Ein Blick vom Vorlager auf die Lager I und II in Sobibór, Frühjahr 1943.
United States Holocaust Memorial Museum

Holocaust-Gedenktag
Die schrecklichsten Monate

Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar erinnert an die Befreiung des KZ Auschwitz. Der Völkermord an Juden geht tragischerweise weit darüber hinaus.

Von Alex Kay 26.01.2021

Im Jahr 2005 wurde der 27. Januar von den Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt. Er ist außerdem in Deutschland seit 1996 als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ein bundesweiter Gedenktag. Dieser Jahrestag bezieht sich auf den 27. Januar 1945, den Tag der Befreiung des Lagerkomplexes Auschwitz – bestehend aus dem Stammlager (Auschwitz I), dem Vernichtungslager Birkenau (Auschwitz II) sowie dem Arbeitslager Monowitz (Auschwitz III) – im vom Deutschen Reich annektierten Teil Polens durch die Rote Armee.

Auschwitz war nicht nur das größte, sondern auch das tödlichste Lager im gesamten KZ-System. Zwischen Mai 1940 und Januar 1945 wurden mindestens 1,3 Millionen Menschen nach Auschwitz deportiert, von denen 1,1 Millionen ums Leben kamen. Etwa 900.000 der Ermordeten – über 80 Prozent – waren Juden. Dies bedeutet, dass dort etwa jeder sechste im Holocaust getötete jüdische Mensch starb. Der Lagerkomplex wurde jedoch nicht für die Vernichtung von Juden geschaffen. In den ersten Monaten seiner Existenz wurden vorwiegend polnische politische Gefangene im Konzentrationslager Auschwitz interniert. Polnische, nichtjüdische Gefangene bildeten sogar bis zum Herbst 1941 das Hauptkontingent der Häftlingsbevölkerung.

Im Oktober 1941 wurde ein neues Lager im vom Stammlager etwa drei Kilometer entfernt liegenden Dorf Birkenau gebaut. Es gab noch keine Anzeichen dafür, dass Birkenau eines Tages eine zentrale Rolle im Holocaust spielen würde. Auschwitz wurde nämlich nicht bereits 1941 zu einem Vernichtungslager für die europäischen Juden; diese Funktion trat 1942 allmählich auf. Ab Mitte 1942 bildeten die Juden zum ersten Mal die größte Gruppe unter den Insassen des Konzentrationslagers. So wie die Versuche mit Blausäure im Stammlager Auschwitz im September 1941 – hauptsächlich an (nichtjüdischen) sowjetischen Kriegsgefangenen – keinen direkten Zusammenhang mit dem Beginn der Vernichtung der Juden hatten, wurde das neue Lager in Birkenau nicht deswegen gebaut, um die Juden Europas zu ermorden, sondern um die Arbeitskraft einer großen Anzahl sowjetischer Kriegsgefangener auszubeuten.

Tragische Wahrheit: Mehr als drei Millionen Tode in nur einem Jahr

Die systematischen Massendeportationen von Juden nach Auschwitz-Birkenau begann erst Ende März 1942, waren aber zunächst nur sporadisch. Der erste Transport von Juden, die bei ihrer Ankunft in Auschwitz einer "Selektion" unterzogen wurden, traf am 4. Juli ein. Ab Mitte Juli 1942 wurden die Ankunft der Züge und die Selektion der Deportierten zur Routine. Von nun an erwartete die überwiegende Mehrheit der ankommenden Juden den sofortigen Tod. Von insgesamt rund 1,1 Millionen nach Birkenau transportierten Juden wurden zirka 200.000 vorübergehend geschont, als sie für den Arbeitseinsatz ausgewählt wurden.

1942 war der Höhepunkt des Mordes an den europäischen Juden. Unter deutschem Kommando wurden allein in diesem Jahr mehr als drei Millionen Juden getötet – mehr als die Hälfte aller Opfer des Holocaust. 1942 starben in Auschwitz insgesamt rund 190.000 Juden, die meisten davon in den Gaskammern von Birkenau. Auschwitz, das oft als Sinnbild für den Holocaust als Ganzes verwendet wird und immer noch als der wichtigste Ort des Völkermords gilt, wurde erst 1943, dem Jahr nach der größten Zerstörung, von zentraler Bedeutung für die Ermordung der europäischen Juden. Stattdessen standen 1942 die zentral- und ostpolnischen Gebiete des Generalgouvernements im Mittelpunkt der Tötungen. Hier wurden 1942 in den drei Lagern der "Aktion Reinhardt", Bełżec, Sobibór und Treblinka, mindestens 1,37 Millionen Juden ermordet – mehr als die Gesamtzahl der Menschen, die in den Jahren 1940 bis 1945 in Auschwitz ums Leben kamen. Allein in Treblinka wurden 1942 weit über 700.000 Menschen ermordet. Die Aktion Reinhardt war tatsächlich die größte einzelne Mordkampagne des Holocaust. Zwischen März 1942 und November 1943 kostete es insgesamt mindestens 1,8 Millionen Juden das Leben. Die Aktion wurde zu Ehren von Reinhard Heydrich benannt, der am 4. Juni 1942 an seinen bei einem Attentat in Prag erlittenen Verletzungen erlegen war und dessen Vorname sogar Heinrich Himmler mit "dt" schrieb.

