Person entscheidet sich zwischen verschiedenen Wegen
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Psychologie
Der Mensch als Regisseur seines Lebens

Wie prägen uns die Erfahrungen auf unserem Lebensweg? Professorin Dr. Jule Specht gibt Einblicke in Erkenntnisse der Persönlichkeitsentwicklung.

Von Friederike Invernizzi 01.07.2018

Forschung & Lehre: Welche Chancen und Möglichkeiten hat der Mensch, auf seinem Lebensweg "Regie" zu führen und zu der ihm eigenen Identität zu finden?

Jule Specht: Wenn wir in der Persönlichkeitspsychologie von Identität sprechen, dann meinen wir, dass Personen ein kohärentes Gefühl dem gegenüber haben, wer sie sind, wie sie wurden wer sie sind und welche Zukunft sie für sich erwarten. Dieses Gefühl ist also direkt mit der Persönlichkeit verknüpft. Studien zeigen, dass etwa 30 bis 50 Prozent der Unterschiede in der Persönlichkeit durch genetische Unterschiede bedingt sind. Der andere Teil ist stark davon abhängig, was Personen für Erfahrungen sammeln. Das sind Fügungen wie das Elternhaus, glückliche und unglückliche Zufälle, aber auch selbstgewählte Lebenswege. Der Mensch ist also insofern in der Lage, in seinem Leben selbst Regie zu führen, als er mitentscheiden kann, welche Wege er einschlägt und welche nicht.

F&L: ... und dies ist selbst im höheren Alter noch möglich?

Jule Specht: Wir wissen über die Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung im höheren Alter noch vergleichsweise wenig. Was wir aber in Studien festgestellt haben, ist, dass Menschen in dieser Lebensphase noch Neues angehen und so auch noch ihre Persönlichkeit verändern. Es gibt also auch im hohen Alter noch viele Möglichkeiten, in seinem Leben Regie zu führen. In jüngerem Alter sind Menschen häufiger mit bestimmten Erwartungen der Gesellschaft konfrontiert, aber im hohen Alter gibt es oftmals die Freiheit zu sagen: was will ich denn in dieser Lebensphase noch tun?

F&L: Ein bekanntes Zitat von Nietzsche lautet: "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker". In welcher Weise beeinflussen Unglück und tragische Ereignisse die Fähigkeit, danach weiter das eigene Leben zu gestalten?

Jule Specht: Studien zeigen, dass entgegen der Annahme, dass man viele unterschiedliche Erfahrungen braucht, um zu einer reifen Persönlichkeit heranzuwachsen, die Menschen nach sehr negativen Erlebnissen eher trauriger, geschwächter und verletzlicher werden. Es sind vor allem die Menschen, die zufrieden sind und nicht mit Rückschlägen zu kämpfen haben, denen es besonders leicht fällt in ihrer Persönlichkeit zu reifen.

F&L: Die Individualpsychologie Alfred Adlers beschäftigt sich unter anderem mit dem Bedürfnis des Menschen nach Kontrolle, Macht und Geltung. Wie beurteilen Sie diese Aspekte im Hinblick auf die Entwicklung der Persönlichkeit des Menschen?

Jule Specht: Das Bedürfnis nach Kontrolle ist ein ureigenes Bedürfnis, das bei jedem Menschen vorhanden ist. Das kann man schon bei kleinen Kindern beobachten, die lernen, sich immer zielgerichteter zu bewegen, zu handeln und sich damit zu emanzipieren. Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen, die das Gefühl haben, eine hohe Kontrolle über ihr Leben zu haben, eine höhere Zufriedenheit im Leben aufweisen, gesünder sind und beruflich erfolgreicher. Dieses Gefühl steigt im Durchschnitt bis ins junge Erwachsenenalter an und bleibt selbst im hohen Alter auf einem hohen Niveau. Letzteres ist überraschend, da man aufgrund der Begrenzungen des Älterwerdens auch anderes vermuten könnte. Allerdings haben wir auch festgestellt, dass diese Personen, wenn sie in sehr schwierige Situationen geraten, die nicht mehr kontrollierbar sind, mehr leiden als Menschen, die eher das Gefühl haben, das andere über ihr Leben bestimmen. Sie konfrontieren sich dann vermutlich mit der Frage, ob sie nicht noch mehr hätten tun können, um die schlimme Situation abzuwehren oder fangen an, ihr eigenes Wert- und Weltsystem grundsätzlich zu hinterfragen. Deshalb kann man also sagen, dass Menschen, die weniger das Gefühl haben, Regie in ihrem Leben zu führen, es zu kontrollieren, mit Schicksalsschlägen in gewisser Weise besser umgehen können.

F&L: Könnte denn das Üben und Erlernen innerer Ruhe und Gelassenheit, die in vielen Seminarenund Coachings (z. B. Meditation, Yoga etc.) helfen, wenn man das Gefühl hat, nicht mehr Herr seines Lebens zu sein?  

Jule Specht: Nach meiner Auffassung ist es gut und wünschenswert, wenn Menschen einen Weg finden, zu innerer Ruhe finden. Dies kann auch den Umgang mit einem "gehetzten" Alltag vereinfachen. Das Problem besteht allerdings meines Erachtens darin, dass der Trend zur Zeit dahin geht, sich zu "optimieren" und auch seine Persönlichkeit verändern zu wollen. In dieser Richtung gibt es Seminare und Coachings, die Dinge versprechen, die oftmals nicht empirisch belegt sind.

F&L: ...wie stark wollen denn Menschen Ihre Persönlichkeit verändern?

Jule Specht: Erschreckenderweise haben Studien ergeben, dass über 90 Prozent der Menschen ihre Persönlichkeit verändern wollen. Hier ist entscheidend, wie sehr Personen unter bestimmten Aspekten ihrer Persönlichkeit leiden. Zum Beispiel wollen viele Menschen emotional stabiler werden. Selbst wenn Menschen das gelingen könnte, muss man sehen, dass jede Persönlichkeitseigenschaft auch ihre Vor- und Nachteile hat und dass es nicht Sinn der Sache sein kann, dass alle Menschen nun zu emotional stabilen Menschen werden,  sondern dass stattdessen unsere Unterschiedlichkeit wertvoll ist. Statt sich verändern zu wollen, können Menschen auch ihr Umfeld und ihre sozialen Kontakte umstrukturieren, die mit ihren Wünschen und Bedürfnissen besser harmonieren und die der eigenen Persönlickeit besser Rechnung tragen.

F&L: Menschliches Handeln und Sein wird in der Psychologie immer stärker in Hinblick auf hirnphysiologische und biochemische Prozesse erklärt. Was halten Sie davon?

Jule Specht: Vor einigen Jahren drohte die Neurowissenschaft die Psychologie abzulösen. Da stand vor allem das Bedürfnis dahinter, die eher subjektiv orientierte Forschung in der Psychologie zu objektivieren. Dieser Hype ist meines Erachtens jetzt vorbei. Die Neurowissenschaften haben für die Persönlichkeitspsychologie noch erstaunlich wenig Befunde gebracht. Da gibt es noch viel zu entdecken. Der Trend geht nun dahin, Menschen durch Apps und Tracker im Alltag besser beobachten zu können und damit auch verstehen zu können. Diese lebensnahe Untersuchung birgt ein riesiges Potenzial für die Psychologie.