Portraitfoto von Max Weber aus dem Jahr 1918
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Wissenschaft und Politik
Max Weber ist auch in der Corona-Krise aktuell

Politiker stützen ihr Handeln seit jeher gerne auf Experten. Max Weber wusste mit dem Erwartungsdruck schon vor 100 Jahren umzugehen.

"Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren was er soll, sondern nur was er kann und – unter Umständen – was er will." Max Weber

Um rationale Entscheidungen zu treffen ist es notwendig, auf verlässliche Informationen über die zu erwartenden Folgen zurückzugreifen. Die Politik nutzt daher – sofern verfügbar – wissenschaftliche Studien, um Maßnahmen der Gesetzgebung zu begründen. Es werden Berater hinzugezogen, welche aufgrund ihrer wissenschaftlichen Expertise tätig werden. Dies wird als evidenzbasierte Politik bezeichnet. In der "Corona-Krise" ist die Fachkenntnis vor allem medizinischer und epidemiologischer, aber auch zunehmend von wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Experten gefragt, die beantworten sollen, "was zu tun sei". Der sich derzeit unter hohem Erwartungsdruck ereignende, in diesem Ausmaß beispiellose und über Medien vermittelte Diskurs über wissenschaftliche Studien birgt Gefahren für Wissenschaftler wie Politiker, zum Beispiel Überbetonung der Ergebnisse einzelner Studien beziehungsweise Partialanalysen, Personalisierung an Stelle von Sachargumenten. Die grundlegenden Überlegungen des Nationalökonomen und Soziologen Max Weber, dessen Todestag sich im Juni 2020 zum einhundertsten Male jährt, sind auch heute noch brauchbare Leitlinien zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik.

Aus wissenschaftstheoretischer Sicht stellen sich die folgenden Grundfragen:

  1. Wie verlässlich müssen wissenschaftliche Aussagen sein, damit sie als Grundlage für eine evidenzbasierte oder zumindest evidenzinformierte Politik dienen können?
  2. Welche Art von Aussagen können Experten unter Berufung auf ihre wissenschaftliche Fachkompetenz äußern?
  3. Wie können wissenschaftliche Aussagen von der Politik zur Lösung praktischer Handlungsprobleme verwendet werden?

Wissenschaftler sind zur Suche nach Wahrheit verpflichtet; ihre Aufgabe ist die Produktion von möglichst empirisch gehaltvollen und wahren Erkenntnissen. Die Wahrheitssuche – nicht nur unter Nützlichkeitsaspekten, sondern auch um ihrer selbst willen – wird als oberster wissenschaftsinterner Wert bezeichnet. Die Reputation der Institution Wissenschaft beruht grundlegend hierauf. Wissenschaft präsentiert den aktuellen Stand der Forschung, das Wissen ist jedoch oft lückenhaft und grundsätzlich fehlbar. Erkenntnisse in empirischen Wissenschaften sind immer nur vorläufig gültig, stehen somit unter dem Vorbehalt der Nachprüfung und können im wissenschaftlichen Diskurs präzisiert beziehungsweise widerlegt werden. Nur reproduzierbare Ergebnisse gehören zum Kanon des vorläufig bewährten Wissens. In der derzeitigen Pandemie-Situation werden unter erheblichem Zeitdruck viele Studien vorgestellt, die diesen zeitaufwendigen Prozess der kritischen Prüfung und Replikation noch nicht durchlaufen haben. Für eine evidenzinformierte Politik ist es weiter notwendig, die kausalen Mechanismen, zum Beispiel zu Auswirkungen von Schulschließungen bzw. -öffnungen auf das Infektionsgeschehen, zu identifizieren, anderenfalls sind wissenschaftlich begründete Handlungsempfehlungen über die zu erwartenden Wirkungen einzelner Maßnahmen nicht möglich.

Wissenschaftler handeln ohne Werturteil

Weber postulierte die sogenannte Werturteilsfreiheit der empirischen Wissenschaften. Ein Werturteil ist definiert als die Einteilung von durch das Handeln beeinflussbaren Entscheidungen als "verwerflich oder billigenswert" (Weber, 1913, S. 445). Nach Weber kann die Wissenschaft Tatsachenaussagen hervorbringen, die darlegen, was getan werden kann. Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich hingegen keine Aussage darüber treffen, was getan werden soll.

Weber liefert in seinem Aufsatz "Wissenschaft als Beruf" folgendes Beispiel: Medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse können zwar ausdrücken, was der Mensch tun kann, um ein Leben zu erhalten (Tatsache). Ob das Leben im Einzelfall erhalten werden soll, kann wissenschaftlich hingegen nicht beantwortet werden (Wertung). Daher kann auch die Frage, ob der Zweck die dazu notwendigen Mittel heilt, keine wissenschaftliche Beantwortung erfahren. Wie kann – jenseits der Suche nach letzten Zwecken – die Suche nach Wahrheit und die Formulierung von Tatsachenaussagen dann zu Kontroversen im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess führen?

Um Unterschiede transparent zu machen, ist es zunächst notwendig, unterschiedliche Phasen des Forschungsprozesses zu differenzieren. In der Wissenschaftstheorie wird zwischen dem Entdeckungs-, dem Begründungs- und dem Verwertungszusammenhang unterschieden. Die von Weber zitierte Werturteilsfreiheitsforderung bezieht sich allein auf die Phase des Begründungszusammenhangs, in dem auf Basis von Modellen und Theorien Hypothesen formuliert und mit Hilfe geeigneter Daten überprüft werden. Während bei der Entscheidung, welche konkrete Fragestellung untersucht werden soll (Entdeckungszusammenhang) oder wie die gewonnenen Erkenntnisse für praktische Zwecke genutzt werden können (Verwertungszusammenhang), individuelle, gesellschaftliche und politische Werte und Interessen notwendigerweise eine Rolle spielen, soll die Darstellung der empirischen Zusammenhänge frei von wissenschaftsexternen Werten und Interessen sein (Begründungszusammenhang); allein wissenschaftsimmanente Werte, die Standards guter wissenschaftlicher Praxis festlegen, sind zulässig.

