Gezeichnetes Portrait von Prof. Dr. Wolfgang Wick
Zeichnung: Studio Nippoldt Berlin

Vorsitzender des Wissenschaftsrats
"Wir wollen Evolution, nicht Revolution"

Was sollten Hochschulen angesichts weltweit wachsender Krisen tun? Was ist in Forschung und Lehre wichtig? Fragen an Wolfgang Wick.

Von Friederike Invernizzi 17.08.2023

Forschung & Lehre: Herr Professor Wick, seit Februar sind Sie Vorsitzender des Wissenschaftsrats. Als wesentlichen Schwerpunkt Ihrer Amtszeit nannten Sie das Ziel, über die Bewältigung aktueller Krisen hinauszudenken. Das Wissenschaftssystem müsse "widerstandsfähiger" werden. Wie kann das gelingen?

Wolfgang Wick: Ich möchte vor allem über das reflektieren, was wir aus der Bewältigung verschiedener Krisen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gelernt haben. So können wir uns – in Szenarien denkend – auf mögliche zukünftige Krisen einstellen. Es geht mir nicht nur darum, unmittelbar zu reagieren, sondern Prävention auf bestimmten Gebieten zu betreiben. Hier sind der demografische Wandel, die geopolitische Veränderung, aber auch die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz zu nennen. In Arbeitsgruppen denken wir ausführlich über das nach, was sich angesichts dieser Herausforderungen für die Wissenschaft ändern wird. Ich erwarte, dass wir in diesen Arbeitsgruppen Szenarien entwickeln, die noch keine normative Kraft haben, aber verschiedene Möglichkeiten eröffnen. Diese Möglichkeiten versetzen uns als Gesellschaft wiederum in die Lage, verschiedene Reaktionen zu entwickeln, um dann möglicherweise zu Regeln zu kommen, aus denen heraus wir widerstandsfähiger werden könnten gegenüber zukünftigen Krisen. Mit anderen Worten: ich wünsche mir mehr Früherkennung.

Portraitfoto von Prof. Dr. Wolfgang Wick
Professor Wolfgang Wick, Geschäftsführender Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg, ist seit Februar Vorsitzender des Wissenschaftsrats. Wissenschaftsrat/S. Pietschmann

F&L: Leiten Sie das aus Ihren Erfahrungen als Mediziner ab?

Wolfgang Wick: Genau. Statt zu reparieren, sollten wir frühzeitig Hinweise auf problematische Situationen erkennen lernen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass sich das lohnt. Wir sollten ein widerstandsfähigeres System entwickeln, das sich die Zeit nimmt, auch über sich selbst nachzudenken. Es geht nicht nur darum, was die Wissenschaft für unsere Gesellschaft leisten kann, sondern auch darum, wie das System Wissenschaft in solchen Krisen noch produktiv und gut funktionierend agiert.

F&L: Sollte Wissenschaft also im Krisenzeitalter ihre Rolle neu überdenken?

Wolfgang Wick: Die Wissenschaft ist über Jahrzehnte vergleichsweise wenig beachtet worden und in den vergangenen Jahren dann ohne große Vorwarnung für die Auswirkungen von Krisen verantwortlich gemacht worden. Es wurden von der Wissenschaft Entscheidungshilfen erwartet, die sie nicht leisten konnte, weil beispielsweise die Datenbasis nicht da war. Es ist wichtig zu überlegen, wie man solche Situationen in Zukunft verhindern kann, da sie erhebliche gesellschaftliche Auswirkungen haben.

F&L: Die Wissenschaft stand in Zeiten der Corona-Krise häufig im Mittelpunkt zentraler Debatten…

Wolfgang Wick: Deshalb muss darüber gesprochen werden, wie die Wissenschaft mit Krisen kommunikativ umgehen soll, um uns allen als Gesellschaft das Gefühl zu geben, dass offen und wahrhaftig kommuniziert wird. Die Wissenschaft sollte sich nicht mit der Politik verwechseln, sondern im besten Sinne analytisch, nachdenkend und unterstützend sein im Wissen, dass sie letztlich nicht die entscheidende Instanz ist.

"Die Wissenschaft sollte sich nicht mit der Politik verwechseln, sondern im besten Sinne analytisch, nachdenkend und unterstützend sein."

F&L: Wo liegen die Ursachen, dass die Wissenschaft Schwierigkeiten hatte in ihrer Rolle klar Position zu beziehen?

Wolfgang Wick: Wir haben wichtige Prozesse verschlafen. Es fehlen solide Daten zu wichtigen Themen. Dafür müssen wir die Konsequenzen tragen und reden in Krisenzeiten mehr über Meinungen als über die Ergebnisse von Forschungsdaten. Im Sinne einer besseren Daten-Infrastruktur müssen wir uns nun proaktiv darum kümmern, bei künftigen Krisen handlungsfähiger zu werden. Das System muss auf die Beantwortung von existenziellen Fragen vorbereitet sein. Wie bekommen wir es beispielsweise in einer Pandemiesituation hin, ein funktionierendes Krankenhaussystem zu haben, in dem der Intensivbettenausgleich funktioniert? Wie können wir Energie- und Wasserknappheit sowie Hitze als Folgen des Klimawandels begegnen?

