Buchtipps – Teil 2
Was andere auch gerne lesen
Martin Grötschel empfiehlt: Kurt Vonnegut: Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug. Ein Pflichttanz mit dem Tod. Hoffmann und Campe, Hamburg 2016, (Neuübersetzung aus dem amerikanischen Englisch).
Wie beschreibt man Unbeschreibliches? Diese Frage schwebt über dem 1969 erschienenen Buch von Kurt Vonnegut, der die Bombardierung von Dresden 1945 als Kriegsgefangener miterlebt und bereits dabei geplant hatte, darüber sein Meisterwerk zu schreiben. Erst nach 25 Jahren mühevoller Versuche gelang ihm dies durch einen Perspektivenwechsel („Metafiktionalisierung“). Seine Kriegserfahrungen – verbunden mit Ironie und schwarzem Humor – in Science Fiction einbettend hat er das ungewöhnlichste und gleichzeitig beste Antikriegsbuch geschaffen, das ich kenne. So it goes!
Bettina Pause empfiehlt: Michel Onfray. Théorie de la dictature. Éditions Robert Laffont, Paris, 2019 (Deutsch: Theorie der Diktatur. Jungeuropa Verlag, Dresden, 2021).
Der nonkonformistische Philosoph Michel Onfray vermittelt uns in "Theorie der Diktatur" eine hochaktuelle Essenz des philosophischen Diskurses, wie sie sich durch die Orwellschen Romane "1984" und "Die Farm der Tiere" zieht.
Nach Onfray, als Verfechter von Freiheit und Selbstbestimmtheit, geht es in diktatorischen Systemen u.a. um die Minimierung persönlicher Freiheit (z.B. Überwachung durch Google, Facebook u.a.), die Relativierung (Zeitgeist-Abhängigkeit) von Wahrheit (z.B. "fake news") und um das Schüren von Hass gegenüber Andersdenkenden (z.B. Diskreditierung von sog. Sündenböcken).
Im Kern totalitärer Systeme aber steht nach Onfray die Auslöschung der Menschlichkeit als solcher, also von Mitgefühl, Wertschätzung, Freundschaft, Liebe, Zärtlichkeit, Integrität, Würde und Lebensfreude. Hier offenbart sich Onfray als Hedonist und Humanist, so wie ich ihn vor vielen Jahren in "Der sinnliche Philosoph" schätzen gelernt habe.
Dieter Thomä empfiehlt: Philipp Sarasin: 1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Suhrkamp Verlag, 3. Aufl. 2021.
Alexis de Tocqueville schrieb 1840: "Wenn die Vergangenheit die Zukunft nicht erhellt, tappt der Geist im Dunkeln." Inzwischen rutscht sogar die jüngste Vergangenheit rasch aus dem Blickfeld. Handlungsfähig ist aber nur, wer weiß, wie er wurde, was er ist. Deshalb empfehle ich Philipp Sarasins 2021 erschienenes Buch: "1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart". Deutscher Herbst, der Personalcomputer Apple II, die Zeitschrift Emma, Punk, Bodybuilding, die Eröffnung des Centre Beaubourg in Paris – Sarasin setzt aus vielen kleinen Geschichten eine große Welt zusammen.
Alexandra Heidle-Chhatwani empfiehlt: Senthuran Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen. Fischer Verlag 2018.
"dein profil erschien gerade am rand, gelistet unter den personen, die ich vielleicht kenne." Eine Facebook-Konversation, die scheinbar belanglos beginnt, fesselt und nimmt mit auf eine Reise, auf der die Bedeutung der Worte in kürzester Zeit nicht mehr belanglos ist. Die Protagonisten des Romans führen über sieben Tage einen Dialog ohne einander je getroffen zu haben. Schnell spüren wir, dass jedes verpasste Wort die Bedeutung des Gesprächs in neue Richtungen lenkt. Wir tauchen ein in biografische Erzählungen, in Migrationsgeschichten, in die erinnernden Gedächtnisse zweier junger Menschen, um am Ende festzustellen, dass das, was uns als Lesende fesselt, auch der äußerst sensible Umgang des Autors mit Sprache ist.
Diese Buchempfehlungen sind zuerst in der Dezember-Ausgabe von Forschung & Lehre erschienen.