Das Bild zeigt die zerstörte Ausstattung der Hochschule in Charkiw mit Glassplittern auf dem Boden, zerstörtem Fenster und einem deplatzierten leeren Drehstuhl im Bildzentrum.
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Ukrainische Universitäten
Studieren und Forschen unter Raketenbeschuss

Im russischen Angriffskrieg werden auch die ukrainischen Universitäten zu Zielen. Wie gehen Lehrende und Studierende mit der Situation um?

Von Alla Paslawska 09.01.2023

Die Ukraine erlebt die schwierigsten Zeiten in ihrer jüngsten Geschichte. Die russische Aggression hat den normalen Alltag der Ukrainer völlig ruiniert. Ungeachtet dessen funktioniert das Land und bemüht sich auch unter extremen Lebensbedingungen das wirtschaftliche und soziale Leben zu stabilisieren.

Für das ukrainische Hochschulsystem ist die aktuelle Situation zu einer großen Herausforderung geworden. Die Lehre muss meistens in einer Situation stattfinden, in der es stundenweise Stromausfälle gibt, die Heizung nicht funktioniert und dementsprechend der (Online)-Unterricht nicht immer möglich ist. Nach dem 24. Februar 2022 haben das Bildungsministerium und die Universitätsleitungen vor Ort eine Reihe von Maßnahmen getroffen, um den weiteren Betrieb an ukrainischen Universitäten zu ermöglichen.

Es gab zunächst zwei Wochen Urlaub für alle, damit Lehrende und Studierende die Möglichkeit hatten, besonders gefährdete Gebiete im Osten der Ukraine zu verlassen und ins Zentrum oder in den Westen der Ukraine zu kommen. Danach wurde die Lehre in verschiedenen Formaten fortgesetzt. Für die Erstsemester gab es vor allem Online-Angebote, damit sie sich zumindest einen Überblick über das Universitätsleben verschaffen und in ihre Fachgebiete eingeführt werden konnten. Bei den Magisterstudierenden entschied man sich ebenfalls für das Online-Format. Alle anderen hatten ihren Unterricht im Hybrid-Format, je nach Sicherheitssituation und Verfügbarkeit von Strom.

Die Online-Lehre war durch die Corona-Pandemie bereits vorbereitet. Daher konnte man das offline geplante Wintersemester schnell zu einer Online-Variante umgestalten. Für viele Lehrende und Studierende, die ihre Heimatorte infolge des Krieges verlassen und an neuen Orten in der Ukraine ihre Arbeit und ihr Studium fortsetzen mussten, war es jedoch nicht gleich möglich, einen Internetanschluss zu organisieren. Bei manchen ging das über Handys, die anderen mussten in ein Internet-Café. Eine Unterkunft in den durch Flüchtlinge überfüllten Städten war nicht leicht zu finden und ziemlich teuer.

Keine Ahnung von Krieg

Die Situation hatte sich zugespitzt, als die russischen Truppen anfingen, am 10. Oktober nach den Angriffen auf Militär- und Zivilobjekte massiv die Objekte der Infrastruktur zu bombardieren. Der Strom fiel aus, mittlerweile ist er stundenweise da. Ohne Strom wird die Situation für das Studium noch schwieriger. Man kann kaum wiedergeben, was man empfindet, wenn man im Dunkeln sitzt, wenn der Luftalarm kommt, wenn man in den Nachrichten hört, dass der Feind die Ukraine mit bis zu hundert Raketen pro Angriffswelle beschießt.

Wie fühlen sich junge Menschen in dieser Situation, die vor dem 24. Februar 2022 ein ziemlich angenehmes Leben in der Ukraine hatten, an den EU-Beitritt dachten und keine Ahnung von einem Krieg hatten? Wie kann man ihnen erklären, warum der sogenannte "großer Bruder" die Ukraine nur dafür vernichten will, dass sie sich ihm nicht unterwerfen und einen eigenen Weg einschlagen will? Wie lässt sich erklären, dass ausgerechnet im Osten der Ukraine, wo ein großer Teil der Bevölkerung Russisch spricht, ganze Städte und zivile Infrastruktur vernichtet, Frauen und Kinder vergewaltigt und zahlreiche Zivilisten ermordet wurden? Und warum wundert man sich, wenn viele Ukrainer nach den furchtbaren Gräueltaten der Russen kein Russisch mehr in der Nähe hören wollen? Um diese Fragen beantworten zu können, braucht es etwas mehr Empathie als sonst.

"Wie fühlen sich Menschen, die vor dem 24. Februar ein ziemlich angenehmes Leben in der Ukraine hatten?"

Ungeachtet existenzieller Schwierigkeiten findet die Lehre an ukrainischen Universitäten trotzdem statt. Wenn der Strom wieder da ist, werden Vorlesungen gehalten, die den Studierenden online zugänglich gemacht werden. Man ist sehr flexibel geworden und nutzt jede Möglichkeit, das nachzuholen, was ausgefallen ist.

