Foto des Dr. Otto Weihers, ein Baggersee in Herschbach im Westerwald
picture alliance / Andreas Gillner

Fischereimanagement
Es geht um etwas

Der Kern der Wissenschaft kann im hektischen Forschungsalltag schnell untergehen. Doch gibt es diese Momente, in denen er ganz deutlich wird.

Von Robert Arlinghaus 28.12.2023

2023 war in vielerlei Hinsicht sehr ereignisreich und prägend. Zunächst erwähnenswert ist Erleben von Normalität nach den Corona-Pandemiewirren. Diese Normalität in täglichen Abläufen und Routinen zeigte mit großer Eindrücklichkeit auf, wie belastend die "Corona-Jahre" für mich als Familienvater mit zwei kleinen schulpflichtigen Kindern und einer recht großen Arbeitsgruppe waren.

2023 war gleichzeitig auch ein Abschlussjahr von zwei vieljährigen, millionenschweren Drittmittelprojekten, die ich zeitgleich und parallel habe. Ich beschäftige mich mit den Grundlagen einer nachhaltigen Fischereiausübung und bevorzuge Forschung, die Experimente in der Praxis und in enger Zusammenarbeit mit der Fischereipraxis durchgeführt. Seit 2016 haben wir BMBF-finanziert intensiv an niedersächsischen Baggerseen zur Frage der Biodiversitätserhöhung durch Ökosystemmanagement und seit 2019 durch die EU und das Land Mecklenburg-Vorpommern finanziert zur Nachhaltigkeit und Resilienz der Hechtfischerei an den Bodden geforscht.

Beide Projekte waren besonders ressourcen-, zeit- und koordinierungsintensiv. Neben einem interdisziplinären Forschungszugang, der sowohl natur- als auch sozialwissenschaftliche Disziplinen beinhaltete, waren beiden Projekte auch durch intensive mehrjährige Stakeholder-Beteiligung mit hunderten Personen aus der Fischereipraxis, Naturschutz, Tourismus und Behörden charakterisiert, sogenannte Transdisziplinäre Forschung. Die engen, wiederkehrenden Interaktionen mit Praxisakteur:innen in Workshops  prägen und erden. Insbesondere an den Bodden geht es um Existenzen, wenn eine für viele Personen wichtige Fischereiressource so stark zurückgeht wie aktuell insbesondere bei Hechten, aber auch Dorschen oder Heringen.

Wenn dann bei gemeinsamen Feldbeprobungen der Angelführer heulend vor einem sitzt und die Zukunftssorgen artikuliert (...) wird Wissenschaft menschlich.

Wenn dann bei gemeinsamen Feldbeprobungen der Angelführer heulend vor einem sitzt und die Zukunftssorgen artikuliert, wie 2023 an den Bodden der Fall, wird Wissenschaft menschlich. Wissenschaft und das, was wir herausfinden und kommunizieren, bekommt so eine ganz andere Bedeutung – es geht um etwas, und nicht nur um das Ego im Elfenbeinturm. Leider liegt die Lösung des Problems häufig in weiter Ferne und kann nur durch regional oder sogar globale Aktivitäten gelöst werden, wie zum Beispiel beim Thema Klimawandel und Nährstoffmanagement in der Ostsee. Diese Dinge zu kommunizieren, ist nicht einfach.

Projektabschlussstress und Anschlussfinanzierung

Ich erinnere mich auch an teils absurden Projektabschlussstress bei der Abfassung von zwei umfangreichen Büchern (einmal 600 und einmal 800 Druckseiten), an das nächtelange Schreiben und Redigieren von Entwürfen, die Koordinierung von über 50 Autorinnen und Autoren, die Finalisierung und Publikation von wissensbasierten Bewirtschaftungsempfehlungen für das Fischereimanagement des Hechts an den Bodden in enger Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Interessensgruppen und die öffentliche Präsentation der über die Jahre gesammelten Erkenntnissen an die fischereiliche und naturschutzfachliche Öffentlichkeit.

