Foto einer Tastatur mit der Aufschrift "translate" und mehreren Tasten mit verschiedenen Sprachsymbolen
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Sprachkompetenz
Warum wir weiterhin Übersetzer brauchen

Übersetzungsprogramme haben in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht. Was können sie und wann braucht es noch menschliche Übersetzer?

Von Dirk Siepmann 08.08.2020

Allenthalben hört und liest man, dass Übersetzungsmaschinen wie DeepL oder Google Translate menschliche Sprachmittler überflüssig machen. So sieht Jana Koeh­ler, Professorin am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, in Forschung und Lehre 1/20 eine Entwicklung voraus, die in den nächsten fünf Jahren im Bereich Spracherkennung und Übersetzung zu Ergebnissen führen wird, "die von menschlicher Leistung nicht mehr unterscheidbar sind." Wie bereits in den 1950er Jahren scheint in der KI-Welt eine überschäumende Euphorie ausgebrochen zu sein, die von vielen Medien weitergetragen wird. Es verwundert daher nicht, dass die jüngere Generation das Übersetzen bereits größtenteils mit seiner automatisierten Form gleichsetzt.

Positive Erfahrungen mancher Wissenschaftler mit maschineller Übersetzung deuten vielleicht darauf hin, dass einzelne Wissenschaftsbereiche einen standardisierten und verflachten Stil pflegen, den Übersetzungsprogramme durch die Verfügbarkeit reichhaltigen Trainingsmaterials schon zur Genüge kennen, und weniger auf die grundsätzliche Fähigkeit von Computern zu "übersetzen". Vor allem Laien mögen durch die recht soliden, aber bei weitem nicht fehlerfreien maschinellen Übersetzungen von gängigen Textsorten wie Zeitungsmeldungen, Firmenportraits, standardisierten medizinischen Abstracts und so weiter. den Eindruck gewinnen, dass der menschliche Sprachmittler bald der Vergangenheit angehören wird. Davon sind wir jedoch noch weit entfernt – ja, es spricht sogar vieles für die prinzipielle Unmöglichkeit einer perfekten maschinellen Übersetzung, so lange Computer nicht wie Menschen funktionieren.

Der Nutzen von Übersetzungsmaschinen

Dies wird leicht einsichtig, wenn man sich fragt, was Übersetzer können müssen. Auf den einfachsten Nenner gebracht, ist das zweierlei: Verstehen und Formulieren. Übersetzer müssen Texte der Ausgangssprache bis ins letzte Detail "dekodieren" und interpretieren können, und sie müssen die Fähigkeit besitzen, angemessen und variantenreich in der Zielsprache zu formulieren. Diese Sichtweise mag reduktionistisch erscheinen, weist uns aber sofort auf den Unterschied zwischen Humanübersetzer und Maschine hin: Die Maschine hat nur letztere Kompetenz, sie kann formulieren, aber nicht verstehen. Vereinfacht gesagt, ersetzt der Übersetzungsalgorithmus eine Wortfolge beziehungsweise Wortumgebung in der Ausgangssprache durch die statistisch ähnlichste Wortfolge beziehungsweise Wortumgebung in der Zielsprache; darin ist der Computer, wenn ihm genügend einschlägige Texte in Ziel- und Ausgangssprache zur Verfügung stehen, nahezu unschlagbar.

Der Nutzen von Übersetzungsmaschinen für den menschlichen Übersetzer liegt also vor allem darin, dass diese tausende von Wortverbindungen in Sekundenschnelle produzieren können, von denen sich dann zahlreiche auch als brauchbar erweisen. Unter diesen brauchbaren Lösungen gibt es wiederum viele, die eine genauere Äquivalenz herstellen als Vorschläge von Humanübersetzern. Letztere, so zeigen Untersuchungen, neigen zur "idiolektalen" Überformung des Zieltextes, das heißt bedingt durch ihren eigenen Sprachgebrauch und ihre eigene, notwendigerweise beschränkte Spracherfahrung gelingt es ihnen nicht, ein genau gleichwertiges Element im zielsprachlichen Wortschatz zu finden. Der Computer kann in diesem eingeschränkten Bereich eine Art "Vollkompetenz" erreichen – für den Menschen bleibt diese ein Ideal, dem er sich selbst im Laufe eines langen, bienenfleißigen Übersetzerlebens nur mühsam nähern kann. Spiegelbildlich dazu ist es jedoch in allen anderen Bereichen der Computer, der sich der Perfektion nur asymptotisch nähern kann – der erfahrene Übersetzer wird ihm allen Unkenrufen zum Trotz auf lange Zeit, vielleicht auf ewig, überlegen bleiben.

