Schriftzug "Schule" in verschiedenen Sprachen und den Farben der jeweiligen Länder, auf dem Gelände einer Schule in Mühlheim-Broich.
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Internationaler Tag der Bildung
"In der Bildung qualitativ nachlegen"

Wie steht es um die Chancengerechtigkeit in der Bildung weltweit? Was bedeutet Bildung dabei? Ein Gespräch mit Professor Aladin El-Mafaalani.

Von Friederike Invernizzi 24.01.2022

Forschung & Lehre: Herr Professor El-Mafaalani, mit der Verabschiedung der Globalen Nachhaltigkeitsagenda hat sich die Unesco dazu verpflichtet, bis 2030 eine hochwertige und chancengerechte Bildung für Menschen weltweit sicherzustellen. Daran erinnert jedes Jahr am 24. Januar der Internationale Tag der Bildung. Was genau wird unter Bildung in diesem Zusammenhang verstanden?

Aladin El-Mafaalani: Bei der Globalen Nachhaltigkeitsagenda der Unesco geht es um "Education" und nicht um das, was wir in Deutschland unter Bildung verstehen. Hochwertige und chancengerechte Bildung im Sinne der Unesco bedeutet daher Bemühungen um Alphabetisierung beziehungsweise Qualifizierung und darum, den Zugang zu Bildung zu gewährleisten. Diese Probleme sind weltweit die größten auf dem Weg zur chancengerechten Bildung. Dies betrifft global ganz besonders zwei Gruppen: Frauen und Kinder. Chancengerechte Bildung weltweit sicherzustellen ist eine große Herausforderung. Damit verbunden sind die Probleme bei der Gleichstellung der Geschlechter und der weltweit noch üblichen Kinderarbeit.

Portraitfoto von Professor Aladin El-Maafalani
Aladin El-Mafaalani ist Universitätsprofessor für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Mirza Odabaşı

F&L: Wie beurteilen Sie die Entwicklung einer chancengerechten Bildung weltweit?

Aladin El-Mafaalani: Global gesehen geht es eindeutig vorwärts. Man sieht ganz deutlich, dass weltweit enorme Erfolge erzielt wurden. Die werden nur deshalb von der Unesco nicht in den Vordergrund gestellt, weil man ursprünglich noch mehr vorhatte. Analphabetismus und Kinderarbeit müssten gemäß den ursprünglichen Zielen längst abgeschafft sein, deshalb kann man sich nicht darüber freuen, dass es bereits in die richtige Richtung geht. Aber: Die Alphabetisierungsquote insbesondere bei jungen Frauen und Mädchen ist enorm gestiegen. Während sich die Weltbevölkerung vervielfachte, hat sich die Alphabetisierungsquote dramatisch erhöht: von etwa 25 Prozent um 1900 auf weit über 80 Prozent heute. Insgesamt sollte man natürlich die Tatsache, dass es Analphabetismus noch gibt, problematisieren, insbesondere die stockende Entwicklung in Afghanistan, Pakistan und einigen Ländern in Afrika. Aber man sollte dabei die enormen Fortschritte nicht ignorieren. Bestimmte Dinge sind auf diesem Weg hinderlich, weil Bildung und alles, was damit zusammenhängt, in allen Ländern viel Geld kostet. In den Ländern, in denen Bildungsförderung besonders dringlich ist, ist gleichzeitig das Bevölkerungswachstum enorm, dort gibt es viele Kinder. In Afrika beispielsweise liegt das Durchschnittsalter bei 18 Jahren. Bei uns in Europa liegt es deutlich über 40.

F&L: Was hat das zur Folge?

Aladin El-Mafaalani: An diesem Beispiel kann man sehen, dass Bildungsanstrengungen unterschiedlich umgesetzt werden müssen. In einer Gesellschaft, in der das Durchschnittsalter bei 18 Jahren liegt, ist es unmöglich, ein Ganztagsschulssystem einzuführen, da man gar nicht genug Erwachsene hat, um dies zu bewerkstelligen. Außerdem können diese Länder nicht ohne Weiteres auf Kinderarbeit verzichten. Wir dürfen nicht einfach unsere Vorstellungen von Bildungssystemen und Schulpflicht auf andere Gesellschaften 1:1 übertragen.
 
