Ein Mann sucht den Ausweg aus einem Labyrinth (Illustration).
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Scheitern in der Wissenschaft
Der Irrtum hat mehr als ein Gesicht

Fehlschläge seien für den wissenschaftlichen Fortschritt hilfreich, so eine verbreitete These. Doch nicht alle gescheiterten Versuche sind von Nutzen.

Von Martin Carrier 08.11.2021

Nur durch tausend Irrtümer erreichen wir die Wahrheit, so zitiert Jutta Schickore eine verbreitete methodologische Maxime. Und diese trifft auch nicht selten zu. Wir tasten uns unsicher mit Versuch und Irrtum, mit Vermutungen und ihren Korrekturen voran. Karl Popper hat diesem methodischen Gang der Wissenschaft vor jetzt bald 100 Jahren einen dramatischen Anstrich gegeben. Es ist der kühne Entwurf, dessen strenge Prüfung, dessen dramatisches Scheitern und schließlich ganz unverzagt der noch kühnere Entwurf, der uns am Ende das Naturgeschehen in den Griff bekommen lässt. Dieses Schema ist inzwischen zu einer Art von Standarderzählung des wissenschaftlichen Fortschritts geworden. Danach gehören Irrtum und Scheitern wesentlich zur wissenschaftlichen Methode. Der Irrtum sollte nicht durch Zurückhaltung bei der Hypothesenformulierung vermieden werden. Poppersche Kühnheit besagt gerade, dass die Vermutung weit über die verfügbaren Erfahrungen hinausgeht. Es handelt sich um ein ausgreifendes Vorwegnehmen von Erfahrungen, die voraussichtlich den kritischen Zugriff des Experiments nicht überstehen. Aber wenn dann einmal auch angestrengte Widerlegungsversuche dabei scheitern, den erwarteten Irrtum tatsächlich aufzuweisen, dann handelt es sich um eine Sternstunde des wissenschaftlichen Fortschritts.

Forschungsnarrativ Produktivität des Irrtums

Was hier zugrunde liegt, ist die Ansicht der Produktivität des Irrtums. Danach zeigen uns Fehlschläge die Grenzen unserer vorhergehenden Sichtweisen auf und spornen uns gerade dadurch an, nach besseren Lösungen zu suchen. Und da diese besseren Lösungen auf Fehlschlägen aufbauen, sind sie eben gleich deutlich anders und im günstigen Fall wesentlich besser als ihre Vorgänger. Wenn wir also Fortschritt wollen, dann dürfen wir uns nicht ängstlich an unsere Grundideen klammern und diese durch kleine Verbesserungen an neue Erfahrungen anpassen; vielmehr müssen wir die Niederlage anerkennen und neuartige, kreative Ideen entwerfen und verfolgen. Danach muss also dem Irrtum Raum gegeben werden, und es kommt auf den richtigen Umgang mit dem Irrtum an. Dieses Schema ist in den vergangenen Jahrzehnten zu dem vielleicht am weitesten verbreiteten Fortschrittsnarrativ der Wissenschaften geworden.

Tatsächlich gibt es viele produktive Irrtümer. James Clerk Maxwell benutzte Annahmen über die Struktur des elektromagnetischen Äthers und über Bewegungen von Ladungen im Äther, um die heute so genannten maxwellschen Gleichungen zu vervollständigen. Aber kurze Zeit später gab er diese Ideen als irrig wieder auf und stellte die Gleichungen selbst, die Resultate dieses irrtumsbehafteten Gedankengangs, als die wesentliche Errungenschaft heraus. In der Entwicklung von Hypothesen zum Aufbau von Atomen entwarf zunächst Ernest Rutherford ein Gebilde nach dem Vorbild des Planetensystems mit einem schweren positiv geladenen Kern in der Mitte und den leichten Elektronen, die diesen umkreisten. Allerdings war dieser Ansatz gleichsam von Anfang an gescheitert, weil die Elektronen nach den elektromagnetischen Gesetzen Strahlung abgeben sollten und das ganze Gebilde auf der Stelle kollabieren sollte. Dieses Stabilitätsproblem des Rutherford-Atoms löste Niels Bohr zwei Jahre später durch die Einführung von Quantisierungsbedingungen für die Elektronenbahnen zusammen mit dem Postulat, dass Strahlung nur beim Übergang zwischen den erlaubten Bahnen absorbiert oder emittiert wird. Allerdings standen diese Quantisierungsbedingungen in einem scharfen Widerspruch zur herrschenden Elektrodynamik. Die Befunde, die diese Theorie stützten, waren damit automatisch Widerlegungen des bohrschen Modells. Im dritten Schritt zeigte dann Erwin Schrödinger, wie Bohrs Bedingungen aus anderen begrifflichen Grundlagen folgten. Die Auffassung von Elektronenbahnen als stehenden Wellen im Rahmen der Quantenmechanik löste diese Widerlegungen auf.

Neben solche produktiven Widerlegungsketten treten produktive Irrtümer der Art, dass falsche Voraussetzungen zu richtigen Einsichten führen. Johann Wilhelm Ritter entdeckte 1802 die Ultraviolettstrahlung, weil er von der romantischen Naturphilosophie inspiriert war, welche die Welt von polaren Gegensatzpaaren durchzogen sah. Die kurz zuvor entdeckte Infrarotstrahlung sollte danach ein Gegenstück am anderen Ende des Farbenspektrums besitzen. In der Tat, so war es, obwohl die zugrunde liegende Naturphilosophie kaum etwas für sich hatte und hat. Hinweise auf diese Falschheit gab es allerdings schnell: Ritter hatte eine Kältestrahlung als Gegenstück zur Wärmestrahlung postuliert, und an dieser Eigenschaft mangelt es dem Ultraviolett.

