Wissenschaftsfreiheit
Beschneidet die "Cancel Culture" die Freiheit der Wissenschaft?
Der Begriff der "Cancel Culture" existiert etwa seit 2014. Anfangs soll er auf Twitter in einem scherzhaft gemeinten Sinne für die Mitteilung verwendet worden sein, Menschen, deren Meinung man ablehne, seien "gecancelt". Später wurde er als sogenannter Hashtag von tatsächlich oder vermeintlich marginalisierten Minderheiten verwendet, die forderten, bestimmte Meinungen sollten nicht mehr geäußert werden dürfen beziehungsweise bestimmte Personen dürften keine Möglichkeit zur Verbreitung ihrer Positionen mehr bekommen. Der Begriff sollte positiv konnotiert sein: Wer ihn gebrauchte, trat bewusst als Vertreter einer "Cancel Culture" auf. Das hat sich geändert: Die Qualifikation einer Äußerung als "Cancel Culture" ist heute regelmäßig negativ gemeint; sie enthält den Vorwurf einer unzulässigen Unterdrückung bestimmter Äußerungen. Denjenigen, die ihn in diesem Sinne verwenden, wird im Gegenzug häufig vorgehalten, in Wahrheit wollten sie ihre Positionen nur gegen Kritik immunisieren – worauf sie wiederum keinen Anspruch hätten.
"Die Qualifikation einer Äußerung als 'Cancel Culture' ist heute regelmäßig negativ gemeint."
Diese Debatte wird gesamtgesellschaftlich geführt. Der Streit um die Anwesenheit einzelner Verlage bei der Frankfurter Buchmesse ist erst wenige Tage* her. Schon vor circa zwei Wochen* haben die "Neuen deutschen Medienmacher", ein Journalistennetzwerk, das sich unter anderem für mehr Diversität in Redaktionen einsetzt, die in den Medien geführte Debatte über die sogenannte Identitätspolitik mit ihrem Negativpreis der "Goldenen Kartoffel für besonders unterirdische Berichterstattung" ausgezeichnet. Durch die Diskussion über Begriffe wie "Cancel Culture" seien "rechtsradikale Thesen normalisiert und salonfähig gemacht" worden. Die Frage, ob sie damit nicht gerade bestätigen, was sie zu widerlegen suchen, dass es nämlich um die Unterdrückung von Diskursen geht, würde einen eigenen Impuls tragen.
Auseinandersetzungen an den Hochschulen
Besonders deutlich manifestieren sich diese Auseinandersetzungen an den Hochschulen. Die Wahrnehmung vieler Wissenschaftler, eine Cancel Culture breite sich auch hier aus und gefährde die Wissenschaftsfreiheit, hat Anfang dieses Jahres zur Gründung eines "Netzwerks Wissenschaftsfreiheit" geführt. Dass das Netzwerk in dieser kurzen Zeit bereits 600 Mitglieder gewinnen konnte, ist sicher kein Beweis für eine tatsächliche Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit. Aber die umgekehrte These, eine solchen Gefahr nähmen nur wenige Sonderlinge wahr, wird sich kaum noch vertreten lassen. Jedenfalls hat die Gründung des Netzwerks eine bemerkenswerte Resonanz hervorgerufen: Die Medien haben breit und naturgemäß mit sehr unterschiedlichem Tenor berichtet. Den Mitgliedern wurde vorgehalten, sie hätten lediglich keine Lust, sich mit Kritik auseinanderzusetzen. Es hat sich sogar unter demselben Namen ein "Gegennetzwerk" gegründet, das sich in seinem Internetauftritt desselben Namens unter einer anderen Top Level Domain bedient (org statt de). Über seine zahlenmäßige Stärke lässt sich nichts sagen; die Homepage nennt lediglich die Erstunterzeichner.
