Ein "Sitzplatzabstandshalter" in einer Sitzecke in einem Einkaufszentrum in Potsdam, das den nötigen Sicherheitsabstand gewähren soll.
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Corona-Pandemie
Die haltlose Gesellschaft

Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf unser gesellschaftliches Zusammenleben? Wie steht es um die vielbeschworene Solidarität?

Von Stephan Lessenich 11.12.2021

Erinnern Sie sich noch? Damals, im März 2020, als sich die halbe Welt im "Krieg" mit einem Virus wähnte, Angela Merkel per Fernsehansprache den Bürgersinn der Krisengeschädigten beschwor und nicht wenige Beobachterinnen und Beobachter ein neues Zeitalter des sozialen Mit- statt Gegeneinanders heraufziehen sahen? Ja, irgendwie haben wir den damaligen Kraft-durch-Einschränkung-Diskurs noch im Ohr, doch zugleich trauen wir unserem kollektiven Gedächtnis nicht mehr. Gemeinsam gegen Corona – war da wirklich was?

Nicht viel, wird man aus heutiger Sicht wohl sagen müssen, aus mehrfachem Grund. Denn weder hat das verbindende Gefühl der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicksalsgemeinschaft lange getragen, noch reichte dessen integrative Kraft jemals so weit, wie dies die pandemische Gefährdungslage erfordert hätte. Auch hat sich im Zeichen von COVID-19 wieder einmal – wer zählt die Wiederholungen? – die Rede von dem einen Boot, in dem nun alle säßen, als falsch beziehungsweise ideologisch herausgestellt. Und das jüngste politische Geschehen rund um die (im strengen Sinne ausgebliebene) Impfkampagne lässt fundierte Zweifel aufkommen, ob es in diesem Lande nicht nur das politische Personal, sondern überhaupt auch die Bürgerschaft gibt, mit denen sich eine zukunftsfähige gesellschaftliche Gemeinschaft organisieren ließe.

Zusammenhalten und Grenzen bestimmen

Wie gesagt: Die frühe Teileuphorie, dass "Corona" die Gesellschaft zusammenrücken lasse, hat sich so schnell verflüchtigt, wie sie entstanden war. Ohnehin blendete diese Vision die dunkle Seite dessen aus, was in alter soziologischer Tradition als "sozialer Zusammenhalt" bezeichnet wird. Denn wo zusammengehalten wird, da fallen Späne: Zusammenhalt richtet sich immer auch gegen etwas, sei es nun eine abstrakte Gefahr oder ein personifizierter Gefährder. Im Falle des Coronavirus war es beides: Zusammenzuhalten war gefragt, um einen unsichtbaren Feind abzuwehren. Es meinte aber ebenso, die Grenzen des Gemeinwesens zu bestimmen und diese – nicht bloß symbolisch, sondern ganz physisch – zu schließen, gegen potenziell virentragende Eindringlinge von außen (es sei denn, diese konnten sich als Mitstaatsbürgerinnen und -bürger ausweisen).

Die durch COVID-19 ins Werk gesetzte gesellschaftliche Krisenbewältigungsgemeinschaft war von Anfang an und letztlich fraglos eine nationale, deren vielbeschworene Solidarität einen knallhart exkludierenden Charakter hatte. Impfstoff? Für uns! (Immerhin hatten ihn ja auch zwei von uns – was für ein Zeichen gelungener Integration! – entwickelt.) Was, die Briten sind früher dran? Partikularismus zahlt sich also doch aus! Patentschutz aussetzen? Jetzt mal bitte die Kirche im Dorf lassen, nur wegen ein paar Millionen Toter anderswo wird man nicht gleich am pharmaindustriellen Ast sägen, auf dem man sitzt. Und so weiter, und so bis heute fort: Noch die Frage der global-sozialen Implikationen des "Boosterns", für die weltgesellschaftlich privilegierten Stände selbstredend Menschenrecht, wurde im selben Atemzug gestellt wie dethematisiert. Und weil es halt kein richtiges Leben im falschen gibt, lässt man sich selbst auch drittimpfen, wohl wissend, dass viele hundert Millionen Menschen auf ihren Erstkontakt mit einem Impfstoff noch lange, vermutlich ewig, werden warten müssen. Aber was soll’s, so ist das halt – wir sind das kollektiv-individuelle Achselzucken ob der Widersprüche unserer Lebensführung ja gewohnt, von den Toten im Mittelmeer bis zur Mango im Dezember.