An die sehr gut besuchte Abschlussveranstaltung des Boddenhechtprojekts am 03. Juni 2023 im Meeresmuseum Stralsund in würdigen Rahmen und die anschließende Feier werde ich ganz sicher auch in 2024 zurückschauen, da das positive Feedback unsere Forschungs- und Koordinierungsleistung in Wert gesetzt hat. Es hat sich also gelohnt.

"Nahezu zeitgleich bekam ich trotz sehr guter Gutachten Ablehnungen für größere Anschlussprojekte, was (...) daran (erinnert), dass mein Forschungsprogramm aufgrund fehlender personeller Grundausstattung hochvolatil ist."

Dieser Tag markierte nicht zuletzt eine Zäsur für meine Arbeitsgruppe und mich, die von 25 drittmittelfinanzierten Personen nach Projektabschluss auf fünf Personen einschmolz. Nahezu zeitgleich bekam ich trotz sehr guter Gutachten Ablehnungen für größere Anschlussprojekte, was an die in der Forschung typischen Höhen und Tiefen erinnert und daran, dass mein Forschungsprogramm aufgrund fehlender personeller Grundausstattung hochvolatil ist.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Ideenentwicklung

Positiv formuliert erlebte ich aber nach den Projektabschlüssen ein intensives Gefühl von Befreiung – von der abfallenden Last der Verantwortung gegenüber den Praxispartnern und auch gegenüber dem Personalstamm, der ganz überwiegend sehr gute Anschlussjobs in Forschung und Praxis gefunden hat. Die Freiheit, auch die zeitliche, habe ich dann genutzt, um im Oktober 2023 eine lange überfällige Teamklausur (IFishMan-Retreat in interdisziplinärer Fischereiforschung), finanziert durch die Alfred-Töpfer-Stiftung auf dem Gut Siggen in Ostholstein zu organisieren. Die Klausur wurde angesichts meiner überschaubaren aktuellen Gruppengröße international für externe Personen geöffnet. Es bedurfte nur sehr wenigen E-Mails, und eine hochkarätige Truppe aus Fischereiforschenden unterschiedlicher Disziplinen kam im Oktober zu einer dreitägigen Klausur zusammen.

"Work hard and play hard – genau mein Ding."

Die hier erfahrene Passion in der Sache "Angelfisch", die überragende Diskussionskultur, die Wertschätzung für unsere Forschung und das Erarbeiten von diversen innovativen Publikationskonzepten und Forschungsproposals waren "eye opening". Die Haupterkenntnis: Für gute Ideen bedarf es Freiheit, Freiraum und Zeit, um mit passionierten, intelligenten, netten Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Disziplinen über Fragen nachzudenken und nach Abschluss des Arbeitstags und nach einem guten Abendessen singend und feiernd den Abend zu verbringen: Work hard and play hard – genau mein Ding. Die dann auch in kurzer Zeit erarbeiteten Ideen reichen für mein weiteres Forscherleben, neue Freundschaften und Netzwerke sind entstanden.

Der IFishMan-Workshop wird übrigens zu einer global tourenden Reihe entwickelt, das nächste Treffen ist 2025 in Wisconsin, USA geplant. Und an den Bodden bleiben die Angeltouristen weg – weniger Grosshechte, keine touristischen Angler. Zumindest haben wir verstanden, woran das ökologisch liegen könnte. Dabei ist Überfischung nur das kleinste Problem.

Beitragsserie "Was mich 2023 geprägt hat"

Dieser Artikel ist Teil der Beitragsserie "Was mich 2023 geprägt hat". Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilen für sie prägende Erlebnisse aus 2023 und was sie daraus für 2024 mitnehmen. Die Beiträge erscheinen zwischen dem 25. und 29. Dezember auf forschung-und-lehre.de.