Simon W. Fuchs

Confirmation Bias
Das Primat der Moral und das Tasten nach den Graubereichen

Der Nahostkonflikt steht im Fokus von Diskussionen in Wissenschaft und Gesellschaft. Dessen Komplexität werden diese oft nicht gerecht.

Von Simon Wolfgang Fuchs 26.12.2023

Mir ist ein großes Maß an moralischer Überzeugung begegnet in den letzten Wochen. Klare, sichere Worte wurden da in den sozialen Medien formuliert. Viele Kolleginnen und Kollegen aus meinem Fach und darüber hinaus waren unmissverständlich in der Benennung von Aggressor und Opfer. Ich spreche natürlich vom Nahen Osten, von Israel und Palästina seit dem Massaker durch die Hamas und dem Beginn des Gazakriegs. Seitdem stolpere ich immer wieder über zwei Formulierungen. Da ist zum einen die Behauptung, der Nahostkonflikt würde künstlich verkompliziert.

"Mich überfordert diese Wucht, diese Kompromisslosigkeit."

Eigentlich liege ja alles klar auf der Hand. Man müsste nur die eigene Menschlichkeit fühlen und wiederentdecken, um zu wissen, was wahr und falsch sei. Zum anderen sind mir unzählige Posts begegnet, in denen das "dröhnende Schweigen" dieser oder jener Personengruppe beziehungsweise Institution angeprangert wurde. Wer sich jetzt nicht bekenne, nicht die moralisch angemessenen Begriffe (Apartheid, Genozid, Antisemitismus, Terroristen) verwende, habe die eigene Integrität und das Recht auf Teilnahme an der wissenschaftlichen Debatte in Zukunft auf immer verwirkt. "We will never forget," hieß es da oft.

Mich überfordert diese Wucht, diese Kompromisslosigkeit. Seit nunmehr zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit der Region und komme oft über ein vorsichtiges Tasten nach den Graubereichen nicht hinaus. Alles Angelesene und alle scharfsichtige Analyse schwinden dann in einfachen, inkongruenten Begegnungen, die mich fragend und suchend zurücklassen.

Beitragsserie "Was mich 2023 geprägt hat"

Dieser Artikel ist Teil der Beitragsserie "Was mich 2023 geprägt hat". Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilen für sie prägende Erlebnisse aus 2023 und was sie daraus für 2024 mitnehmen. Die Beiträge erscheinen zwischen dem 25. und 29. Dezember auf forschung-und-lehre.de.

Kritische Reflexion statt Selbstbestätigung

Beispielsweise können wir natürlich Meinungsumfragen unter Palästinenserinnen und Palästinensern in der Westbank analysieren, nach denen die Zustimmung zur Hamas in den letzten Wochen stark gestiegen ist, vor allem aufgrund der Frustration mit der palästinensischen Autonomiebehörde, die als zu ineffizient und korrupt angesehen wird. Oder man redet mit Hasan, einem palästinensischen Schreiner, der vor kurzem mein Bücherregal im Unibüro noch einmal zurechtgerückt hat. Während er mit dem Akkuschrauber hantierte, waren wir schnell beim Eingemachten. "Simon, lass Dich nicht täuschen," sagte Hasan.

Wenn die Leute von Religionskonflikten redeten, hätten sie keine Ahnung. Warum sei denn die Religion das Problem? Ihm solle erst mal jemand aufzeigen, inwiefern sich denn Muslime, Christen und Juden überhaupt unterschieden. Wir alle beten zum gleichen Gott, der Rest ist marginal. "Um was es hier geht, sind knallharte materielle Interessen. Die politischen Eliten sitzen auf ihren Stühlen der Macht und wollen ihr Geld behalten. Das ist alles." Hasan, der laut eigener Aussage nur drei Jahre die Schule besucht aber auch fließend hebräisch spricht, umarmte mich, als er fertig war – und gab mir seine Telefonnummer.

"Denn genauso wie in der Wissenschaft, sind wir auch auf sozialen Medien schlecht beraten, wenn wir nicht aktiv gegen die Verlockungen unserer eigenen confirmation bias ankämpfen."

Ein paar Kilometer weiter traf ich am selben Tag die Mitarbeiter unserer Umzugsfirma. Mein Hebräisch ist noch nicht sehr ausgeprägt, ich versuchte es auf Arabisch. Doch der Vorarbeiter Ofir verzog nur das Gesicht und antworte auf Englisch: Nein, er könne kein Arabisch und wolle diese hässliche Sprache auch unter keinen Umständen hören. Da schimmerte er also wieder auf, der Hass, die Verachtung, die tiefe Kluft. Der Eindruck begleitete mich bis zum nächsten Tag, als ein verehrter, 87-jähriger Kollege und Holocaustüberlebender mir schilderte, welche tiefe emotionale Nähe ihn mit dem Arabischen und seiner Poesie verbinde.

Vor Ort in Jerusalem ist es eben diese Gleichzeitigkeit, die es jeden Tag auszuhalten gilt. Mir schreiben Studierende, die als eingezogene Offiziere gerade erst mit Ihrer Einheit aus Gaza zurückgekehrt sind. Ich erhalte Nachrichten von einer palästinensischen Studentin, die seit dem 7. Oktober nicht mehr das Haus verlassen und alle sozialen Medien deaktiviert hat, weil sie die Situation so belaste. Angesichts all dieser divergierenden Perspektiven – und meiner Unsicherheit im Umgang damit - war ich in den vergangenen Monaten ungemein dankbar für Interaktionen mit Kolleginnen und Kollegen, die mein Tasten jenseits von schwarz und weiß nachvollziehen können.

Eine pakistanische Kollegin, die in den Südstaaten der USA lehrt, meinte, dass sie sich selbst auf kein hohes moralisches Ross setzen wolle. Ihre Universität sei vor allem durch Zuwendungen von Sklavenhaltern errichtet worden. Eine jordanische Kollegin beglückwünschte mich zur Stelle in Jerusalem und betonte, wie wichtig gerade jetzt das Ringen um Verständigung sei. Und das Zuhören, möchte ich hinzufügen. Denn genauso wie in der Wissenschaft, sind wir auch auf sozialen Medien schlecht beraten, wenn wir nicht aktiv gegen die Verlockungen unserer eigenen confirmation bias ankämpfen. Auch wenn dieses Tasten frustrierender und schwerer ist als stetige moralische Selbstbestätigung.

Erfahrungsbericht

In "Forschung & Lehre" 12/23 berichtet Islamwissenschaftler Simon Wolfgang Fuchs über seine Erfahrungen vom Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Im September wechselte der Professor aus Freiburg an die Hebräische Universität in Jerusalem. Nach kurzer Zeit ging es für ihn vorübergehend zurück nach Deutschland, von wo aus er virtuell mit seinen Kolleginnen und Kollegen vor Ort im Austausch stand.