Bild von verschiedenen Schachfiguren
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Internationaler Schach-Tag
Die weite Welt des Schachs

64 Quadrate, 32 Spielfiguren, dahinter die ganze Welt: Schach bietet Spielern ein tiefgründiges geistiges Duell mit überraschendem Nervenkitzelfaktor.

Von Christian Hesse 20.07.2023

Am 20. Juli des Jahres 1924 wurde in Paris der Weltschachbund (FIDE) gegründet. 2019 proklamierte die UN-Vollversammlung den 20. Juli zum Internationalen Schach-Tag, um die Gründung der FIDE zu würdigen.

Zwar gibt es geschichtliche Ereignisse, die viele Menschen unter dem Datum des 20. Juli schneller aus dem Gedächtnis abrufen können – etwa die Operation Walküre mit dem Attentat von Graf Stauffenberg auf Hitler im Jahr 1944 oder die Mondlandung 1969 durch Apollo 11. Doch an diese mutigen Taten und großen Leistungen wird berechtigterweise so häufig erinnert, dass wir an dieser Stelle davon absehen und uns dem Schach widmen.

Schach ist eine kleine Welt in der großen. Doch für sich allein genommen ist das Spiel und sein Drumherum selbst auch schon eine große Welt. Schach gehört zum intellektuellen Weltkulturerbe. Nach Schätzungen auf der Basis von Umfragen haben 70 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung in ihrem Leben schon einmal Schach gespielt und 600 Millionen Menschen spielen es mehr oder weniger regelmäßig. Das ist eine beachtliche Anhängerschaft für eine rein zerebrale Aktivität.

Schach ist ein Spiel des Lebens

Nach einer möglichen Definition ist Schach ein Zwei-Personen-Strategie-Spiel, dessen Ziel es ist, verschiedene Typen von Spielfiguren, die vorgegebene Zugweisen haben, durch koordinierte Bewegungen auf einem quadratischen Brett so einzusetzen, dass die gegnerische Königsfigur geschlagen wird.

Soweit die Grundstruktur des Spiels. Es überrascht, dass es aufgrund dieser kargen Beschränkung auf nur 64 Spielfelder und 32 Spielfiguren so tiefschichtig und vielfältig ist, dass es in vielerlei Hinsicht in symbolischer Form als Sinnbild der menschlichen Existenz gedeutet werden kann und Grundaspekte des Lebens durchzuspielen vermag.

Zum einen ist Schach eine geistige Kampfsportart, zum anderen auch ein Resonanzboden für Schönheit, Genialität und Heldentum, aber in einem spielerischen und somit gewaltfreien Sinn. Seine Entwicklungsgeschichte seit dem Auftreten der Frühform Tschaturanga in Nordwest-Indien um das Jahr 200 vor Christus umfasst einen ganzen Kosmos voller Ideen, Fantasien und Emotionen. Schach erlaubt ungezügelte Kreativität und gelungene Partien zeigen eine wunderbare Harmonie zwischen logischen, unlogischen und sogar paradoxen Aspekten. Wie kein anderes Spiel hat Schach mathematische, philosophische und psychologische Tiefe.

Schach birgt eine unsichtbare Schönheit

Manche dieser Aussagen mögen Menschen ohne bisherige Berührung mit dem Schachspiel überraschend erscheinen. Was etwa die Schönheit betrifft, so ist diese im Schach geknüpft an die koordinierte Wirkungsentfaltung der Figurenensembles auf dem Brett: Wie positionieren sich angreifende und verteidigende Figuren zueinander? Welchen Zielen und Plänen folgen ihre Bewegungen? In welche Räume dringen sie ein, aus welchen ziehen sie sich zurück, welche Linien werden überschritten oder auch nicht, welche Felder werden besetzt, geräumt, blockiert, verstellt oder vermieden? Über welche Brettareale werden die Kraftwirkungen von Figurenverbänden verteilt, auf welche Felder werden sie fokussiert, gegen welche gegnerischen Formationen werden sie gerichtet? In alledem stecken Ideen, die teils erst ersichtlich werden, wenn man die sichtbare Position auf dem Brett viele Züge jeweils Zug um Zug weiterdenkt und in der Tiefe auf Subtilitäten der Möglichkeit des Figurenzusammenspiels stößt, die zum Beispiel einen siegreichen Königsangriff zulassen oder dessen Abwehr haarscharf noch ermöglichen.