Wortwissen und enzyklopädisches Wissen

Dies liegt vor allem daran, dass Verstehen auf Wissen beruht, das vielfältig mit Wörtern und anderen sprachlichen Elementen verknüpft ist. Man kann grob zwischen Wortwissen und enzyklopädischem Wissen unterscheiden: zum Wortwissen gehört zum Beispiel, dass ich weiß, dass ein Junggeselle ein unverheirateter Mann ist oder dass die Präposition trotz heutzutage meist mit dem Genitiv gebraucht wird. Das enzyklopädische Wissen ist im Gegensatz zum Wortwissen praktisch unbegrenzt; zu meinem enzyklopädischen Wissen zum Wort "Autobahn" gehört zum Beispiel, dass es auf Autobahnen Staus gibt oder dass auf solchen Straßen im Nebel häufig Auffahrunfälle passieren. Lese ich eine Zeitungsüberschrift wie "Liebesgrüße aus München", so greife ich auf enzyklopädisches Wissen über James-Bond-Romane (oder Filme) zurück und folgere durch die Analogie mit dem Kalten Krieg, dass es im Text vermutlich um einen Angriff des bayerischen Ministerpräsidenten auf die Berliner Regierung gehen wird.

Der Erwerb von Wortverbindungen als wichtiger Teil des Wortwissens stellt für künstliche neuronale Netze keine größere Schwierigkeit mehr da. Ist genügend Trainingsmaterial in einem bestimmten Bereich vorhanden, so identifizieren sie mithilfe von Vektordarstellungen Wortumgebungen, die sich in verschiedenen Sprachen gleichen, mit einer durchschnittlichen Treffsicherheit von 80 bis 90 Prozent (Man bedenke, dass 80 bis 90 Prozent keine 100 Prozent sind: Wer würde über eine Brücke gehen wollen, die nur zu 80 Prozent sicher ist? Mit Bezug auf Übersetzungen meinen einige, das sei ausreichend, obwohl Brückenbau sich manchmal auf Übersetzung stützt …).

Der Computer ermittelt also zum Beispiel, dass ein "eingefleischter Junggeselle" im Englischen ein "confirmed bachelor" ist. Zum Wortwissen gehört aber auch, wie ein Wort sich in typische Satzbaumuster einfügt, und hier stoßen Übersetzungsprogramme häufig an erste Grenzen: Mit dem englischen Satz "Her approach to the material as a whole is too selec­tive and her presentation of the results too wilful for them to command assent" kann DeepL nichts anfangen, da die Maschine die Infinitiv-Konstruktion mit "for" nicht kennt. Heraus kommt: "Ihr Ansatz für das Material als Ganzes ist zu selektiv und ihre Präsentation der Ergebnisse zu eigenwillig für sie zu Befehl Zustimmung". Richtig müsste es heißen: "Ihr Zugang zu dem Material in seiner Gesamtheit ist zu selektiv und ihre Darstellung der Ergebnisse zu eigenwillig, als dass sie Zustimmung finden könnten". Eine ähnliche Fehlinterpretation leistet sich DeepL bei folgendem Satz: "Wie wenig die Forschung Bellori gerecht wurde, zeigt sich am …". DeepL erkennt Bellori nicht als Dativ-Objekt und macht daraus einen Teil des Subjekts des englischen Satzes: "How little Bellori’s research did justice can be seen in …".