F&L: Wie kann die Bildungspolitik der ärmeren Länder unterstützt und verbessert werden?

Aladin El-Mafaalani: Es gibt kein allgemeingültiges Rezept. Außerdem muss man sich darüber im Klaren sein, dass volkswirtschaftliche Erfolge durch Bildung langwierig sind. Wenn dringliche Probleme auftauchen, zum Beispiel die Pandemie, dann hat selbst bei uns Bildung nachrangigen Charakter. Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt hatten Priorität. Das ist bei Ländern, die sich in existenziell bedrohlicheren Situationen befinden, erst recht so. Wirtschaftskrisen und Krieg stoppen die Alphabetisierung in den ärmeren Ländern und können sogar Rückschritte verursachen. Zudem ist es wichtig zu erkennen: Bildungspolitik ist nicht nur Bildungspolitik! Wer beispielsweise die Bildung von jungen Erwachsenen, von jungen Frauen und Mädchen fördern möchte, der kann nicht nur am Bildungssystem ansetzen, sondern da spielen unter anderem auch Sozial-, Familien- und Regionalpolitik eine große Rolle.

F&L: Lassen Sie uns auf Deutschland schauen: Seit Jahren wächst die Zahl der Studierenden an deutschen Universitäten, immer mehr junge Menschen erreichen das Abitur. Es steigt die Zahl der Bildungsabschlüsse. Werden Abschlüsse immer weniger wert?

Aladin El-Mafaalani: Sie haben an Wert verloren, das kann man nicht leugnen. Wenn man in den 50er oder 60er Jahren in Deutschland Abitur und einen Hochschulabschluss hatte, dann war die Karriere vorgezeichnet. Heute ist das ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Karriere. Es ist paradox: Die Abschlüsse werden immer wichtiger, sind aber gleichzeitig immer weniger wert. Die einfachen und mittleren Abschlüsse haben sogar dramatisch an Wert verloren. Man muss sich die frühere Bildungslandschaft in Deutschland als Pyramide vorstellen: Die wenigsten Menschen machten die höchsten Abschlüsse, die meisten erreichten den Hauptschulabschluss. Heute ist die Pyramide umgedreht, die meisten Menschen machen die höchsten Abschlüsse. Die Gymnasien und die Universitäten sind die größten Bildungsinstitutionen, die Hauptschule ist die kleinste. Die Duale Ausbildung ist zudem kleiner geworden und alles, was es unterhalb der Dualen Ausbildung gab, ist nahezu gänzlich ausgestorben.

F&L: Welche Probleme entstehen daraus?

Aladin El-Mafaalani: Wenn man in einer pyramidenförmigen Bildungslandschaft "unten" ist, dann ist man in der Mehrheit, wenn man in einer umgedrehten Pyramidenform "unten" ist, ist man nicht nur "unten", sondern zusätzlich auch noch in der Minderheit. Man wird zurückgelassen. Es ist keine Frage, dass die Expansion im Bildungswesen durchaus sinnvoll und erstrebenswert ist, aber man hätte sich schon längst vermehrt um die kümmern müssen, die davon nicht profitieren. Das ist von großer Bedeutung.

"Das Problem ist, dass wir die Expansion des Bildungssystems völlig strategielos 'passieren' lassen."

F&L: Was wäre Ihr Vorschlag?

Aladin El-Mafaalani: Da gibt es keinen Königsweg. Das Problem ist, dass wir die Expansion des Bildungssystems völlig strategielos "passieren" lassen. Das hat zu vielen Paradoxien geführt und das Thema Ungleichheit nur vordergründig bewältigt. Diese strategielose Expansion überfordert Gymnasien und Hochschulen. Sie (beide) haben ihren elitären Charakter verloren und unausgesprochen den Auftrag der Volksbildung übernommen. Gleichzeitig versuchen diese Institutionen die Aura des Elitären aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig werden andere Bildungsinstitutionen an den Rand gedrängt. An diesen häufen sich und konzentrieren sich dann bestimmte gesellschaftliche und soziale Probleme. Wenn zum Beispiel an einer Hauptschule nur 10 oder 15 Prozent eines Jahrgangs sind, ist es problematisch. Die Kinder und Jugendlichen mit den schwierigsten Lebenslagen und schlechtesten Leistungen in diese Schulform zu packen und damit zu isolieren, ist nicht sinnvoll. Daher wird diese Schulform nach und nach in Deutschland zu Recht vollständig abgeschafft.

