Das Foto zeigt eine Klaviertastatur mit den Händen eines Pianisten
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Zuversicht
Von der Macht der Musik

Kann Musik in Krisenzeiten ein Zeichen der Hoffnung sein? Eine persönliche Reflexion über die Macht der Musik.

Von Laurenz Lütteken 25.12.2023

Im September 2023 konnte ich, im Rahmen eines kleinen Festivals, den Tenor Daniel Behle mit dem Hornquartett German Hornsound und dem Programm "Heimat" hören. In der Reihe von Vokalstücken, die von Isaacs Innsbruck-Lied bis in die Gegenwart führt, geht es um musikalische Sehnsüchte, Bekenntnisse, Projektionen – geeint und doch verfremdet durch die phänomenale Begleitung von vier Hörnern.

Die Gralserzählung aus Richard Wagners Lohengrin klang auf diese Weise entrückt und nah zugleich, ein Stück aus fernem Land, unnahbar unsern Schritten. Die Achse des Programms bildete jedoch das Lied, das Hermann Leopoldi und Franz Léhars Librettist Fritz Löhner-Beda im Dezember 1938 im Konzentrationslager Buchenwald auf Befehl des Kommandanten Arthur Rödl schreiben mussten. Es erklang solistisch, ohne die Begleitung der Hörner.

Es ist Musik im Angesicht von Entsetzen und Vernichtung, ein Lied, in dem der Ort des Grauens zur "Heimat" erklärt werden musste: "O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, / Weil du mein Schicksal bist." Und doch, in all der erzwungenen Ambivalenz, das Lied ist zugleich, unerwartet und ganz gegen den zynischen Willen des Auftraggebers, ein Zeugnis der Selbstbehauptung. Leopoldi hat den Schrecken wie durch ein Wunder überlebt, Löhner-Beda dagegen wurde 1942 ermordet.

"In Schreckensherrschaften ist Musik immer wieder als Mittel der Macht benutzt worden."

Musik im Angesicht des Schreckens

Immer wieder wird, in Sonntagsreden aller Art, die verbindende, die versöhnende Kraft von Musik beschworen. Doch damit macht man es sich zu leicht. In russischen Gefängnissen wird mit Musik sogar gefoltert. Musik kann zugleich trennen, sie kann missbraucht, sie kann agitatorisch eingesetzt werden. In Schreckensherrschaften ist Musik immer wieder als Mittel der Macht benutzt worden, davon zeugen der Nationalsozialismus, der Stalinismus oder der Maoismus.

Und doch, selbst in solchen Abgründen verliert sie offenbar das nicht, was sie eben zugleich auszeichnet, die Vermittlung von Zuversicht, von Hoffnung, von Trost, selbst dann nicht, wenn das genaue Gegenteil beabsichtigt ist. Das Lied von Leopoldi erinnert daran, denn es kann, obwohl etwas ganz anderes erzwungen werden sollte, dies nicht leugnen – und es soll und will es auch nicht leugnen.

Dass die Musik diese Macht selbst dann zu bewahren vermag, wenn die äußeren Umstände dem ganz entgegenstehen, kann bei denen, die vom Missbrauch überzeugt sind, Furcht und Entsetzen auslösen. Schon 2021 bekam die Flötistin und Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikava nicht zuletzt deswegen die erbarmungslose Wut, den zerstörerischen Zorn des weißrussischen Despoten Alexander Lukaschenko zu spüren.

Und auch im Jahr 2023 gab es Ereignisse, die von Hass auf die Musik geprägt waren, von der panischen Angst vor ihrer Macht. Im Juli wurden in der afghanischen Provinz Herat symbolisch Musikinstrumente verbrannt, um dem generellen staatlichen Musikverbot drohenden Nachdruck zu verleihen. Der furchtbare Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober galt eben auch einem Musikfestival, und wenn es nur in der Absicht geschah, dort möglichst viele Menschen gleichzeitig zu treffen. Und auf die grauenhafteste Weise wurden Menschen getroffen, die an diesem Musikfestival teilhaben wollten.

In einem Jahr, das über so weite Strecken von roher Gewalt und brutalem Vernichtungswillen geprägt war, tut es vielleicht gut, sich an die positive Macht der Musik zu erinnern. Es ist durchaus ein Zeichen der Hoffnung, dass es furchtbare Täter gibt, die genau vor dieser Macht Angst haben. Man könnte, in Anlehnung an Heine, zwar sagen, dort, wo man Musik verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.

"Vielleicht gehört es zum Wesen der Musik, das Persönliche mit einem Allgemeinen zu verbinden."

Doch das, was Musik zu leisten vermag, gerade im Angesicht des Schreckens, lässt sich damit eben nicht eliminieren. Die ungewöhnliche, unerwartete Begegnung mit dem Buchenwald-Lied von Hermann Leopoldi hat mich daran auf eindrückliche Weise erinnert. Es ist am Ende nur ein beiläufiger, ein sehr persönlicher Eindruck aus dem Jahr 2023, aber einer, der doch über dieses Persönliche hinauszuwirken vermag. Vielleicht gehört aber dies zum Wesen der Musik, das Persönliche mit einem Allgemeinen zu verbinden.

Die Menschen, die zynisch an den Missbrauch mit und durch Musik glauben, haben offenbar doch Angst davor, dass sie sich irren könnten, dass die Musik also etwas vermag, was sich ihrer Kontrolle entzieht. Diese Angst war und ist, ungeachtet des mit ihr verbundenen Schreckens, zugleich ein wichtiges Signal.

Der Autor widmet diesen Beitrag seiner Kollegin Lenka Hlávková, die bei einem Amoklauf an einer Universität in Prag am 21. Dezember 2023 ermordet wurde.

Beitragsserie "Was mich 2023 geprägt hat"

Dieser Artikel ist Teil der Beitragsserie "Was mich 2023 geprägt hat". Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilen für sie prägende Erlebnisse aus 2023 und was sie daraus für 2024 mitnehmen. Die Beiträge erscheinen zwischen dem 25. und 29. Dezember auf forschung-und-lehre.de.

Mit Beiträgen von:

  • Prof. Robert Arlinghaus, Fischereimanagement, HU Berlin
  • Dr. Simon Fuchs, Islamwissenschaftler, Hebrew University Jerusalem
  • Jun.-Prof. Maik Luu, Medizin, Universität Würzburg
  • Prof. Laurenz Lütteken, Musikwissenschaft, Universität Zürich
  • Prof. Susanne Schmidt, International Management, Universität Magdeburg