Appelle und Initiativen, die Bedrohungen für die akademische Redefreiheit beklagen, gibt es im Übrigen nicht nur in Deutschland. In Großbritannien haben erst im Oktober 200 Akademiker ein Klima der Einschüchterung durch aggressive Aktivisten an Universitäten beklagt, die insbesondere im Fall von unliebsamen Äußerungen zu Transgenderthemen selbst vor Morddrohungen nicht zurückschreckten. Vor zwei Tagen* wurde bekannt, dass die britische Professorin Kathleen Stock ihre Tätigkeit an der Universität Sussex wegen einer gegen sie gerichteten Kampagne trotz klarer Unterstützung durch ihre eigene Universität aufgibt. Ausweislich der verfügbaren Presseberichte entzündete sich die gegen sie gerichtete Kritik zentral an der These, das Geschlecht sei eine unveränderliche biologische Tatsache. Dass die ersten Angriffe aus dem akademischen Bereich selbst kamen, wertete die "Welt" als besonders bedenklich.
Auch in Deutschland nimmt die Zahl der Fälle zu, in denen versucht wird, die Tätigkeit bestimmter Personen an Universitäten zu beenden, Auftritte einzelner Redner zu verhindern oder die Äußerung bestimmter Auffassungen unmöglich zu machen. Dass die darauf gerichteten Initiativen von einem ausländischen Staat ausgehen wie jüngst beim Versuch, eine Buchvorstellung an Konfuzius-Instituten zu untersagen, ist selten. Häufiger sind es Studierende oder andere Mitglieder der eigenen Hochschule, gegebenenfalls aber auch externe Dritte, die entsprechenden Druck aufbauen. Hochschulleitungen halten diesem Druck in etlichen Fällen stand. In anderen Fällen nehmen sie es hin, dass Veranstaltungen verhindert werden – oder verhindern diese sogar selbst. Für alle diese Konstellationen lassen sich auch hierzulande Beispiele finden.
Die rechtliche Beurteilung
Aus rechtlicher Sicht ist das Verhältnis zwischen derartigen Manifestationen einer "Cancel Culture" einerseits und der Wissenschaftsfreiheit andererseits jedenfalls bei theoretischer Befassung kein besonders spannendes Thema. Das Grundgesetz verbürgt die Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht, auf das sich alle Wissenschaftler berufen können. Damit befinden sich diese in einer entspannten und komfortablen Situation. Wozu also die Aufregung?
Leider ist es mit der Verbürgung einer Freiheit allein nicht getan. Sie muss auch gelebt und verteidigt werden. Und sie muss richtig verstanden werden. Das erscheint bei der Wissenschaftsfreiheit derzeit nicht bei allen Akteuren gewährleistet. Lassen Sie uns daher gemeinsam einen Blick auf dieses Freiheitsrecht werfen, um dann ihr Verhältnis zur "Cancel Culture" zu klären.
I. Der Umfang der Wissenschaftsfreiheit
1. Die sachliche Reichweite
In ihrem Kernbereich umfasst die Wissenschaftsfreiheit – in der Diktion des Bundesverfassungsgerichts – einen grundsätzlich vorbehaltlos geschützten Freiraum, der das Auffinden von Erkenntnissen, ihre Deutung und ihre Weitergabe umfasst und in dem der Wissenschaftler "absolute Freiheit von jeder Ingerenz öffentlicher Gewalt" genießt. Jeder Wissenschaftler könne jede staatliche Einwirkung auf die Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse abwehren; das Grundrecht gewähre ihm einen grundsätzlich von Fremdbestimmung freien Bereich autonomer Verantwortung.
