziert werden, als könne man die Gesellschaft steuern und Kontrolle ausüben, die Funktion beschränkt sich aber lediglich auf die Bereitstellung kollektiv bindender Entscheidungen, deren Wirkungen oftmals politisch kaum zu kontrollieren sind.

Eigensinn der Wissenschaft erschwert Vertrauen

Die Differenz von Erwartung und Funktion ist es, die die Praxis einer modernen Gesellschaft ausmacht – und die das schöne Bild einer gepflegten Arbeitsteilung zwischen den unterschiedlichen Funktionen als allzu einfaches Bild decouvriert. Die Rede vom "Wissenstransfer" ist dann eine regulative Vereinfachung eines nicht-trivialen und komplexen Verhältnisses. Eine moderne Gesellschaft zu beschreiben erfordert es, den Eigensinn ihrer jeweiligen Funktionen ernst zu nehmen. Was politisch gilt, wird in erster Linie politisch entschieden – also etwa im Hinblick darauf, ob es mehrheitsfähig, wählbar oder öffentlich darstellbar ist. Und ökonomisch kann sich nur das bewähren, was sich ökonomisch bewährt – etwa indem es die Zahlungsfähigkeit der Akteure sicherstellt und sie nicht vom Markt verschwinden lässt.

Dieser Vorbehalt des Eigensinns gilt auch für die Wissenschaft. In der Wissenschaft gelten interne Qualitätskriterien, die sehr selbstbezüglich und selbsterzeugt sind und vor allem mit dem Umgang mit der Fallibilität und der Vorläufigkeit von Wissen zu tun haben – nicht nur in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, wie man denken könnte, sondern auch und gerade in den Natur- und Biowissenschaften. Auch wenn wissenschaftliche Akteure und Einrichtungen, geförderte Forschungsprojekte und beratende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Interesse daran haben, ihre Erkenntnisse verwendungsrelativ zu übersetzen und bereitzustellen, entkommen sie nicht dem wissenschaftlichen Zugzwang, dass Wissenschaft interne Kriterien kennt, die sie satisfaktionsfähig macht – das gilt sogar für unredliche, bestochene und gekaufte Wissenschaft, die ihr Geschäft nur erledigen kann, wenn sie die Orientierung an jenen internen Kriterien glaubhaft simuliert.

Andere, nicht-wissenschaftliche Akteure brauchen wissenschaftliche Erkenntnisse, aber sie müssen keine wissenschaftlichen Probleme lösen – sondern eben politische, ökonomische oder sogar weltanschauliche. Deshalb hängt das Vertrauen in Wissenschaft von außen oftmals von Kriterien ab, die wissenschaftlich nicht kontrollierbar sind. Ich saß letztens in einer Tagung, in der es um das Vertrauen in Wissenschaft ging – und es wurde ernsthaft vorgeschlagen, wir müssten unsere internen Qualitätskriterien wie die Qualitätskontrolle durch peers, die Reputationskontrolle durch bibliometrische Daten und die Vertrauenswürdigkeit der Forschungsdaten durch deren Zugänglichkeit so transparent machen, dass Zweifel an den Ergebnissen minimiert werden könnten. Das mag als wissenschaftsinterne Routine mit (keineswegs objektiven, sondern selbsterzeugten) Konventionen in Einklang stehen – wer aber andere als wissenschaftliche Probleme lösen muss, interessiert sich kaum für solche wissenschaftsinternen Kriterien.

Komplexe Wechselwirkungen in der Wissenschaft

Dazu kommt, dass das Wissenschaftssystem ein Funktionssystem der Gesellschaft ist und keine Organisation. Eine Organisation könnte die Innen-/ Außen-Verhältnisse durch Entscheidungen kontrollieren und intern festlegen, was nun einem Außen, der Gesellschaft, als wissenschaftliches Wissen, als Ergebnis präsentiert werden soll oder kann, um mehr Eindeutigkeit zu erreichen und eine größere Deckung zwischen Erwartung und Funktion anzubieten. Dazu bedürfte es aber wiederum außerwissenschaftlicher Kriterien, um eine solche Eindeutigkeit herzustellen. Ein modernes Wissenschaftssystem produziert ebenso widersprüchliches wie unübersichtliches Wissen – was im Übrigen auch nicht durch orgsanisatorische Festlegungen von Politikberatung zu bestimmen ist. Funktionssysteme einer modernen Gesellschaft haben keine inhärenten Stoppregeln – weder ökonomisch noch politisch, noch wissenschaftlich. Dass das sowohl Problem als auch Lösung ist, macht die Unübersichtlichkeit und Komplexität moderner Gesellschaften aus – und kann hier nur angedeutet werden.