Furcht vor Missgriffen

Es gibt also Beispiele für das genannte Fortschrittsnarrativ. Allerdings sollten wir den Blick weiten und auch andere Entwicklungsmuster in Betracht ziehen. In diesem Zusammenhang verdient Beachtung, dass die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts mit einer ganz anderen methodischen Maxime antrat, nämlich der Vermeidung des Irrtums durch Anwendung von Sorgfaltsregeln. Fehlschläge galten als Versagen. Hintergrund dieser Einschätzung ist die Aufdeckung einer Vielzahl von Fehldeutungen, wie sie im Zuge des vorangehenden 16. Jahrhunderts zu Tage getreten waren. Die Entdeckung neuer Länder und Kontinente, neue Erfindungen, das Wanken der hergebrachten geozentrischen Astronomie, alles dies verdeutlichte das dramatische Ausmaß der Wissenslücken und der Fehlurteile in Antike und Mittelalter. Eine neue Zeit des Erkenntnisfortschritts war heraufgezogen, die der Menschheit epistemische Missgriffe dieser Art ersparen sollte.

Entsprechend ging es den Wissenschaftsphilosophen des 17. Jahrhunderts darum, eine sichere Wissensgrundlage zu identifizieren und von dieser ausgehend durch verlässliche Verfahren zu Erkenntnissen zu gelangen, die nicht mehr zurückgenommen werden müssen. So zielte die Methodenlehre Francis Bacons darauf, Quellen von Irrtümern trockenzulegen. Hier sieht das Fortschrittsnarrativ zunächst die Sicherung der Datenlage und dann die schrittweise und sorgfältige Verallgemeinerung vor. Die Vorstellungskraft muss gezügelt werden, weil diese dazu neigt, der Natur die eigenen Begriffe überzustülpen. Stattdessen muss die Maxime sein, die Natur selbst zum Sprechen zu bringen und die Naturerkenntnis gleichsam authentisch zu gestalten.

Lorraine Daston hat hervorgehoben, dass alle Erkenntnistheorie aus der Furcht vor dem Irrtum geboren ist. Das gilt zumindest für das skizzierte methodische Programm der wissenschaftlichen Revolution, zu dem Poppers dialektische Dramatik den ausdrücklichen Gegenentwurf darstellt. Für dieses Programm kommt es in der Forschung darauf an, Irrtümern nach Kräften vorzubeugen und ihren Einfluss zu neutralisieren.

Natürlich wissen wir heute, dass Begriffe der Natur nicht einfach abgelauscht werden können und dass die Formulierung von Hypothesen und die Durchführung von Experimenten wesentlich kreative Beiträge der Forschenden verlangen. Gleichwohl, es gibt Beispiele für Annäherungen an dieses herkömmliche Fortschrittsnarrativ. Damit sind theoretische Entwicklungen gemeint, die die allmähliche und schrittweise Artikulation eines auch heute noch für richtig gehaltenen Denkansatzes beinhalten. Die Formulierung von Albert Einsteins spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie war keine Geschichte von Versuch und Irrtum, sondern der konsequenten Ausarbeitung grundlegender Ideen. Zwar gab es im Detail Sackgassen und Neuanfänge, etwa bei der Formulierung der Feldgleichungen, aber im Kern handelte es sich um eine sorgfältige und weitgehend irrtumsfreie Realisierung eines fundamentalen Programms. Die allgemeine Relativitätstheorie quoll von kreativen Neuerungen und neuartigen Vorhersagen nur so über, aber sie ist nicht aus einer Geschichte der Irrungen und Wirrungen entstanden, sondern aus der sorgfältigen Vermeidung des Irrtums.

Unproduktiver Irrtum

Eine weitere Möglichkeit verdient Beachtung: der unproduktive Irrtum. Viele Misserfolge bergen gar nichts Zukunftsweisendes in sich. Man muss vielmehr ganz von vorn anfangen. Ein schlagendes Beispiel dafür ist die vermeintliche Entdeckung sog. primordialer Gravitationswellen in der kosmischen Hintergrundstrahlung im Jahr 2014 (nicht zu verwechseln mit den Gravitationswellen, wie sie 2015 am LIGO gefunden wurden). Dieses Resultat der BICEP-2-For­scher­gruppe wäre von großer Bedeutung gewesen, sicher nobelpreisträchtig, wenn es denn gestimmt hätte. Sehr schnell wurde aber klar, dass sich die BICEP-2-Gruppe von kosmischem Staub hatte in die Irre führen lassen. Die Ergebnisse hatten also mit Gravitationswellen im frühen Universum nichts zu tun. Dieser Irrtum wurde deshalb breit wahrgenommen, weil die Forschenden mit ihren sensationellen Funden gleich durch eine Pressekonferenz an die Öffentlichkeit getreten waren. Auch Grundlagenforscher suchen den Hype.
In der Wissenschaft haben wir gelernt, mit dem Irrtum zu leben; Irrtumsmanagement ist eine methodologische Tugend. Aber daneben tritt eine andere Botschaft aus der Geschichte der Methodenlehre, die ebenfalls beherzigenswert ist. Es ist auch eine Tugend, Irrtümer durch Sorgfalt und durch Betrachtung aus mehrerlei Perspektiven zu vermeiden. Es sind nämlich nicht alle Irrtümer produktiv; einige stammen aus Voreiligkeit und führen nirgendwo hin.