Das gilt auch für die Freiheit der Lehre, auf die ich mich hier konzentrieren möchte. Sie schützt vor Staat und Hochschule, indem sie Gebote und Verbote mit Blick auf Kernbereiche der Lehre untersagt: Art. 5 III GG schützt die Auswahl der behandelten Fragen, die zu ihnen vertretenen Auffassungen und den gewählten Weg der Erkenntnisvermittlung in umfassender Weise. Das Grundrecht gestattet die thematisch möglichst breit angelegte und hinsichtlich der Bewertung ausgewogene, unterschiedliche Positionen lediglich gegenüberstellende Lehre. Sie gestattet aber auch die einseitige und akzentuierte Lehre, bei der der Dozent klar Position bezieht. Selbst wenn die vor einiger Zeit kritisierte Diskussionsveranstaltung zum muslimischen Kopftuch in Frankfurt/Main nicht so konzipiert gewesen wäre, dass Vertreter ganz unterschiedlicher Auffassung zu Wort kommen sollten, wäre sie nicht weniger schutzwürdig gewesen. Art. 5 III GG verlangt nur, dass der der Lehre vorausgehende Prozess des Erkenntnisgewinns unterschiedliche Positionen berücksichtigt, weil er andernfalls seinen wissenschaftlichen Charakter verliert. Die Weitergabe einer durch Forschung gewonnenen Überzeugung aber büßt ihre Qualität als grundrechtlich geschützte Lehre auch dann nicht ein, wenn die vertretenen Positionen denen bestimmter politischer Parteien ähneln oder wenn deren Auffassung und Thesen – auf wissenschaftlicher Grundlage – bewertet werden. Auch "engagierte" Wissenschaft ist frei. Entsprechendes gilt für die Auswahl der behandelten Literatur: Werden aus wissenschaftlichen Gründen allein Werke maximal 30-jähriger Transsexueller behandelt, genießt das den gleichen Grundrechtsschutz wie die Lektüre allein der Schriften vermeintlich "alter weißer Männer".
Der Schutz der freien Lehre hängt auch nicht davon ab, wem die vertretenen Thesen oder schon die behandelten Themen missfallen, ob die Positionen als politisch inopportun gelten, wie meinungsstark, gut organisiert und empörungsaffin ihre Gegner sind oder mit welchem Anspruch moralischer Überlegenheit sie antreten. Ob das Kopftuch der Lehrerin als legitimes Zeichen religiöser Selbstverwirklichung oder als Instrument der Unterdrückung gewertet wird, ist für den Grundrechtsschutz nicht relevant. Wissenschaftliche Bedenken gegen die von Jugendlichen frei vorgenommene Wahl des Geschlechts ohne ärztliche Diagnosen oder elterliche Beteiligung werden von Art. 5 III GG ebenso erfasst wie die auf fachlicher Expertise beruhende Befürwortung einer solchen Regelung.
Das alles mag im Rahmen eines regelmäßig ins Hysterische abgleitenden Diskurses, der zur Skandalisierung unbequemer Auffassungen neigt, als irritierend empfunden werden. Irritationen auszulösen gehört aber zu den Aufgaben der Wissenschaft. Ihr Grundrechtsschutz dient gerade dazu, sie vor politischem Konformitätsdruck zu bewahren. Anders formuliert: Wo auf Twitter die kollektive Schnappatmung beginnt, hört die Wissenschaftsfreiheit noch lange nicht auf. Gerade hier bedarf es ihrer sogar in besonderer Weise.
"Wo auf Twitter die kollektive Schnappatmung beginnt, hört die Wissenschaftsfreiheit noch lange nicht auf. "
Unerheblich ist auch die "Richtigkeit" oder "Unrichtigkeit" der vertretenen Positionen. Wer einen vermeintlich gesicherten Stand der Erkenntnis in Frage stellt, bewegt sich – solange er sich wissenschaftlicher Methoden bedient – im Schutzbereich des Grundrechts. Das gilt übrigens auch in Coronazeiten. Außerhalb des Grundrechtsschutzes positioniert sich hingegen derjenige, der einen bestimmten Stand der Erkenntnis für sakrosankt erklärt und jeden seriösen Versuch der Falsifizierung als diskursunwürdig abqualifiziert.