"Das Wissenschaftssystem ist ein Funktionssystem der Gesellschaft und keine Organisation."

Die entscheidenden wissenschaftlichen Innovationen der letzten Jahrzehnte haben über die Disziplinen hinweg vor allem mit Komplexitätsfragen zu tun, mit Rückkopplungseffekten und nichtintendierten Nebenfolgen, mit der Temporalisierung von Ordnung und Nichtlinearität, mit Wechselwirkungsprozessen und Problemen der Verschränkung von Beobachtung und Beobachtetem. Vielleicht muss innerhalb der Wissenschaft ernster genommen werden, wie wenig trivial in einem differenzierten System wie einer Gesellschaft die Schnittstellen zwischen ihren Teilen aufgestellt sind. Es wäre vielleicht nötig, das Verhältnis von Wissenschaft und Politik (oder auch anderen gesellschaftlichen Bereichen) zu einem wissenschaftlichen Thema zu machen – wie etwa in der Medizin über translationale Fragen medizinisch nachgedacht wird.

Wissenschaft teilt sich in viele Fächer

Ein letzter Aspekt betrifft die interne Differenzierung des Wissenschaftssystems – etwas, das auch während der Pandemie einem größeren Publikum sichtbar wurde. Die interne Differenzierung in Disziplinen und Fächer bildet fast die interne Differenziertheit der Gesellschaft selbst ab. Die Disziplinen, wie sie sich mit der modernen, forschungsorientierten Wissenschaft etabliert haben, werden weniger durch ihre Gegenstände, wenn man so will: durch die Welt erzeugt. Sie sind vielmehr selbst eine wissenschaftliche Eigenleistung, die in ihrer Umwelt eine Gesellschaft vorfindet, die politische, ökonomische, rechtliche, pädagogische, medizinische, religiöse, mediale, künstlerische "Gegenstände" antrifft, die in ihrer Differenziertheit teilweise die gesellschaftliche Differenziertheit abbilden. Wer jemals in einer interdisziplinären Kommission mit der Erarbeitung von Empfehlungen zur politischen Verwendung teilgenommen hat, wird festgestellt haben, dass sich etwa in der Pandemie die gesellschaftlichen Zielkonflikte zwischen medizinischen, ökonomischen, pädagogischen und politischen Orientierungen zwischen den wissenschaftlichen Akteuren wiederholt haben. Das Verhältnis von zu transferierendem wissenschaftlichen Wissen und politischen Adressaten ist also selbst noch einmal ein multiples Verhältnis, das sich durch die Binnendifferenzierung der Wissenschaft bricht.

"Die interne Differenzierung in Diszipli­nen und Fächer bildet fast die interne Dif­ferenziert­heit der Gesellschaft selbst ab."

Wenn innerhalb der Wissenschaft über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik räsoniert wird, reicht es nicht, bei unserem Gegenüber zu beklagen, dass es sich nicht genügend auf wissenschaftliche Einsichten einlässt oder diese sogar für eigene Zwecke instrumentalisiert. Vielmehr ist ein wissenschaftsinterner Blick angezeigt, der die innere Differenziertheit der Wissenschaft als ein gesellschaftliches Phänomen ernst nimmt – und der Soziologe ist sich hier bewusst, dass er nicht die Position eines Dritten einnimmt, sondern wenig überraschend darauf stößt, dass das Verhältnis von Wissenschaft und ihrer Umwelt in erster Linie ein Problem der gesellschaftlichen Verarbeitung von Wissen ist. Würde es der wissenschaftlichen Selbstreflexion nicht gut anstehen, das Verhältnis von Wissenschaft und dem Rest der Gesellschaft nicht nur unter dem Aspekt der Nützlichkeit oder gar der Legitimationsbeschaffung zu sehen, sondern als genuin wissenschaftliche Frage zu behandeln? Bleibt nur die Frage: Wo ist der Ort, an dem darüber verhandelt werden kann, ist Wissenschaft doch selbst gerade dezentral differenziert in die Vielheit ihrer Fächer.