Zusammenfassend können unterschiedliche wissenschaftliche Erkenntnisse einerseits aus unterschiedlichen, jeweils gleichsam plausiblen Annahmen und Methoden innerhalb der Standards guter wissenschaftlicher Praxis resultieren. Andererseits können unzulässige wissenschaftsexterne Werte innerhalb des Begründungszusammenhangs zu einer Verzerrung der wahren Ergebnisse führen. Die Überprüfung vorläufiger Erkenntnisse ist daher die Aufgabe des wissenschaftlichen Diskurses, dessen Ergebnis es sein kann, dass Erklärungsansätze entweder präzisiert oder verworfen werden.

Wie Politiker wissenschaft­liche Erkenntnisse verwenden sollen

"Man kann sagen, daß drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß." Max Weber

Aufgabe der Wissenschaft ist es, über intendierte und nichtintendierte Folgen von Maßnahmen verlässlich zu informieren. Zusammen mit einer Bewertung der Folgen und auch der hierfür notwendigen Maßnahmen auf Grundlage wissenschaftsexterner Werte und Interessen können politische Entscheidungen getroffen werden.

Wenn die Handlung oder der Maßnahmenkomplex A zusammen mit unterstützenden Faktoren UF durchgeführt wird, dann folgt daraus Konsequenz Y, jedoch mit den bekannten (nicht intendierten) Nebenwirkungen 1, 2 und 3: A ∩ UF → Y ∩ 1,2,3

Alternativ könnte Handlung oder Maßnahmenkomplex B zusammen mit den unterstützenden Faktoren UF‘ mit der Konsequenz Z und den bekannten (nicht intendierten) Nebenwir­kungen 2, 4, 5 durchgeführt werden: B ∩ UF‘ → Z ∩ 2,4,5

Oft ist nicht genau bekannt, welche unterstützenden Faktoren vorhanden sein müssen, damit die erwünschten Folgen bewirkt werden. Welche Konsequenzen (Y oder Z, zum Beispiel Letalitätsraten in Folge von Covid 19) noch akzeptabel sind bzw. angestrebt werden und welche Nebenwirkungen (1,2,3 oder 2,4,5) dabei gebilligt werden, kann jedoch nicht wissenschaftlich entschieden werden. Diese Wertungsfrage ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die an das politische System delegiert wird. Auf letzte normative Sinn- und Wertfragen "Wie sollen wir leben?" können empirische Wissenschaften keine Antworten geben. Möglich sind jedoch rationale philosophische Erörterungen, die Klarheit verschaffen über "weltanschauliche Grundpositionen", die bestimmten praktischen Stellungnahmen zugrunde liegen.

Politische Entscheidungen sind mit Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß zu treffen. Doch was ist darunter im Einzelnen zu verstehen? Weber präzisierte, dass mit Leidenschaft die leidenschaftliche Hingabe an eine Sache zu verstehen sei. Das Individuum sollte bei der Ausführung seiner Arbeit hinter dieser zurücktreten und persönliche Eitelkeit und Gefallen an der Macht als Selbstzweck außen vor lassen.

In seinen Ausführungen über das "Ethos der Politik als 'Sache'" kritisiert Weber eine Gesinnungsethik, die den moralischen Wert einer Handlung allein nach der ihr zugrundeliegenden Motivation bemisst, und präferiert eine Verantwortungsethik, welche auf die moralisch zu bewertenden Handlungsfolgen abstellt. Dennoch sah Weber die beiden – von ihm nur grob skizzierten – Positionen bei praktischen Handlungen als miteinander vereinbar an.

Politisches Handeln – besonders in Krisensituationen – sollte sich im Sinne von Max Weber sowohl auf eine möglichst gesellschaftlich akzeptierte und heute weitgehend in der Verfassung verankerte Wertordnung im Sinne einer Prinzipienethik stützen, als auch im Sinne einer konsequenzialistischen Ethik die Folgen politischer Entscheidungen im Blick haben und hierfür Verantwortung übernehmen. Diese Positionen in einem Überlegungsgleichgewicht bei Erhaltung des gesellschaftlichen Konsenses zu verbinden – das ist die Aufgabe der Politik.

Wissenschaft kann prognostizieren, Politik muss abwägen

Von empirischen Wissenschaften können für eine evidenzinformierte Politik nützliche Zweck-Mittel-Analysen mit dementsprechend hypothetischen Werturteilen erarbeitet werden. Gegenwärtig sind wir erneut Zeuge des von Max Weber zutreffend diagnostizierten Prozesses der "Entzauberung der Welt" durch wissenschaftliche Rationalisierung und hoffen darauf, dass wir das Virus durch "Berechnen beherrschen" können (Weber 1919a, S. 87).

Eine Abwägung unterschiedlicher Güter im Sinne geringer Letalitätsraten gegen die Nebenwirkungen der dafür notwendigen Maßnahmen ist mit Methoden der empirischen Wissenschaften mangels eines objektiv gültigen Maßstabs hingegen nicht möglich: Die Wissenschaft kann prognostizieren, welche Folgen aufgrund der vorhandenen Daten jeweils eintreten. Eine Güterabwägung für Entscheidungszwecke kann jedoch nur durch die Politik mit kategorischen Werturteilen durchgeführt werden.