Unterstützung aus der ganzen Welt

Man kann nicht sagen, dass sich ukrainische Universitäten in der aktuellen Situation im Stich gelassen fühlen. Aus der ganzen Welt kommen Unterstützungs- und Hilfsangebote. Besonders spürbar ist die Unterstützung, die aus Deutschland kommt, insbesondere vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und von verschiedenen Stiftungen. Viele Universitäten in Deutschland sind bereit, ukrainische Studierende in ihren Online-Kursen zuzulassen. Über private Kontakte entstehen neue Partnerschaften und Kooperationen.

In diesem Kontext sind einige wichtige deutsch-ukrainische Veranstaltungen im Hochschulbereich zu erwähnen, die zum Ziel hatten, die ukrainische Germanistik während der russischen Aggression zu unterstützen. So fand am 6. und am 13. Mai 2022 eine Online-Konferenz der deutschen und ukrainischen Germanisten statt, an der sich Germanistinnen und Germanisten aus Deutschland und der Ukraine, Vertreter des DAAD, der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), des Goethe-Instituts Ukraine und des Ukrainischen Deutschlehrer- und Germanistenverbands beteiligt haben. Auf die Tagung folgte das Projekt eines deutsch-ukrainischen/ukrainisch-deutschen Online-Wörterbuchs, das gerade ein dringendes Desideratum der ukrainischen Seite ist. Der DAAD hat zudem Unterrichtsmaterialien für das Germanistik-Studium in der Ukraine zugänglich gemacht. Entsprechende einführende Seminare haben dabei den Teilnehmenden den Einstieg in entsprechende Module erleichtert. Im Rahmen des deutsch-ukrainischen Projekts "Learnopolis" wird an der Unterstützung ukrainischer Universitäten in den Bereichen Internationalisierung, Digitalisierung und Inklusion gearbeitet. Gemeinsam werden Massive Open Online Courses (MOOCs) für die Weiterbildung von Hochschullehrern zu den bereits erwähnten Themen entwickelt. Anschließend sollen diese Kurse auf der mit rund 1,8 Millionen Nutzern größten ukrainischen MOOC-Plattform "Pro­me­teus.org" untergebracht werden. An der Universität Erlangen-Nürnberg wird ein Projekt zur Erstellung der Datenbank für ins Ukrainische übersetzte deutsche Literatur betreut. Es gibt viele weitere, für die ukrainische Germanistik wichtige Projekte und Initiativen.

Unüberschreitbare Grenzen und fehlende moralische Unterstützung

Der Krieg macht den Alltag ukrainischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer schwieriger. Man gewöhnt sich zwar an alles, aber es gibt bestimmte Grenzen, die man nicht überschreiten darf. Unter Raketenbeschuss, in der Kälte und ohne Licht zu leben, hat niemand verdient, geschweige denn unter dem psychischen Druck, dass man nie weiß, wann der Luftalarm kommt, ob die Nächsten in Sicherheit sind, ob die Gehälter noch ausgezahlt werden und so weiter.

"Trotz vieler Versuche unserer Studierenden zu einem Dialog mit Studierenden in Deutschland zu kommen, kam dieser nicht zustande."

Unter diesen Umständen ist moralische Unterstützung der Fachkolleginnen und -kollegen von entscheidender Bedeutung. Sie ist zwar vorhanden, allerdings in Teilen auch weniger spürbar, zum Beispiel kommt kaum Unterstützung von den jungen Studierenden aus dem Ausland. Die ukrainischen Studierenden bräuchten solche Angebote viel mehr als die Lehrenden. Das wäre eine sehr wichtige Unterstützung, die von Gleichaltrigen kommen könnte, um unseren Studierenden zu zeigen, dass sie nicht alleine sind, dass man ihre Probleme versteht und akzeptiert. Aber trotz vieler Versuche unserer Studierenden zu einem Dialog mit Studierenden in Deutschland zu kommen, kam dieser nicht zustande. Entweder ist Desinteresse oder Zeitmangel die Ursache. Mir ist das unverständlich, vor allem vor dem Hintergrund, dass ausgerechnet in Deutschland die Jugendlichen so aktiv beim Klimaschutz oder beim Tierschutz sind.

Die Tatsache, dass die Ukrainer täglich mit Drohungen einer nuklearen Explosion unter Druck gesetzt werden, löst viel weniger Diskussionen in Deutschland aus. Die Vernichtung von Tieren auf den besetzten Territorien regt die Jüngeren auch nicht besonders auf.  Oft hört man von deutscher Seite: "Ich kann über die russischen Gräueltaten in der Ukraine nicht lesen oder hören, weil das so schrecklich ist." Was sollen diejenigen tun, die das alles durchmachen müssen? Die Welt muss sich ändern, wenn man nicht will, dass nach Ukrainern, Syrern und Iranern weitere Völker zu Opfern des Krieges werden.