Unentbehrlich ist freilich der Bezug des vermittelten Stoffs zur eigenen Forschung. Allgemeine politische Verlautbarungen sind nicht von der Wissenschaftsfreiheit geschützt.
Die Lehrfreiheit beschränkt sich sachlich auf den Schutz spezifisch wissenschaftlicher Äußerungen. Das schließt einen Schutz durch die Meinungsfreiheit zwar nicht aus. Aber das ist heute nicht mein Thema.
2. Die persönliche Reichweite
In persönlicher Hinsicht erscheint zunächst der Hinweis veranlasst, dass der Grundrechtsschutz der Themenwahl allein von der wissenschaftlichen Qualifikation abhängt, nicht von individuellen Merkmalen: Der dunkelhäutige Dermatologe genießt für die Verbreitung seiner Erkenntnisse zu Hautproblemen hellhäutiger Menschen denselben Grundrechtsschutz wie der weiße Afrikanist, der sich zu Fragen der Kolonialzeit äußert. Die Idee, einzelne Themen seien Betroffenen oder Angehörigen bestimmter Gruppen vorbehalten, ignoriert nicht nur das Gedankengut der Aufklärung. Das geltende Verfassungsrecht erteilt ihr eine klare Absage.
Der Grundrechtsschutz der Hochschullehrer steht auch dann außer Frage, wenn sie zwischenzeitlich politisch tätig waren oder dies parallel sein sollten. Besondere Aufmerksamkeit verdienen darüber hinaus Gastvorträge etc., die gerne Ziel von Verhinderungsbemühungen werden. Insofern gilt es zunächst klarzustellen, dass weder die Wissenschaftsfreiheit noch andere Grundrechte ein Recht auf Gastauftritte an Universitäten beinhalten. Daraus folgt jedoch nicht, dass Maßnahmen, die sich gegen solche Auftritte richten, aus Sicht der Wissenschaftsfreiheit unbedenklich sind: Jedenfalls in Fällen, in denen ein Wissenschaftler Externe einlädt, die aus seiner Sicht etwas beizutragen haben, ist diese Entscheidung von seiner Wissenschaftsfreiheit gedeckt. Ob der Eingeladene selbst Wissenschaftler ist oder ob er aus seiner Perspektive als Polizeigewerkschafter oder Politiker (Fälle Wendt/Sarrazin) beziehungsweise als Herausgeberin einer Frauenzeitschrift (Alice Schwarzer) berichten soll, spielt keine Rolle.
3. Die Pflicht zum Schutz der Wissenschaft auch vor Dritten
Der somit umrissene Schutz richtet sich nicht allein gegen Eingriffe des Staates und der Hochschule selbst. Natürlich: Das Rektorat, das den Auftritt eines Gastreferenten durch die Sperrung dafür benötigter Mittel oder die Versagung von Räumen zu verhindern sucht, muss sich dafür rechtfertigen – und wird das häufig nicht können. Damit aber nicht genug: Art. 5 III GG verpflichtet den Staat und die Hochschule zugleich dazu, die freie Wissenschaft vor Dritten zu schützen. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass jederzeit ein Sicherheitsdienst oder gar Polizisten vorgehalten werden müssen. Aber auf erkennbare Bedrohungslagen etwa durch die angekündigte Verhinderung von Vorlesungen müssen Hochschulleitung und Polizei so reagieren, dass die Veranstaltungen ordnungsgemäß stattfinden können. Ein Beispiel dafür, wie das geht, hat gestern* die Uni Greifswald geliefert, wo die Rückkehr eines Professors nach einem längeren Ausflug in die Politik zwar von Protesten begleitet, dank Polizei und Sicherheitsdienst aber möglich war. Im Übrigen mag es unter besonderen Umständen noch hinnehmbar sein, dass einzelne Vorlesungen gewisse Beeinträchtigungen erfahren. Systematische und dauerhafte Störungen aber sind jedenfalls nicht akzeptabel. Wo in diesem Bereich der Fall Lucke in Hamburg zu verorten ist, kann man sicher streitig diskutieren.