Soweit, so bekannt. Ebenso wie die kleinformatigeren Ungleichheiten vor dem Virus, die durchweg die bestehende Struktur sozialer Lebenslagen und -chancen spiegelten und weiter zementierten. Sie seien hier so kurz und folgenlos genannt, wie dies auch Signum des öffentlichen Diskurses in der Pandemie war: Die Risiken einer Ansteckung, eines schweren Krankheitsverlaufs, einer unzulänglichen Bewältigung gesundheitlicher Langzeitfolgen sind ebenso klar sozial strukturiert wie die Möglichkeiten des Umgangs mit der Pandemiepolitik selbst. Um welche dieser Dimensionen es auch geht: Stets sind ungünstige Arbeitsbedingungen, schlechte Wohnverhältnisse, chronische Vorerkrankungen, geringe Bildungsressourcen und was alles sonst noch zum multifaktoriellen Benachteiligungssyndrom in der "sozialen Marktwirtschaft" gehört, sichere Prädiktoren für die soziale Schlechterstellung auch in der "Corona-Krise". Die eben, wie jede andere gesellschaftliche Krise, keineswegs alle am eigenen Leib zu spüren kriegen. Die entsprechenden Zusammenhänge sind so bekannt und so gut belegt, dass sie schon zur mentalen Innenausstattung der Gegenwartsgesellschaft gehören: Irgendwie schon schlimm, aber andererseits auch eh klar. Und damit weiter im Programm.

Zweidrittelgesellschaft neuer Art

Was die pandemische Konstellation nun aber doch politisch-soziologisch interessant werden lässt, ist die Tatsache, dass die üblich-verdächtigen sozialen Ungleichheitsstrukturen mittlerweile überlagert und überformt werden durch die, nach bisherigem Stand der Erkenntnis, keineswegs so eindeutig bestimmbare Sozialstruktur der Impfgegnerinnen und -verweigerer. Wenn nun in der vierten Welle die Intensivstationen wieder "volllaufen" (ein seltsam hydraulisches Bild), dann nicht mit den Mühseligen und Beladenen der spät­industriellen Hochleistungsgesellschaft, sondern mit den Irren und Wirren einer wie entfesselt auftretenden, medial verstärkten Erregungsgemeinschaft. Die COVID-19-Pandemie mag ein (Wort des Jahres!) "Brennglas" sozialer Ungleichheiten sein – vor allem aber ist sie, zumal im Verein mit dem ähnlich affekttreibenden Klimawandel, ein Phänomen, das die psychisch-soziale Haltlosigkeit einer Gesellschaft offenlegt, der die bisherigen Koordinaten ihrer kollektiven Lebensführung Schritt für Schritt abhandenkommen.

Denn das ist ja vielleicht das eigentlich Bemerkenswerte an der Pandemie: Als das gesellschaftlich Rettende nahte, wuchs die Gefahr gesellschaftlicher Spaltung auch. Wir leben, so scheint es, in einer Zweidrittelgesellschaft neuer Art: Zwei Drittel geimpft, ein Drittel immun gegen Argumente. Und wir erleben ein von den ansonsten, bei der sozialpolitischen Domestizierung des "unteren" Drittels, üblichen Praktiken auf ebenso erstaunliche Weise abweichendes Prioritätenschema staatlicher Intervention: Plötzlich ist es die Semantik der persönlichen Freiheit und körperlichen Unversehrtheit, die gegen die ideellen und materiellen Interessen gesellschaftlicher Mehrheiten geltend gemacht wird.

Ein politisches System aber, das auf die Erfüllung seines vermeintlich einzigen Zwecks, die Produktion kollektiv bindender Entscheidungen, verzichtet, begibt sich in die reale Gefahr einer doppelten Legitimationskrise: Bei den einen sind "der Staat" und "die Politik" ohnehin schon unrettbar unten durch; zugleich aber sind sie auf dem besten Wege, es sich auch noch mit ihren bislang standhaften Verteidigerinnen und Verteidigern zu verscherzen. In der Tat, die Assoziation drängt sich auf: das Modell "Deutsche Bahn".