F&L: Welche weiteren Themen stehen für Sie vordringlich auf der Agenda?

Wolfgang Wick: Wir wollen grundsätzlich klären, was die Essenz für wissenschaftlichen Fortschritt sein soll. Was ist wissenschaftliche Exzellenz? Welche Strategien, Initiativen und Förderinstrumente brauchen wir dafür? Unsere Forschungsinstitutionen brauchen ein Selbstverständnis ihrer Aufgaben verbunden mit einer soliden Finanzierung. Sie sollten eine gewisse Grundstruktur beispielsweise an Personal und Fachabteilungen haben, die sie vorhalten müssen. Es geht auch um die Gestaltung internationaler Beziehungen. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass Europa im internationalen Wettbewerb weniger dominant ist als noch in den 80er, 90er und frühen 2000er Jahren. Wir können nicht einfach voraussetzen, dass sich alle anderen unsere Werte und unsere Vorstellungen zu eigen machen.

F&L: Wo sehen Sie aktuell Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten des Wissenschaftsrats und wie wollen Sie sich mehr Gehör verschaffen?

Wolfgang Wick: Der Wissenschaftsrat ist kein Entscheidungsgremium, sondern ein Beratungsgremium. Wir beraten sowohl die Wissenschaft als auch die Gestalter und Entscheider in der Politik. Auf diese Weise haben wir die Chance, Einfluss zu nehmen. In dem Moment, wo die Politik in unserem Gremium bestimmte Meinungen und Empfehlungen mitträgt, finden unsere Empfehlungen Eingang in Entscheidungsprozesse zu Gesetzesvorlagen und Koalitionsverträgen. Ziel ist es, die Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre zu verbessern. Wir wollen mit unseren Empfehlungen auf die politische Agenda kommen.

F&L: Wie begegnen Sie der Kritik, dass die Empfehlungen des Wissenschaftsrats kaum zur Kenntnis genommen werden und zu selten Wirkung entfalten?

Wolfgang Wick: Wir wollen Evolution, nicht Revolution. Wir verfassen 35 bis 40 Papiere im Jahr. Diese haben natürlich nicht alle die gleiche öffentliche  Bedeutung und Reichweite. Es ist nicht unsere Aufgabe, einen schnell formulierten Zweiseiter zu einem aktuellen tagespolitischen Problem rauszuhauen. Wir schauen uns die Themen gründlicher an, um Dinge zu formulieren, die dann möglicherweise auch etwas länger gültig sind. Das Entscheidende ist, dass wir in der Wissenschaftspolitik wahrgenommen werden. Dass wir in der allgemeinen Öffentlichkeit und in den Medien weniger gesehen werden, liegt daran, dass wir die Positionen nicht so zugespitzt formulieren können oder wollen. Wir finden abwägende und differenzierende Empfehlungen angemessener.

"Wir wollen wirksam sein, möglichst ohne einen kurzfristigen Knall oder Effekt zu erzeugen."

F&L: Trotzdem haben Sie etwas verändert: Seit seiner Gründung 1957 äußert sich der Wissenschaftsrat als wissenschaftspolitisches Beratungsgremium für Bund und Länder vorwiegend in umfangreichen, sehr differenzierenden Gutachten. Ist das noch zeitgemäß oder bedarf es neuer Formate?

Wolfgang Wick: Es ist nachvollziehbar, dass die Politik und die Öffentlichkeit von uns zugespitzte Thesen haben wollen. Dazu haben wir die Positionspapiere, die deutlich fokussierter und auf Empfehlung ausgerichtet sind. Die Positionspapiere haben einen deutlich verkürzten Analyseteil, sind weniger datenstark und mehr meinungsorientiert. Grundsätzlich sollen die Veröffentlichungen des Wissenschaftsrats empiriegestützte und wissenschaftlich fundierte Arbeiten sein, die einen beschreibenden und einen bewertenden Teil haben. Gleichzeitig arbeiten wir an neuen Formaten, wie wir die erarbeiteten Themen fokussierter in die Öffentlichkeit bringen können. Das wären zum Beispiel Symposien und Tagungen, um die Kommunikation zu bestimmten Themen zu verbessern, um damit die Menschen mehr zu erreichen. Wir wollen wirksam sein, möglichst ohne einen kurzfristigen Knall oder Effekt zu erzeugen.

F&L: Wo können Sie noch stärker agieren, um im Sinne des Wissenschaftsrats die Themen in die Öffentlichkeit zu bringen?