Von den drei Millionen Juden, die im Laufe des Jahres 1942 ermordet wurden, kamen mehr als zwei Millionen in der kurzen Zeitspanne von 18 Wochen zwischen Ende Juli und Mitte November ums Leben, fast ausschließlich auf dem Vorkriegsterritorium Polens. Neben den Morden in den Gaskammern der Vernichtungslager wurden viele zehntausend Juden bei großen Massenerschießungen in den besetzten sowjetischen Gebieten ermordet. Diese dreieinhalb Monate waren die intensivsten und tödlichsten des gesamten Holocaust. Weder die Massenerschießungen der Einsatzgruppen, der Polizeibataillone, der SS-Brigaden und der Wehrmacht in den besetzten sowjetischen Gebieten in der zweiten Hälfte des Jahres 1941 noch die Ausrottung der zwischen Mai und Juli 1944 nach Auschwitz deportierten ungarischen Juden führten zum Tod von so vielen Menschen in so kurzer Zeit. Zwischen Juli und November 1942 wurde fast täglich ein Massaker in der Größe von Babij Jar begangen. Nie zuvor in der Geschichte waren Menschen in der Fließbandarbeit getötet worden.

Treblinka: die wohl effizienteste Tötungsanlage der Menschheits-Geschichte

Warum ist denn Auschwitz das zentrale Symbol des Holocaust geworden, ja sogar ein Synonym für den Völkermord? Die Tatsache, dass hier mehr Juden ums Leben kamen als an jedem anderen Ort, trägt zweifellos wesentlich zum heutigen Status von Auschwitz bei. Es sind jedoch wohl zwei weitere Gründe vor allem, die die entscheidende Rolle bei der Etablierung von Auschwitz als zentrales Symbol des Holocaust gespielt haben. Erstens war der Lagerkomplex viel länger in Betrieb als andere Tötungsstätten (und teilweise aus diesem Grund so tödlich) und er befand sich auf seinem mörderischen Höhepunkt, als die anderen Vernichtungslager schon geschlossen waren. Daher wurde Auschwitz auch im Gegensatz zu Bełżec, Sobibór oder Treblinka von den Alliierten befreit, anstatt von den deutschen Tätern selbst abgebaut, zerstört und verborgen zu werden. Infolgedessen blieben wesentliche Teile der Lagerinfrastruktur intakt, die heute Bestandteil der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau sind.

Zweitens führte seine dreifache Funktion als Konzentrationslager (Auschwitz I), Vernichtungslager (Auschwitz II – Birkenau) und Arbeitslager (Auschwitz III – Monowitz) dazu, dass – wiederum im Gegensatz zu den Einzweck-Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt – weit über 200.000 Gefangene, sowohl Juden als auch Nichtjuden, das Lager zwischen 1940 und 1945 lebend verließen. Die meisten dieser Gefangenen wurden zwar in andere Lager verlegt und viele von ihnen erlebten das Kriegsende nicht mehr. Dennoch überlebten mehrere zehntausend Menschen Auschwitz, und viele gaben Zeugnis über ihre Erfahrungen dort nach dem Krieg. Ihre Erinnerungen stellen heute eine wichtige Komponente der Holocaust-Überlebenden-Literatur dar.

Anders als in Auschwitz, wo neben dem Vernichtungslager ein Konzentrationslager existierte, gab es in Bełżec, Sobibór und Treblinka praktisch keine Selektion von Neuankömmlingen. Die Auswahl hatte bereits vor der Abfahrt der Züge an den Ursprungsorten der Transporte stattgefunden. Die drei Lager der Aktion Reinhardt waren reine Tötungszentren. Im Laufe von nur neun Monaten zwischen März und Dezember 1942 wurden in Bełżec 470.000 Juden ermordet. In Treblinka wurden innerhalb von etwas mehr als einem Jahr zwischen Juli 1942 und dem Häftlingsaufstand im August 1943 870.000 ganz überwiegend jüdische Menschen getötet. Treblinka war die wohl effizienteste Tötungsanlage in der Geschichte der Menschheit. Die Zahl der Todesopfer in Auschwitz würde die von Treblinka erst 1944 überschreiten. In Sobibór wurden von Mai 1942 bis zum Häftlingsaufstand im Oktober 1943 insgesamt 180.000 Juden ermordet. Zu den Opfern der Aktion Reinhardt gehören auch diejenigen Juden, die bei den Ghettoauflösungen und Deportationen schon vor dem Eintreffen der Züge in den Vernichtungslagern ums Leben kamen. Insgesamt wurden bis zu 350.000 Opfer der Aktion Reinhardt außerhalb der drei Lager selbst ermordet.

Die Zahl der Überlebenden der reinen Vernichtungslager der Aktion Reinhardt war entsprechend gering. Von den Häftlingen, die beim Aufstand in Treblinka entkommen konnten, waren beim Kriegsende 1945 nur noch rund siebzig am Leben, während nur vierundfünfzig männliche und acht weibliche Aufständische aus Sobibór den Krieg überlebt haben. Lediglich drei Überlebende des Vernichtungslagers Bełżec sind bekannt. Die drei Vernichtungslager der Aktion Reinhardt und deren Opfer sind nach wie vor kaum präsent im öffentlichen Bewusstsein, und das gilt nicht nur für Deutschland.