F&L: Würden Sie die Bildungsexpansion zurückfahren wollen?

Aladin El-Mafaalani: Man kann die Uhr nicht zurückdrehen. Aber es steht für mich fest, dass man durch Expansion Ungleichheiten in der Bildungslandschaft nicht systematisch bekämpfen kann. Die Pisa-Studie war ein Schock, es wurden relativ kopflos und überhastet Elemente aus dem anglo-amerikanischen Raum übernommen, die eigentlich nicht zur deutschen Bildungslandschaft passen. Unter anderem haben die Duale Ausbildung und einfache beziehungsweise mittlere Schulformen massiv an Bedeutung eingebüßt. Diese problematische Entwicklung ist jedoch mittlerweile erkannt, so wurde etwa in den letzten Koalitionsverträgen explizit eine Stärkung der Dualen Ausbildung als Ziel formuliert. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Bildungsexpansion sich nicht nur horizontal, sondern auch vertikal entwickelt: Die Kinder werden immer jünger, wenn sie in Institutionen der frühkindlichen Bildung kommen, die Zeit, die Kinder an der Schule verbringen, wird immer länger, und durch Fort- und Weiterbildung bleibt man lebenslang im Bildungsprozess. Außerdem kann man an Universitäten beobachten, dass alle Beteiligten immer weniger Zeit für die Bildungsinhalte selbst haben, da die Inhalte der alten 9-semestrigen Studiengänge in die 6-semestrigen Bachelor-Studiengänge fast 1:1 übertragen wurden. Heute ist das Hochschulstudium eindeutig zielgerichteter und zweckrationaler geworden, die Betreuung ist intensiver, aber das Ganze findet unter Zeitdruck statt. Es ist nicht schlechter, es ist anders.
 
F&L: Was ist Ihre Vision eines chancengerechten Zugangs zu Bildung in Deutschland?

Aladin El-Mafaalani: Bisher gehen Institutionen von ihrer Logik her davon aus, dass Chancengleichheit vorherrscht, dabei sollte eine ihrer zentralen Aufgaben sein, Chancengleichheit herzustellen. Dabei muss man das ausgleichen, was die Ungleichheit erzeugt. Die entsteht primär in Familie und im sozialen Umfeld. Man muss die Frage danach stellen, was die Bildungschancen einschränkt. Wenn wir weiterhin den Familien zum Beispiel den realen Zugang zu außerschulischen Aktivitäten zuweisen, wie Mitgliedschaft im Sportverein oder ein Instrument zu lernen, dann bleibt es dabei, dass die Familie eine große Rolle spielt. Wenn wir den Familien mehr abnehmen, wäre viel erreicht. Eine Lösung wäre es, qualitativ hochwertige und anspruchsvolle Ganztagsbetreuung von Kindern und Jugendlichen anzubieten. Je früher, desto besser. Kurz gesagt: Nach der quantitativen Expansion müssen wir jetzt qualitativ nachlegen. 

Internationaler Tag der Bildung

Seit 2019 fordert die UNESCO jährlich am 24. Januar zur Verbesserung der Bildungssysteme weltweit auf. Mit der Verabschiedung der Globalen Nachhaltigkeitsagenda ("Agenda 2030", 2015) hat die Weltgemeinschaft sich verpflichtet, bis 2030 für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sicherzustellen. Die UNESCO koordiniert die Umsetzung dieses Ziels. Zu den Unterzielen gehört etwa, bis 2030 allen Mädchen und Jungen den Abschluss einer hochwertigen, kostenlosen Primar- und Sekundarschulbildung zu ermöglichen, aber auch sichere, gewaltfreie, inklusive und effektive Lernumgebungen und Infrastrukturen zu schaffen.