Wolfgang Wick: Wir müssen sicherlich bei der Themenauswahl aufmerksam sein, um wichtige Fragen frühzeitig zu erkennen, denn wir haben die Chance, früher als der Gesetzgeber oder die Gesellschaft, bestimmte Themen anzufassen und Trendsetter zu werden. Außerdem müssen wir über neue Formate in der Kommunikation nachdenken. Wir müssen stärker mit anderen Medien, Hochschulen und außeruniversitären Forschungsreinrichtungen über unsere Vorschläge ins Gespräch kommen. Wir versuchen, uns vermehrt der Auseinandersetzung zu stellen. Ein Beispiel ist die kritische Diskussion  zu unseren Empfehlungen zur Geschlechterforschung oder zur Lehramtsausbildung im Fach Mathematik. Wir möchten gerne in Zukunft häufiger mit unseren Positionen provozieren. Das können wir sicherlich noch besser machen und sollten nicht warten, bis uns die Themen einholen. Das müssen wir uns noch stärker trauen.Manche Ingenieurinnen und Ingenieure müssen "mit Ketten" an den Universitäten festgehalten werden, weil sie sonst sehr rasch in die Industrie abwandern, wohingegen in anderen Bereichen mit den Doktoranden und Postdocs mehr über alternative Karriereperspektiven außerhalb der Wissenschaft gesprochen werden muss.

F&L: Sie haben viel auf Ihrer Agenda. Wie gehen Sie es weiter an?

Wolfgang Wick: Als Mediziner arbeite ich zielorientiert: Die Dinge sollten praktisch handhabbar sein, verstehbar für unterschiedliche Bildungsstufen und Herkünfte. Mich reizt außerdem die kognitive Dissonanz bei uns Menschen: Wir wissen, was wir tun müssten, um "gesund" zu bleiben, aber machen es trotzdem immer wieder anders. Das betrifft nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Diskussionen und Abläufe im Wissenschaftsrat.

F&L: Im Wissenschaftsrat sind neben der Wissenschaft auch Bund und Länder vertreten. Ist das mehr Fluch oder Segen?

Wolfgang Wick: Das ist mehr Segen, manchmal auch ein bisschen Fluch. Inhaltlich gibt es ein hohes Maß an Übereinstimmung und Konsens mit Bund und Ländern, allerdings bremsen uns Finanzierungsfragen zu stark. Da müssen wir verstärkt gemeinsam überlegen, wie die Empfehlungen besser umgesetzt werden können. Die Trennung zwischen der Empfehlungsebene, die wir gegenüber Bund und Ländern einnehmen, und der Ebene der Umsetzung, macht es oft schwieriger als nötig. Inhaltlich sind die unterschiedlichen Positionen des Bundes mit seinen verschiedenen Fördermöglichkeiten und Verantwor­tun­­gen gegenüber den Ländern häufig ein gutes Regulativ gegenüber den individuellen Interessen der Länder und umgekehrt. Wenn wir Geldgeber und Entscheidungsträger an einem Tisch sitzen haben, haben wir mit Blick auf die Wirksamkeit eine gute Ausgangsvoraussetzung.

"Der Wissenschaftsrat sieht es kritisch, die Professur zum einzigen Karriereziel zu erklären."

F&L: Mit der Diskussion um die Neugestaltung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes hat die Auseinandersetzung um verlässliche Karrierewege in der Wissenschaft neue Fahrt aufgenommen. Wie positioniert sich der Wissenschaftsrat hierzu inhaltlich?

Wolfgang Wick: Es ist wichtig und richtig, dass die Diskussion so geführt wird, wie sie geführt wird, nämlich öffentlich und transparent. Es ist ein großes Glück, dass die verschiedenen Gruppen in der Öffentlichkeit sichtbar sehr kontrovers diskutiert haben. Aus Sicht es Wissenschaftsrats geht es darum, möglichst attraktive Bedingungen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu schaffen. Karrierewege müssen transparent sein und es muss eine bessere Planbarkeit geben. Was das Inhaltliche betrifft: Der Wissenschaftsrat sieht es kritisch, die Professur zum einzigen Karriereziel zu erklären. Wir glauben, dass es andere Karriereperspektiven geben muss, und haben das auch vor zehn Jahren schon mal formuliert. Es sollte wissenschaftliche Positionen auch neben einer Professur geben, die trotzdem selbstständig und möglicherweise mit geringeren Ressourcen arbeiten. Das wissenschaftsnahe Personal mit Daueraufgaben bräuchte andere und kürzere Qualifikationszeiten. Wir halten außerdem eine Postdoc-Phase von maximal vier Jahren für sinnvoll. Wir wollen uns aber aus den "4plus2"-Debatten über eine mögliche Verlängerung einer vierjährigen Befristung um weitere zwei Jahre heraushalten, denn es stellt sich die Frage, wovon die Zusage zu einer Verlängerung abhängt und was in dieser Zeit passieren soll. Wir sollten darüber diskutieren, was die unterschiedlichen Fächer und Karriereoptionen brauchen.