Ein Knoten in einem Tau
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Psychologie
Was Paare in der Coronazeit zusammenhält

Liebe und Partnerschaft stehen in der Coronazeit unter großen Belastungen. Dr. Jan Kalbitzer erklärt, wie Paare mit der Situation umgehen können.

Von Friederike Invernizzi 24.10.2020

Forschung & Lehre: Herr Kalbitzer, einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey zufolge wird sich die Zahl der Scheidungen in Deutschland infolge der Corona-Einschränkungen voraussichtlich um ein Fünffaches erhöhen. Überrascht Sie diese Entwicklung?

Jan Kalbitzer: Das überrascht mich nicht. Allerdings erscheint mir der Blick auf solche Statistiken fragwürdig. Mit solchen Zahlen sollte vorsichtig umgegangen werden. Ich beobachte bei Paaren, dass sie schauen, was andere Paare machen und wofür sich diese entscheiden. Sie suchen Orientierung. Es ist aber ganz wichtig, dass man als Paar den Blick auf die eigenen Werte richtet. Den Abgleich mit dem Durchschnitt, in diesem Falle die Scheidungsstatistik, halte ich für keine gute Idee.

F&L: Die Zahlen könnten ein Hinweis dafür sein, dass Paare in Corona unter stärkeren Belastungen stehen als vorher….

Jan Kalbitzer: Das stimmt. Aber ich sehe durchaus auch Positives in der aktuellen Situation, die zur Folge hat, dass Paare mehr zusammen sind. Meist entsteht so ein intensives Zusammensein tatsächlich in Zeiten, in die man mit vielen falschen Erwartungen und Vorstellungen "hineinschlittert", wie dem Urlaub oder Feiertagen. Paare verbringen in solchen Situationen ziemlich viel Zeit miteinander und sind gezwungen, Werte und Wünsche miteinander abzugleichen. Sie müssen sich damit auseinanderzusetzen, wie sie damit umgehen können, auf engstem Raum zusammen zu sein. Das ist mitunter anstrengend und mit vielen Enttäuschungen verbunden. Häufig leiden Partnerinnen und Partner darunter, dass sich in einer Partnerschaft bestimmte Verhaltensmuster über Jahre eingeschlichen haben, die sich nicht mehr ändern lassen: ein unfreundlicher Ton, die eine oder andere Unaufmerksamkeit oder Respektlosigkeit, die man dann wieder vergisst, weil man mit anderen Dingen beschäftigt ist. Die Weihnachtszeit führt daher oft zu Paarkonflikten, trotzdem kehren die Leute danach wieder in ihren Alltag zurück und lenken sich mit Freizeitaktivitäten oder mit der Arbeit von den Frustrationen in der Beziehung ab.

Dr. Jan Kalbitzer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet die Stressmedizin der Oberberg Kliniken. Kürzlich ist das Buch "Krise als Neustart – Eine Anleitung" von ihm erschienen.

Ein Unterschied in der aktuellen Pandemie: Normalerweise kann man sich nach dem Jahreswechsel wieder mit dem Kollegen austauschen, nach dem Mittagessen geht man Kaffee trinken und kommt später mit weniger Anspannung nach Hause. Das fällt nun beispielsweise bei Paaren, die mehr zu Hause arbeiten müssen, weg. Genauso sind die Freizeitaktivitäten eingeschränkt. Das führt dazu, dass aktuell vieles in den Familien ausgehandelt werden muss. In dieser Hinsicht ist die Corona-Zeit ein bisschen wie sehr lange Weihnachtsferien. Wenn das dazu führt, dass bislang unterdrückte Konflikte ausgehandelt werden, ist das keine schlechte Sache. Schlimm ist es, wenn Paare wirtschaftlich stärker unter Druck stehen oder auch Betreuungsengpässe entstehen. Das führt bei den Betroffenen teils zu enormem psychischen Stress. Wenn dieser Stress, wenn das Gefühl permanenter Überlastung und existentiellen Bedrohung, nicht auch wieder nachlässt, kann es passieren, dass sogar eine an sich gesunde Beziehung kaputt geht, weil beide so unter den Belastungen leiden, dass es ihnen gar nicht mehr möglich ist, vernünftig miteinander umzugehen. Viel Arbeit, geringer Lohn, Kinder, um die man sich kümmern muss, beide Partner stehen unter Druck, das kann eine Beziehung zerstören, selbst wenn man sich aufrichtig liebt.

F&L: Der Paartherapeut Arnold Retzer vertritt die Auffassung, dass die Klärung von Problemen in Paarbeziehungen überschätzt wird. Für zufriedene Paare sei es nicht entscheidend, ob sie ihre Probleme lösten. Es komme nicht darauf an, sich zu „vertragen“, sondern sich zu „ertragen“….