II. Die Grenzen der Lehrfreiheit
Im Übrigen reichen die Wissenschaftsfreiheit im Allgemeinen und die Lehrfreiheit im Besonderen nicht grenzenlos weit.
1. Die Verfassungstreue
Das Grundgesetz selbst ordnet an, dass die Freiheit der Lehre nicht von der Treue zur Verfassung entbindet. Damit ist sachliche Kritik am Grundgesetz freilich nicht ausgeschlossen, sondern lediglich das böswillige Verächtlichmachen grundgesetzlicher Essentialia, also die unsachliche Schmähkritik gegenüber Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
2. Das beamtenrechtliche Mäßigungsgebot
Weitere Schranken des Grundrechts können sich nur – aber immerhin – aus kollidierendem Verfassungsrecht ergeben.
Insofern mag es verlockend erscheinen, an das beamtenrechtliche Mäßigungsgebot als Teil der Treuepflicht zu denken. Dieses hilft jedoch jedenfalls im Bereich der Lehre gerade nicht, weil es dort nicht gilt. Das VG Berlin bringt es auf den Punkt: "Eine gemäßigte Wissenschaft könnte allzuleicht in eine mäßige Wissenschaft umschlagen. Es gehört zur Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft, die unteilbare Wahrheit kompromisslos – ohne Rücksicht auf gesellschaftliche oder politische Akzeptanz – zu erforschen und unverfälscht auszusprechen."
3. Grundrechte Dritter
Beschränkt werden kann die Wissenschaftsfreiheit jedoch – wie jedes andere Grundrecht auch – zum Schutz der Menschenwürde (Art. 1 I GG). Ein weiteres Grundrecht, das Eingriffe in Art. 5 III GG zu legitimieren vermag, ist zum Beispiel das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG), das gegenüber beleidigender oder in anderer Weise gegen das Persönlichkeitsrecht Dritter gerichteter Lehre relevant werden kann. Ein potenzielles Gegenrecht ergibt sich schließlich aus den grundrechtlich abgesicherten Ausbildungsinteressen der Studenten.
III. Die Bedeutung für Sanktionen, Kritik und Protest
Welche Möglichkeiten gibt es nach alledem, Wissenschaftler zu sanktionieren oder gegen sie beziehungsweise die von ihnen vertretenen Positionen zu protestieren?
1. Sanktionen des Staates und der Hochschule
Auf beleidigende oder gar die Menschenwürde Einzelner verletzende Lehre darf mit Mitteln des Disziplinar- beziehungsweise des Strafrechts reagiert werden. Mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beziehungsweise der Menschenwürde stehen Schranken im kollidierenden Verfassungsrecht zur Verfügung. Entsprechendes gilt für Reaktionen der Hochschule oder des Dienstherrn auf die Verächtlichmachung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Über punktuelle und auf besondere Situationen zugeschnittene Reaktionen reichen die dem Staat und der Hochschule zukommenden Optionen aber nicht hinaus. Allgemeinen Forderungen nach bestimmten Inhalten oder Formen der Lehre lässt sich allenfalls (aber immerhin) durch das Angebot paralleler Veranstaltungen Rechnung tragen, die von anderen Dozenten gehalten werden, die dazu bereit sind, diese Forderungen zu erfüllen. Der "ungeliebte" Dozent ist nur zur Einhaltung des geltenden Rechts verpflichtet. Eine Universität ist eben kein soziales Netzwerk, das – wie der BGH gerade entschieden hat – über seine AGB Kommunikationsstandards vorgeben darf, die über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehen.