Allerdings: Um diese Ideen in ihrer Schönheit auszukosten, bedarf es einer Schulung des Geistes. Während die Schönheit eines Sonnenuntergangs voraussetzungslos spürbar ist, erfordert der Genuss einer Kombination im Schach ähnlich einer Beweisführung in der Mathematik ein Gespür für diese Art von Schönheit, das erst nach intensiver Beschäftigung mit Schach beziehungsweise Mathematik entsteht.

Insofern ist Schach weitgehend ein unsichtbares Spiel mit weitgehend verborgener Ästhetik. Sichtbar sind Brett und Figuren, aber die Ideen, die an eine Figurenaufstellung geknüpft sind, werden erst dann sichtbar, wenn man sich nach Art eines Archäologen Zug um Zug in die Tiefe einer Stellung hineinarbeitet, viel unbedeutendes gedankliches Geröll durchdringt und darunter schließlich auf die Ideenschätze stößt, die man anschließend richtig einschätzen muss, um daraus einen günstigen Zug abzuleiten.

Was verrät ein Schachzug über den Spieler?

Der gewählte Zug sagt dann auch viel über den Menschen aus, der ihn ausführt. Wie tief ist er in die Stellung eingedrungen? Schätzt er die eigene oder die gegnerische Position als vorteilhafter ein? Ist er eher angriffslustig gestimmt oder verteidigungsbemüht? Ist er risikoaffin oder risikoscheu? Ist er selbstbewusst oder leicht verunsichert, zuversichtlich oder besorgt? Ist er ungeduldig oder geduldbereit? Spielt er offensiv oder defensiv, kontrolliert, oder offen aggressiv? Spielt er auf Sieg oder Remis?

All das und mehr lässt sich manchmal schon aus einem einzigen Zug des Gegners ablesen. Ab 1984  spielten Garri Kasparow und Anatoli Karpow in fünf Weltmeisterschaftskämpfen insgesamt 144 Partien gegeneinander, saßen sich mehrere hundert Stunden am Brett gegenüber. Danach, sagte Kasparow, kannte er Anatoli Karpow in- und auswendig.

Schach ist auch noch auf andere Art ein unsichtbares Spiel. Selbst wenn in der entscheidenden Partie um die Weltmeisterschaft der eine Spieler gewinnt und der andere verliert, gibt es lediglich einen flüchtigen Handschlag. Und das war's. Keine emotionalen Eruptionen wie zum Beispiel bei einem WM-Finale im Fußball.

Schach liefert den ultimativen Thrill

Trotzdem hat auch Schach eine ausgeprägte emotionale Seite. Schon vor zwei Jahrzehnten hat ein Team von Psychologen eine aufsehenerregende Studie zu diesem Thema veröffentlicht. Ein Ergebnis war, das begeisterte Schachspieler in psychologischen Tests sehr hohe Punktwerte in der Kategorie "erlebnishungrig" (thrill-seeking) erzielten. Die Wissenschaftler definieren dies als einen "Wesenszug, der durch die Suche nach unterschiedlichen, neuen, komplexen und intensiven Empfindungen und Erfahrungen charakterisiert ist sowie durch die Bereitschaft, körperliche, soziale, rechtliche und finanzielle Risiken um solcher Erfahrungen willen auf sich zu nehmen".

Und zweitens kam bei den Untersuchungen heraus, dass während des zähen Ringens in einer wichtigen Partie, die auf des Messers Schneide steht, mit oft stundenlang hin und her wogenden Vorteilen, die beiden Schachspieler derart intensive Adrenalinschübe erleben wie Bungeejumper, Paraglider, Tiefseetaucher, Fallschirmspringer und Extrembergsteiger.

Welcher Nicht-Schachspieler hätte wohl vermutet, dass schachbegeisterte Menschen erlebnishungrig und auf der Suche nach dem ultimativen Thrill sind. Und dies beim Schach suchen und offenbar finden. Sogar ohne Hundertschaften von Fans, Groupies, Hooligans oder einer "row zero". Dafür aber mit einer intellektuellen Befriedigung, wie sie eine selbst erdachte filigrane Schachkombination bietet, bei der jedes Detail gerade richtig sitzt und zu den anderen passt wie bei einem gelösten Puzzle.

