Gebäude der Humboldt-Universität
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"Wissenschaft lebt von Freiheit und Debatte"

Die Humboldt-Universität sagt einen Vortrag zum Thema Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie ab und wird kritisiert. Über Freiheit und Aktivismus.

04.07.2022

Wenn sich die Bundesforschungsministerin zur Absage des Vortrags einer Doktorandin äußert, dann muss es um die großen Themen gehen: Wissenschaftsfreiheit und Debattenkultur. Der Vortrag, den Marie-Luise Vollbrecht im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaften Berlin und Potsdam an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) am Samstagnachmittag halten wollte, hatte den Titel "Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt". Kurzfristig wurde die Veranstaltung durch die Hochschule abgesagt. Ministerin Bettina Stark-Watzinger kritisierte diese Absage am Sonntag im Gespräch mit der Bild-Zeitung: "Wissenschaft lebt von Freiheit und Debatte. Das müssen alle aushalten".

Auch Professor Bernhard Kempen, Präsident des Deutschen Hochschulverbands, äußerte sich gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa) am Montag zur Absage. Die HU Berlin habe mit dieser der Wissenschaftsfreiheit einen Bärendienst erwiesen. Die Hochschule "hätte stattdessen Rückgrat beweisen sollen und alles daran setzen müssen, dass der Vortrag stattfinden kann." Universitäten seien Stätten geistiger Auseinandersetzung, an denen jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler ihre und seine Forschungsergebnisse und Ansichten ohne Angst zur Diskussion stellen können müsse. Differenzen seien im argumentativen Streit auszutragen.

Laut Stark-Watzinger dürfe es nicht in der Hand von Aktivisten liegen, welche Positionen gehört werden könnten und welche nicht. Im Vorfeld der Veranstaltung hatten verschiedene Studierendengruppen Proteste gegen Vollbrechts Vortrag angekündigt. Der "Arbeitskreis kritischer Jurist*innen" (AKJ) etwa hatte in einer Pressemitteilung vom Freitag zu Gegenprotesten aufgerufen und die These Vollbrechts, dass es in der Biologie nur zwei Geschlechter gebe, als "menschenverachtend und queer- und trans*feindlich" bezeichnet. In seiner Kritik bezieht sich der AKJ auch auf einen Artikel, dessen Mitautorin Vollbrecht war und der bei seinem Erscheinen in der Zeitung "Welt" Anfang Juni heftige Kritik ausgelöst hatte. In diesem hatten die Autorinnen und Autoren den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD und ZDF vorgeworfen, Kinder "sexualisieren und umerziehen" zu wollen, indem ihnen etwa transgender Lebenswirklichkeiten gezeigt würden.

Die Autorinnen und Autoren kritisieren in ihrem Gastbeitrag "Vielgeschlechtlichkeit" gegenüber einer angeblich wissenschaftlich bestätigten Zweigeschlechtlichkeit als "Fehlinformation". Im Auftrag des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte hat die Initiative "UN Free and Equal" bereits 2016 festgehalten, dass 1,7 Prozent der Kinder mit Geschlechtsmerkmalen geboren werden, die nicht eindeutig ausschließlich dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können. Entsprechend laut war die Kritik in verschiedenen Medienbeiträgen. "Übermedien" etwa zählt die Autorinnen und Autoren "zum Who’s Who der deutschen Gegnerschaft von Trans-Identitäten". Auch Springer-Chef Matthias Döpfner distanzierte sich von dem Text und kritisierte ihn als unwissenschaftlich.

Ein neuer Termin für den Vortrag

Der "Tagesspiegel" zitiert HU-Sprecherin Birgit Mangelsdorf, dass Vollbrechts Vortrag aus Sicherheitsbedenken abgesagt worden sei. Zudem sei die Entscheidung im Sinne der Gesamtveranstaltung erfolgt. Es habe die Gefahr bestanden, dass die Nacht der Wissenschaften "durch den Konflikt um den Vortrag überschattet worden wäre". Mit der Absage sei keine inhaltliche Wertung einhergegangen, so Mangelsdorf. Gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) distanzierte sich die Hochschule am Sonntag allerdings von Vollbrecht und bezog sich dabei auf den kritisierten Welt-Gastbeitrag. Die darin vertretenen Meinungen stünden nicht "im Einklang mit dem Leitbild der HU". Die Hochschule sei dem "wechselseitigen Respekt vor dem/der Anderen" verpflichtet. HU-Sprecher Boris Nitzsche gab gegenüber "dpa" am Montag an, dass die Entscheidung, den Vortrag abzusagen, mit dem umstrittenen Artikel in der "Welt" nichts zu tun gehabt habe.

Die "FAZ" hatte mit Bezug auf Sprecherin Mangelsdorf berichtet, dass Vollbrecht ein Folgetermin für ihren Vortrag angeboten würde, bei dem ihr Thema gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern von Trans-Gruppen und des "Referent_innenrates" der HU diskutiert werden könne. Am Montagnachmittag kündigte HU-Sprecher Nitzsche dann gegenüber "dpa" an, dass stattdessen eine Podiumsdiskussion geplant sei, zu der auch Stark-Watzinger und die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote (Grüne) eingeladen werden sollen. "Es geht uns vor allem um die Frage: Wie können wir Wissenschaftsfreiheit gewährleisten? Wie müssen sich Universitäten und auch die Politik dazu aufstellen?", so Nitzsche. Als Termin sei der 14. Juli geplant. Man wolle den abgesagten Vortrag "aufgreifen und kontextualisieren und diskutieren". Der Sender "RBB" hatte zunächst über den neuen Termin berichtet.

Vollbrecht, die laut ihrer Institutswebseite eigentlich zu den Auswirkungen von Sauerstoffmangel auf die Hirnzellen von elektrischen Fischen und deren Sinnesverarbeitung und Verhalten forscht, hat ihren Vortrag inzwischen in einem YouTube-Livestream gehalten. Das Video wurde bereits über 50.000 Mal abgerufen. Auf Twitter analysieren User währenddessen frühere Posts von Vollbrechts Account auf Transfeindlichkeit, andere Accounts solidarisieren sich mit ihr.

aktualisiert am 06.07.2022 um 10.25 Uhr, zuerst veröffentlicht am 04.07.2022 um 11.45 Uhr

cpy