Jan Kalbitzer: Das ist ein wichtiger Aspekt. Hier geht es um Durchhaltewillen und Disziplin. Ich habe in der Tat den Eindruck, dass einigen Paaren der lange Atem fehlt. Zunächst war es durch Corona eine akute Herausforderung, sich mit den Umständen zu arrangieren, aber nun, wenn es in die Herbstmonate geht und wieder neue Restriktionen da sind, entsteht eine andere Dynamik und negativer Stress.

F&L: Inwiefern müssen Paare ihr Konfliktverhalten ändern und überdenken, um eine Phase wie die Coronazeit gemeinsam zu überstehen?

Jan Kalbitzer: Ein Streit muss nicht alles klären, vielmehr ist wichtig, die Dinge überhaupt erstmal aussprechen zu können und das Gefühl zu haben, innerhalb der Beziehung als Person gesehen zu werden. Aber zu jedem Problem gehört auch ein Gefühl, das ein bisschen mehr Zeit braucht als das reine Aussprechen und Zuhören. Deshalb ist es wichtig, dass man sich bei einem Konflikt Zeit und Raum gibt, damit die Gefühle "nachhallen" können, und man nicht direkt nach der Lösung des Konflikts sucht. Man muss ohnehin nicht über alles sprechen und überall einen Konsens haben. Nicht jeder Teil des eigenen Lebens muss Teil der Beziehung sein. Es ist wichtig, dass jeder auch ein eigenes Leben mit eigenen Geheimnissen hat.

"Man sollte die größeren gemeinsamen Rituale als Paar gestalten und leben, wie zum Beispiel das gemeinsame Essen."

F&L: Der amerikanische Psychologe John Gottman entwickelte ein Modell, nach der in stabil-zufriedenen Beziehungen das Verhältnis von positivem zu negativem Verhalten mindestens 5: 1 betragen muss. Wie beurteilen Sie die Bedeutung dieser Konstante in Extremsituationen für Paare?

Jan Kalbitzer: Nach meinem Dafürhalten sind Zählregeln eher schwierig, weil sie auch wieder die Vergleiche fördern. Man sollte grundsätzlich auf positives Verhalten in der Partnerschaft achten. Dafür ist es hilfreich, Rituale zu haben: man sollte sich begrüßen, sich regelmäßig bedanken beim Partner, also auf bestimmte Höflichkeitsformeln im Alltag achten beziehungsweise diese wieder einführen. Ein Paar sollte außerdem die größeren gemeinsamen Rituale gemeinsam gestalten und leben, wie zum Beispiel das gemeinsame Essen – etwas, mit dem sich alle wohlfühlen. Man sollte sich nichts überstülpen, was nicht zu einem passt.

F&L: Gottman formulierte auch die sieben Geheimnisse der glücklichen Ehe. Ein zentraler Bestandteil ist dabei, den Partner ohne Wenn und Aber so zu akzeptieren wie er ist. Macht Corona deutlich, wie wichtig eigene Räume und Distanz dafür sind?

Jan Kalbitzer: Bewegung und Raum sind sehr wichtig in einer Beziehung. In Extremsituationen wie jetzt in der Corona-Krise sollte man daher – sofern möglich - regelmäßig rausgehen und andere Bezugspersonen treffen. Der Partner sollte nicht der einzige sein, mit dem man sich über Probleme austauschen kann. Wenn nicht genug Platz zuhause ist, räumlich Abstand voneinander zu nehmen, kann man den Abstand auch durch Zeit erreichen, durch zeitliche Trennung. Man kann zum Beispiel durch unterschiedliche Schlafrhythmen zu unterschiedlichen Zeiten wach sein. Das wäre ein Rezept, um bei räumlicher Enge auch Platz für sich zu haben: wenn der andere schläft.

F&L: Was hält Ihrer Beobachtung nach Paare in der Corona-Krise zusammen? Was wäre wichtig, zu beherzigen?

Jan Kalbitzer: Die Daumenregel für Paare in der Corona-Krise sollte meines Erachtens folgendermaßen lauten: Leben Sie Ihr gemeinsames Leben so, dass Sie eine Affäre haben könnten, ohne dass es Ihr Partner mitbekommt. Das soll keine Aufforderung sein, eine Affäre zu haben, aber es beschreibt ungefähr den Freiraum, den man braucht, um sich unabhängig genug zu fühlen. Außerdem kann man in der Corona-Zeit die Wohnung komplett umgestalten. Wer braucht zum Beispiel in dieser Zeit eine gästefreundliche Diele oder ein Gästezimmer, wenn sowieso wenig Menschen zu Besuch kommen? Besser hat jeder ein eigenes Zimmer beziehungsweise Arbeitszimmer. Man sollte also in der Häuslichkeit auch kreativ sein und bleiben. Meine letzte Empfehlung aus medizinischer Sicht: viel spazieren gehen, mindestens anderthalb Stunden am Tag bei Tageslicht. Dann können sich Gedanken und Gefühle synchronisieren, man kann nachspüren, was so ungeordnet im Kopf war und ist - und meistens ordnet sich überraschend viel beim Gehen, für das man beim Denken keine Lösung gefunden hat.