Beim Schachspielen entstehen überschäumende Gefühle ohne nach außen zu dringen, ohne, wenn Sie so wollen, eruptiv überzuschäumen. Aber sie sind nicht weniger intensiv. Die britische Autorin Sally Beauman veranlasste das einst zu der Formulierung: "Chess is a very sexy game."

Prominente Schachspieler und Schachspielerinnen

Wer Schach spielt, befindet sich in illustrer Gesellschaft. Viele Persönlichkeiten aus Geschichte und Moderne waren dem Schach zugetan: Rembrandt van Rijn, Christoph Kolumbus, William Shakespeare, Sigmund Freud, Albert Einstein spielten Schach sowie auch Marlene Dietrich, Katherine Hepburn, Ann Boleyn, Lise Meitner. Auch Äbtissin Teresa von Avila, Baron Rothschild, Kalif al-Rashid, Sultan Saladin, König Arthur, Topmodel Kate Moss, Kaiser Napoleon, Prinzessin Diana, Präsident Kennedy, Oscargewinnerin Julia Roberts widmeten immerhin einen Teil ihrer sparsam bemessenen Freizeit dem Schachspiel.

Schach tut gut und macht uns schlauer. Und das gilt für jede Altersstufe. Besonders ausgeprägt sind die positiven Auswirkungen aber im Kindesalter, wo die Persönlichkeit junger Menschen sich noch ausbildet und ihr Gehirn nach vielfältiger und variabler Stimulierung verlangt. Lernen Kinder Schach, so lernen sie etwas fürs Leben: Schach steigert die Konzentrationsfähigkeit, erweitert den Gedächtnisumfang, vergrößert das Selbstvertrauen, entwickelt das kreative Denken und bildet die vorausschauende Intelligenz und die Problemlösungskompetenz aus. Es steigert Geduld, Ausdauer und Zielstrebigkeit. Es trainiert, planvoll und überlegt vorzugehen. Angesichts einer Vielzahl von Optionen lehrt es, diese zu analysieren und gegeneinander abzuwägen. Ferner lehrt es, die Konsequenzen eigener Handlungen zu bedenken und dafür Verantwortung zu übernehmen. Denn weder eine Fehlentscheidung eines Schiedsrichters noch ein versprungener Ball können als Ausrede dienen, wenn ein Match verloren geht. Durch Studien ist erwiesen, dass Schachspielen Kinder schlauer macht und Kinder, die Schach spielen, im Schnitt bessere Noten erzielen.

Was ist meine Empfehlung für den 20. Juli? Ein schon allein angesichts der Operation Walküre und des Projekts Apollo legendärer Tag, auf den der Internationale Tag des Schachs fällt: Es ist schwer, einen Tyrannen zu beseitigen oder einen Himmelskörper zu betreten, aber vergleichsweise leicht eine Partie Schach zu spielen.

Wenn Sie nicht Schach spielen können, dann bringen Sie sich heute die Regeln bei. Wenn Sie bereits Schach spielen können, dann bringen Sie Ihren Kindern die Regeln bei. Und wenn Ihre Kinder bereits Schach spielen können, dann spielen Sie eine Partie mit ihnen.

Wenn dafür die Zeit fehlt, dann ist vielleicht das folgende Kurzproblem gerade passend für Ihren eiligen Geist: Sie müssen nur einen einzigen Zug finden. Weiß ist am Zug. Ihre Aufgabe besteht darin, den einzigen Zug zu finden, der Schwarz nicht (!) sofort matt setzt. Alles klar?

Bild eines Schachfeldes, das ein Schachproblem von Karl Fabel abbildet
Schachproblem von Karl Fabel: Weiß ist am Zug. Finden Sie den einzigen Zug, der nicht (!) matt setzt. Christian Hesse

Zum Weiterlesen

Der Autor, Professor Christian Hesse, hat mehr als 20 populärwissenschaftliche Bücher verfasst. Kürzlich erschien sein Buch "Schachgeschichten. Geniale Spieler – Clevere Probleme" mit dem Koautor Frederic Friedel und einem Vorwort von Garri Kasparow.