2. Studentische und externe Kritik
Auf die Einhaltung geltenden Rechts aber beschränken sich Wünsche an die Lehre häufig nicht mehr. Sie zielen vielmehr auf die Durchsetzung eigener Vorstellungen von Lehrinhalten oder Vermittlungsformen – oder darauf, dass einzelne Personen nicht auftreten, dass bestimmte Positionen nicht vertreten werden oder dass sie sich nicht zu bestimmten Themen äußern. Dafür aber steht typischerweise schon kein kollidierendes Verfassungsrecht zur Verfügung. Ein studentisches oder gar externes Recht auf die Nichtbehandlung bestimmter Themen, auf eine spezielle Literaturauswahl oder auf die Verwendung bestimmter Lehrmethoden kennt das Grundgesetz schlicht nicht. Es gibt auch kein Recht auf die Nichtäußerung von Meinungen, die einem selbst widerstreben. Nach "Trigger-Warnungen", "Safe Spaces" und anders zugeschnittenen Literaturlisten darf man fragen. Einseitig durchsetzen darf man diese Wünsche nicht: Die Uni ist kein Schutzraum. Das schließt Protest und Kritik nicht aus. Kritische Wortmeldungen im Rahmen einer Vorlesung sind ihrerseits grundrechtlich gedeckt. Gleiches gilt für die Demonstration gegen einen Dozenten und die von ihm vertretenen Positionen – solange Demonstranten die geordnete Durchführung der Veranstaltung nicht behindern.
"Auf die Einhaltung geltenden Rechts aber beschränken sich Wünsche an die Lehre häufig nicht mehr. "
Das Grundgesetz schützt das Recht, sich selbst zu äußern und eigene Positionen zu vertreten. Ein Recht, dass andere sich nicht äußern, dass bestimmte Positionen nicht vertreten werden oder dass man von abgelehnten Positionen verschont bleibt, kennt das Grundgesetz nicht nur nicht. Es erteilt der Idee eines solchen Cancel-Grundrechts durch die Verbürgung der Äußerungsfreiheiten eine klare Absage. Insofern ist es aus juristischer Perspektive auch schlechterdings unhaltbar, wenn das "Gegennetzwerk Wissenschaftsfreiheit" erläutert, Wissenschaftsfreiheit stelle für seine Mitglieder "die Basis für Aushandlungsprozesse dar", oder wenn die Süddeutsche Zeitung mit Blick auf Einladungen zum Beispiel von Thilo Sarrazin schreibt, die Demokratie müsse Dissens und Streit aushalten, aber auch Grenzen verhandeln. Soweit die Einladung von der Lehrfreiheit des Dozenten erfasst ist, ist die Inanspruchnahme dieses seines Grundrechts weder rechtfertigungs- noch verhandlungsbedürftig.
Fazit
Ich komme zum Schluss. Wer es mit Hans Kelsen als ein "groteskes Bild akademischer Freiheit" empfindet, dass dieser seine Vorlesungen an der Deutschen Universität Prag ab 1936 wegen der Störungen durch nationalsozialistische Studenten nur in Gegenwart von Kriminalbeamten halten konnte, darf andernorts und zu anderer Zeit notwendigen Polizeischutz auch dann nicht achselzuckend hinnehmen, wenn die Störer dort andere Parolen skandieren. Redefreiheit im akademischen Bereich gilt strikt; sie ist nicht verhandelbar. Störer des akademischen Prozesses ist nicht derjenige, der die forschungsbasierte Äußerungsfreiheit für sich in Anspruch nimmt. Störer ist derjenige, der sie in Abrede stellt. Sie in Anspruch zu nehmen, ist die Rolle der Wissenschaftler. Sie gegenüber Dritten zu schützen, ist zuvörderst Aufgabe der Hochschulleitungen. Der Fall Kathleen Stock in Großbritannien wiegt schwer genug. Parallelfälle in Deutschland darf es nicht geben.
* Gekürzte Fassung eines Impulsvortrags auf der 74. Sitzung der Mitgliedergruppe Universitäten in der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) am 3. November 2021 in Berlin
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