Dr. Holger Richter
privat

Standpunkt
Besser neurotisch als psychotisch

Die Kontroversen unserer Gesellschaft könnten wir durch neurotische Kompromisse lösen. Lieber schmerzhafte Toleranz als eine psychotische Spaltung.

Von Holger Richter 05.10.2019

Ein Psychotiker sagt stolz und überzeugt: "Zwei plus zwei ist gleich fünf." und beschuldigt alle, die es anders sehen.

Der Neurotiker sagt: "Zwei plus zwei ist gleich vier; aber ich kann es nicht ertragen!"

Neurosen sind psychologisch Kompromissbildungen, die die Symptome verursachen. Für mehr Geld und Lob vom Chef länger arbeiten, aber abends keine Lust auf Sex mehr haben, zum Beispiel.

Die kontroversen gesellschaftlichen Standpunkte unseres Landes derzeit könnten wir eigentlich in Kompromissen wie in der Neurose lösen. In schmerzhaften Koalitionen von unbequemen Meinungen, etwa zwischen nationaler Identität und Weltoffenheit, die beiden Seiten etwas abverlangen; schwer zu ertragen, aber ein (normal-) neurotischer Mechanismus.

Unser Land aber ist tief gespalten durch die Parteien, Medien bis in Freundeskreise und Familien hinein und weit entfernt von Kompromissen.

Aus psychologischer Sicht ist eine Spaltung ein psychotischer Mechanismus.

In der Psychose wird Realität nicht anerkannt, Unerträgliches weggeblendet, ein eigener Anteil am Geschehen wird negiert. Es werden Realitäten konstruiert, der eigenen Überzeugung konträre Informationen nicht mehr wahrgenommen, es kommt zu "filter bubbles" und damit zu wahnhaften Überzeugungen, das heißt durch Fakten nicht mehr widerlegbare Glaubenssätze, etwa zu den Eigenschaften von Ausländern oder zu Enteignungen.

Spaltungen entstehen, wenn eine unerträgliche psychische Realität ausgehalten werden soll, an der ich schuldhaft mit beteiligt bin und die meine Identität bedroht.

Der Täter- und der Opfer-Anteil an einem Geschehen wird aufgespalten. Täter sind so immer die anderen.

Es kommt in der Spaltung der Psychose zu doppelten Maßstäben. So gibt es heute "gute" und "schlechte" Gewalt und "gute" und "schlechte" Wut oder Angst. Es kommt zu Projektionen: der eigene gewalt- und machtvolle Anteil wird in den jeweils anderen verlagert.

Es kommt zur Festlegung, was "die Wahrheit" ist. Wer "fake news" kennzeichnen kann, muss die "Wahrheit" kennen. Aus dem Besitz der "Wahrheit" ist schon immer religiöser Eifer entstanden, diese auch durchzusetzen. Dann werden unbequeme Autoren nicht zu Diskussionen eingeladen, Vertreter missliebiger Parteien körperlich angegriffen, Bibliothekarinnen, die für die falsche Partei sind, werden von wahrheitsliebenden Studenten nicht geduldet und dies alles wohl begründet.

Psychose führt politisch zu Gewalt.

An welchem Prozess will Hochschule beteiligt sein? Am psychotischen, spaltenden, abschottenden, in welchem manche Theorien gar nicht mehr besprochen werden können, vieles nur unter "Haltung" diskutiert werden kann? Fanatisch und intolerant, dass Gedichte von Häuserwänden entfernt, Lesungen und offene Diskussionen verhindert werden, Gewalt gegen Buchhandlungen ausgeübt wird, die "falsche" Bücher auslegen und besprechen?

Oder, differenziert, mit offenem Denken, harten Diskussionen, gleichen Rechten bei der Deutungs- und Argumentationsdarstellung, einem Dialog ohne Angst vor Sanktionen, mit Hypothesentestung, -verwerfung und Neugenerierung. Mit schmerzhafter Toleranz, normalneurotisch.