Der eigentliche Pferdefuß der maschinellen Übersetzung ist jedoch das enzyklopädische Wissen. Hier scheitert der Rechner an Banalitäten, an die ein menschlicher Übersetzer keinen Gedanken verschwenden würde. Greifen wir erneut zum Beispiel "Autobahn": Die Satzfolge: "Die Autobahn war frei und wir unterhielten uns angeregt. Alles gut. Doch auf einmal Stillstand." übersetzt DeepL mit "The highway (motorway) was free …", was bedeuten würde, dass die Autobahn mautfrei war (richtig: "clear"). Für den menschlichen Übersetzer ist sowohl durch das Wort "frei" (statt etwa "gebührenfrei") als auch durch die Folgesätze unmittelbar ersichtlich, dass es hier nicht um die Maut, sondern um den Verkehrsfluss geht. Der im Englischen nur mäßig bewanderte deutsche Nutzer von DeepL würde die Sinnentstellung allerdings wohl kaum bemerken.

"Der Rechner scheitert an Banalitäten, an die ein menschlicher Übersetzer keinen Gedanken verschwenden würde."

Vollends überfordert sind neuronale Netzwerke schließlich mit komplexen geisteswissenschaftlichen Bezügen, wie sie zum Beispiel das Wort "aufheben" mit seinen Anklängen an die Hegelsche Dialektik in sich birgt. Die Standard(hilfs-)übersetzung "sublate", die in der Philosophie gängig ist, wird der Computer aufgrund schmaler Textgrundlagen auch bei entsprechendem Training kaum herausfiltern können, und in anderen geisteswissenschaftlichen Kontexten kann eben nur der menschliche Übersetzer durch die Kenntnis eines Gesamttextes entscheiden, ob er der Bedeutungskomponente "Auflösung" oder "Aufbewahrung" den Vorzug gibt oder versucht, beide Nuancen synthetisch zu vereinen. Wenn Marx und Engels davon sprechen, "den jetzigen Zustand auf(zu)heben", wird er "abolish" wählen, wenn Adorno und Horkheimer geltend machen, dass der Verzicht des Kunstwerks auf Einwirkung "das reine Bild in Gegensatz zur leibhaften Existenz (rückt), deren Elemente es in sich aufhebt", wird er zu "sublate" greifen, in wieder anderen Kontexten aber zu "transcend", "dissolve" oder ganz andersartigen Lösungen.

Auf Kernkompetenzen besinnen

Fazit: Menschen übersetzen – das heißt verstehen und reformulieren – Texte, Computer ersetzen Wörter. Maschinelle Übersetzung ist insofern ein Segen für die Menschheit, als sie ermöglicht, ein koreanisches Kochrezept zu verstehen oder in Bhutan nach dem Weg zu fragen. Indes ist für anspruchsvolle Texte (zum Beispiel Werbetexte, Höhenkammliteratur, Produktbeschreibungen, juristische Gutachten sowie die meisten Texte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften) die menschliche Übersetzung auf absehbare Zeit unersetzlich; der Computer wird für diese Textsorten lediglich ein Hilfsmittel bleiben.

Bleibt die Frage, wer solche Übersetzungen bewerkstelligen wird. Dies wird stark von zwei Faktoren abhängen. Erstens: Wird es der Übersetzergemeinschaft gelingen, ihre tatsächlichen Alleinstellungsmerkmale – im Idealfall höchste sprachlich-kulturelle, sprachanalytische und fachliche Kompetenz – in Wirtschaft und Gesellschaft als solche in Wert zu setzen? Zweitens: Werden sich die ausbildenden Universitäten ebenfalls auf diese Kernkompetenzen besinnen und sie Technik- und Dienstleistungskompetenzen sowie vage definierten interkulturellen Fertigkeiten voranstellen? Zu befürchten wäre sonst, dass ökonomisches Kalkül und eine gewisse Ahnungslosigkeit hinsichtlich der Komplexität von Sprache und Übersetzen seitens der Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik zu einer Verdrängung des "zweitältesten Gewerbes der Welt" durch eine gefährliche Kombination von Computer- und Laienübersetzungen (Verlagslektoren, Ingenieure, Hobbyübersetzer und so weiter) führt. Sprachliche Expertise tut also weiterhin not. Ohne sie würde eine kulturell ärmere, der gediegenen Schriftlichkeit weiter entrückte Welt entstehen.